Gut sein ist gut

von Franz Schandl

Liebe, da hat Franz Schuh recht, beruht auf Gegenseitigkeit. Sie ist der feste Halt einer doppelten Fiktion. Die absolute Aufgehobenheit ist zwar nicht zu erreichen, aber Spuren davon, mal mehr mal weniger, die halten uns aufrecht. In ihrer Unmittelbarkeit gleicht die Liebe einer uneinnehmbaren Festung, in ihrer Mittelfristigkeit allerdings wird sie von der Haltlosigkeit bedroht. Liebe, die uns Sicherheit geben soll, kommt dann oft in dieser um. Indes, die Sicherheit schreiben wir deswegen so groß, weil Unsicherheit und Verunsicherung das bürgerliche Lebensprogramm sind.

Der Wunsch, die Liebe unter einen Glassturz zu stellen, ist daher so etwas von logisch wie erstickend. „Wie sollen zwei Menschen, die einander nicht verfehlen wollen, die Metamorphose der Leidenschaftsliebe schaffen, ohne in der dramatischen Trennung oder in der öden Routine zu landen?“ Besser und dichter kann man das nicht mehr ausdrücken als Franz Schuh das in seinem Aufsatz „’Die Zeit ist hin.‘ Notizen zum Liebesabschied“, dem Herzstück des Buches, gelungen ist.

„Die Liebe ist gewiss eine Erfindung“, schreibt Schuh. Ganz eng sieht der Autor sie an Macht und Leid gebunden. „Wer weniger liebt, hat Macht über den, der seiner Liebe ausgeliefert ist. Die Mächtigen in dieser Beziehung genießen eine Zeit lang ihre Macht; sie sind von der Erotik euphorisiert, können besser arbeiten, ja leben. Aber bald tritt ihnen das Leid, das sie verursachen, so nahe; es geht ihnen auf die Nerven, und weil sie in ihrer Souveränität selbst kein Leid empfinden, vergeht ihnen auch die Liebe.“ Schuh ist nicht nur skeptisch, er ist Skeptiker: „Nur das Leid stachelt auf, hält die Liebe auf Dauer. Aber wer hält das in the long run aus?“, seufzt er.

„Im großen Glück verliert die Leidenschaft ihre Macht (ihre Qualität), im bloßen Unglück wird sie unerträglich.“ Aber liegt die Qualität der Leidenschaft tatsächlich in der Macht? Und ist Macht denn wirklich nur als Verfügen und Fügen zu denken, als Überwältigung oder Unterdrückung zu lesen? Kann Macht nicht auch als Instandsetzung von Machen, also Inanspruchnahme einer Ermächtigung, einer Sich-Selbst-Setzung, auch einer gegenseitigen sich bewerkstelligen? Feiert die Liebe nicht gerade darin ihre Hochzeit? Gibt es nicht doch auch kennzeichnende Phasen, wo die Liebe so selbstverständlich und überzeugend auftritt, dass sie dezidiert die Negation jedes repressiven Verhältnisses ist, das „Oben“ und „Unten“ wahrlich spielerisch, ja verspielt daherkommt, ohne Abmachung, ohne Gleichberechtigung, ohne Geschlechterdemokratie. Wo Liebe also Handlung ist und nicht Handel. Ich habe Macht, weil der oder die andere mitmacht. Vice versa. Verfügen und Fügen gehen als Fügung auf.

Liebe und Leid mögen eng verkuppelt sein, aber zweifellos ist das eine auch ohne das andere zu haben. Da ist keine Kette, sondern lediglich eine Verkettung. Dieser Zusammenhang ist bloß parziell, nicht essenziell. Spüren und Spuren haben schon etwas miteinander, aber dezidiert ist dieses nicht jenes. Liebesverhältnisse haben keinen schicksalhaften Ablauf, auch wenn das manche Stereotype nahe legen.

Liebe geht im und auch als Tausch nicht auf, im Gegenteil: wirkmächtig und elementar erscheint sie nur dort, wo sie sich über diese Äquivalenz hinwegzusetzen vermag, ohne dass sie einen Liebenden schädigt. Hingabe nennt sich das. Liebe ist demnach auch Auslieferung an die Ohnmacht, eine Überlassung. Selbstverständlich verlieren sich viele Lieb(schaft)en (so sie sich nicht ganz verlieren), in mehr oder weniger gelingenden Partnerschaften. Dies wiederum wollte weder verleugnet noch gering geschätzt werden. Zu mehr haben wir es noch nicht gebracht, auch wenn mehr möglich sein sollte.

Neue Wege etwa beschritten Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Dass das Paar nun zum Vorbild taugt, ist aber eine seltsame Annahme. Warum muss es? Das riecht nach neuem Modell, wo es doch nicht nur gegen das herrschende, sondern gegen jedweden Typenzwang überhaupt gehen sollte. Sartre und Beauvoir, das war ein gewagtes und noch dazu halböffentliches Beziehungsexperiment und selbst wenn es gescheitert sein mag, war es ein Versuch sondergleichen. Daran ändern Gemeinheiten und Grobheiten, Lächerlichkeiten und Peinlichkeiten wenig. Das eigene Leben ergriffen, sich nicht einfach der Konvention überlassen zu haben, das hat doch was.

Die zentrale Frage bleibt nach wie vor: „Wie haben sie gelebt, welche Arten von Begehren haben sie für sich erfunden und wie haben sie die Erfüllung organisiert?“ Das Paar kommt, trotz der „erstaunlichen, peinlichen Härte gegen Dritte“ gut weg. Jede Beziehung gibt wohl ihre Abgründe preis, wenn intime Dokumente derselben, insbesondere Briefe und Tagebücher, publik werden. Es wäre vielmehr angemessen, sich in den Ungeheuerlichkeiten der anderen zu erkennen, anstatt sich bloß zu empören und abzugrenzen. Mehr Mitleid (auch Selbstmitleid!) statt Missgunst wäre angebracht. Die Hölle, das sind nicht nur die anderen. „Diese Leute, Beauvoir und Sartre, haben der Menschheit mehr gegeben, als der Einblick in ihre private Niedertracht dieser Menschheit jemals wieder nehmen könnte“, resümiert Schuh.

So ein „Krückenkaktus“ ist alles andere als systematisch angelegt. Gelegentlich verlaufen sich die Essays in Abwegen, die auf einmal aufhören und nicht immer weiß man, wozu man dem Essayisten bis hierher gefolgt ist. Im längsten Aufsatz, dem über Wolfgang Koeppen ist etwa die Einleitung breitest mit Lebenswichtigkeiten („Jeder ist per se ein Übergriff“) gepflastert, ohne dass man jedoch deren zwingende Notwendigkeit aus dem Beitrag selbst erklären könnte. Schuh scheint ein Problem zu haben. Er weiß, dass er vieles zu sagen hätte – und da hat er zweifelsfrei recht; er weiß aber nicht, wie und wann und wo er das alles, was er noch sagen will, niederschreiben könnte – und da hat er auch nicht unrecht. Das Bild, das sich aufdrängt, sind unaufgeräumte Schreibtische und Ablagen, auf denen einiges ungeordnet herumliegt, das ein über seine „Großbaustelle“ verzweifelnder Schriftsteller aber unbedingt publiziert sehen möchte, egal jetzt, ob die Gelegenheit die passende ist oder nicht. Sie hat zu passen. Irgendwie muss es raus und irgendwo muss es rein.

Schuh geht vieles an, aber nicht alles führt er durch, oft ist da kein Schluss, aber vielleicht sollte auch gar keiner sein, schließlich kann der Leser sich ja auch selbst ein Ende denken. Schuh ist mehr ein Meister der Sequenzen als der Konsequenzen. In aller Umsicht waltet die Vorsicht. Nachdem er hingeschaut hat, schaut er sich das Angeschaute noch einmal an. Und vor allem auch sich, den Beobachter. Er laviert, aber nicht weil ihn irgendein Opportunismus treibt, sondern weil ihm das Apodiktische nicht so selbstverständlich ist wie anderen Autoren. Die Analysen sind dann auch eher dosiert als scharf, mehr nuanciert als prononciert. Was der Spannung und dem Reiz aber keinen Abbruch tut. Vielmehr weisen sie den Essayisten als einen differenzierten und sensiblen Denker aus. Manches scheint hingeworfen, aber nichts erscheint leichtfertig.

In vielem ist Franz Schuh recht pessimistisch, ja illusionslos geworden. Kritik wird in die Schranken der Bescheidenheit verwiesen: „Der Kritik bleibt das kleine Glück, die Freiheit, nicht Sprachrohr der garantierten Erfolge zu sein.“ In manchen Passagen wirkt sie gar sistiert, etwa wenn er den Theorien von Norbert Bolz, z.B. dessen affirmativer Analogisierung von Kunst und Geschäft einiges abzugewinnen versteht. „Nichts kann die so verendete Kritische Theorie, ihr konformistischer Nonkonformismus, zum Verständnis der Welt mehr beitragen“, urteilt er kategorisch. Auf Habermas oder die antideutschen Sekten mag das schon zutreffen. Aber insgesamt? Ist der Impetus der Kritischen Theorie tatsächlich verbraucht? Darüber wäre gesondert zu diskutieren.

An einigen Stellen bleibt offen, ob er gerade referiert oder argumentiert. Möglicherweise ist das auch Absicht. Im „Krückenkaktus“ agiert ein Protagonist von Mehrdeutigkeiten. Der naheliegende Vorwurf: Nun sag doch endlich, was Sache ist, geht aber an der Sache vorbei. Schuh ist so auch nicht unbedingt ein aufdringlicher Charakter. Er nervt nicht. Nicht unerbittlich ist er, sondern erbittlich, nicht eloquent, aber herzlich und traurig und ab und zu auch ausgesprochen lustig, vor allem aber sympathisch. Kurzweilig sowieso. Derweil geht Schuh gerade das ab, was nicht immer ein Nachteil für einen Schriftsteller ist: das Vorschnelle und Zielgerichtete, das Raffinierte und Manierierte. Er trifft, aber er schlägt nicht zu. So gesehen haben seine Texte auch immer etwas Verhaltenes oder besser ausgedrückt etwas Verhältnismäßiges. Sie sind sirenenfrei und versuchen weitgehend ohne Polemik auszukommen. Die mag er nicht, wie er plausibel in seinen letzten Büchern erklärte.

Am allerstrengsten ist der Autor zu sich selbst: „Diese heillose Arroganz, ein Überlegenheitsgefühl, gegen das ich nicht ankam, und das mich auch nicht gestört hätte, wenn nicht fast ein jedes Mal was geschah, das meine Arroganz lächerlich machte.“ „Die Abstürze waren zahlreich“, schreibt er einen Absatz später. Man hat das Gefühl, da will einer nicht der Beste sein, sondern einfach ein Guter. Das ist auch besser so.

Franz Schuh ist aber entgegen eigenen Einschätzungen nicht ängstlich, sondern übermütig. Er geht aufs Ganze und setzt alles auf das Gute. „Die ärgste Sünde war, er war zu gut!“, heißt es in Shakespeares „Timon von Athen“. Nein, im Ernst, um was soll es denn sonst gehen im Leben? Gut sein ist gut. Lieb sein ist lieb. Liebe und Güte sind doch die emotionalen Errungenschaften, auf die wir, bei allen Tücken, nie verzichten sollten. Sie sind zu hegen und zu pflegen und vor allem zu mögen. „Den guten Ruf des Gütigen wollte ich geradezu festigen“, schreibt der Autor. Zu solch einem Vorhaben kann man nur gratulieren.

What’s good? Es mag nun zwar naheliegend sein, „gut“ als das zu definieren, was einem gut tut, aber ist dieser Verweis auf die sinnliche Gewissheit ausreichend? Könnte einem nicht auch gut tun, was gar nicht gut ist, vor allem für die anderen? Braucht das Gute nicht doch eine über das Individuum hinausgehende allgemeine Akzeptanz, ja Instanz, bevor wir es als solches bestimmen können. Indes, kann nicht insbesondere auch die Allgemeinheit irren? Ja schlimmer noch: tut sie das nicht andauernd? Es ist nicht ganz unschwierig. „Es ist ja nicht so, dass das Gewissen einem zuflüstert, was gut ist, und schon tut man es.“

Das Gegenteil ist der Fall: „Außergewöhnliche Personen sind selten, oder Gewissensentscheidungen sind die Ausnahme“, schreibt Franz Schuh. Wären sie nicht selten, wäre das Außergewöhnliche ja gewöhnlich. Nun drängt sich erst die relevante Frage auf, warum das Gewöhnliche so verdorben ist, dass es im Regelfall keine guten Entscheidungen zulässt. Dass des Öfteren die Meisten es sich gar nicht leisten können, was da in Güte von ihnen verlangt werden sollte, eben weil der Sachzwang sie so zugerichtet hat, dass sie zuletzt auch noch gut heißen, was schlecht, übel, böse ist.

Schuh verteidigt, was zu verteidigen ist: „Dass Gutsein als ein Vorwurf gebraucht wird, von Leuten, denen man ihre Schlechtigkeit sofort anhört oder ansieht, jedenfalls anmerkt, ist eine moralische Delikatesse.“. Das Problem des Guten ist nicht das Gute, sondern das Dumme. Als Gutgemeintes meint es, sich in Forderungen und Appellen erschöpfen zu dürfen, es ist also intellektuell oft so genügsam, dass einem das Erbarmen vergeht und das Grausen kommt. Dass die Guten in ihrer Redlichkeit meist geistig unter den Herrschaftszynikern rangieren, ist traurig, aber wahr. So findet man „eine Masse von Leuten, die nichts als das Gute im Sinn haben, aber überhaupt keinen Sinn dafür wie man nun etwas davon – unter gegebenen Bedingungen – ins Werk setzt.“

Schlüssig kommentiert der Autor die grassierende PC: „Die Political Correcteness ersetzt die Dynamik der Auseinandersetzung durch Vorschrift“. Aber ebenso schreibt er: „Der Hass auf die Political Correctness kommt nicht daher, dass diese den moralischen Diskurs bis zur Karikatur verzerrt. (…) Der Hass auf sie kommt daher, dass die Leute ihrerseits nicht diskriminiert werden wollen, wenn sie andere diskriminieren. Sie wollen in aller Ruhe hetzen.“ Schuh hat hier gesagt, was es zu sagen gilt. Richtig dechiffriert er auch den Brechtschen Satz, „Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral“ als deskriptive Aussage, die nie und nimmer als Norm zu verstehen ist. Vielmehr geht es darum, dass „das Primat des Fressens gar nicht sein sollte.“ Eine Fundgrube ist dieser Schuh allemal!

Was es in diesem Band (wie schon in „Schwere Vorwürfe, schmutzige Wäsche“, 2006) noch zu entdecken gilt, das ist der Lyriker Schuh. Je knapper, desto besser. Manchmal glückt in einigen Zeilen mehr als auf vielen Essay-Seiten möglich wäre. In „Liebe Grüße“ etwa, begegnen sich zwei Menschen ohne sich mehr zu treffen. Sie, die sich einst nah gewesen sind, finden nicht einmal mehr zum Gruß. In „Egoismus“ wird pro Strophe jeweils ein Wort weggenommen, bis bloß ein elendiglich verlassenes „Ich“ übrig bleibt. Eine Zeile weiter gelesen, wäre auch es verschwunden. Der Egoismus mündet in die Leere, seine Anmaßung versetzt sich selbst in Überflüssigkeit. Der Grundfehler allen Egoismus besteht darin, dass er zum Du, zum Wir und zum Ihr ein instrumentelles Verhältnis entwickelt, eben kein gütiges, sondern ein ungutes, berechnendes. Zum Glück gehören in aller Güte mindestens zwei, und wenn es noch mehr sind, die da mithelfen, kann es nur noch besser sein.

Abschließend sei noch der hervorragende Abgang, der sich „Tod auf Bestellung“ nennt, zitiert. Der fiktive Abtritt geht so:

Der Schuh Froanz
sitzt im Schweizerhaus
und trinkt sei Bier.
Vom Kriagl macht
er no an Schluck
und lahnt se zruck,
schaut eine no ins Glasl,
der Schaum verziagt se
ganz am Schluss,
schaut eine no ins Glasl,
wia a Spinnennetz
der Gerstlsaft am Glaslgrund,
der letzte Herzschlag
trifft in Froanz zur letztn Stund,
schaut eine no ins Rohr
und fallt dann um.

Von Froanz zu Froanz sei gesagt, dass dem Tod auf Zeit auch ein Schnippchen geschlagen werden kann. Der Schuh muss nur eins aufs andere Mal auf das letzte Bier verzichten und sich alle vorhergehenden umso besser schmecken lassen. Prost.

Franz Schuh
Der Krückenkaktus
Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod.
256 S., geb. € 20,50 (Paul Zsolnay Verlag, Wien)

Kurzfassung in: Die Presse, Spectrum vom 27. August 2011

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