Aus den Grenzgebieten

Fertig geworden: Es gibt mal wieder Streifzüge

Junge Welt 08.12.2008 / Feuilleton

von Alexander Reich

Das Weihnachtsfest wirft seine Schatten voraus. Die liebe Familie droht. Ich blättere fröstelnd in den neuen Streifzügen. »Wenn es keine Erfahrung mehr gäbe, daß wir nicht bloß sachlich rechnend oder ausgerastet, sondern auch uneigennützig, freundschaftlich und einfach zum schönen Selbstzweck miteinander umgehen können, gäbe es auch keine Hoffnung mehr, je die herrschenden Zwänge zu brechen. « In diesem Ton könnte man Konfirmanden kommen, denke ich noch, da entfaltet die Predigt schon eine herrliche Wirkung. Als hätte ich einen Glühwein geext.

Im übernächsten Satz geht es um die »Praxis der >Heilung< jener Gesamt- und indivuellen Störung der Menschen, die zugleich das Werk und die Grundlage der Herrschaft in den zwischenmenschlichen Beziehungen ist - und deren Gegenbild das >gute Leben< ist, das es sozusagen ex negativo zu entwickeln gilt. « Warum fixt mich das an? Wahrscheinlich, weil es intellektuell, aber trotzdem sehr schutzlos formuliert ist, offenherzig, beinahe peinlich. »Wir können auch anders ... « ist das Kapitel überschrieben. Die drei Punkte werden in der nächsten Zwischenüberschrift wieder aufgenommen: »... aber leicht tun wir uns nicht«. Auf der nächsten Seite des Hefts ist der Titel »Finanzmarktsozialismus«. Ernst Lohoff erklärt die wichtigste Aufgabe der Politik zur Zeit, den »unvermeidlichen Wertberichtigungsprozeß« nach Kräften zu kanalisieren und aufzuschieben. »Kein Zweifel: Der Kollaps der Finanzmärkte belastet heute die Realökonomie. Aber nicht in dem Sinn, wie ein mitgeschlepptes Klavier jeden Spaziergang zur Qual macht, sondern eher in der Weise, wie die Explosion von zwei, drei Triebwerken Flugzeugpassagiere belastet. « Zu viele Bilder? Überhaupt nicht. Weiter hinten im Heft moralisiert Birgit v. Criegern, die hin und wieder auch in diesem Feuilleton zugange ist, gegen Kalauer aus der Werbebranche. Sie zitiert abgeschmackte Slogans und einigermaßen lustige (»Die Grünen sind jetzt käuflich«, Lucky Strike). Daß die Sprache der Werbung keine »politischen Erörterungen« zuläßt, hätte ich ihr vorher sagen können. Und selbstverständlich macht Werbung dümmer als Karl Kraus (oder Walter Mehring über den Mond: »Der tausendfältige Kuppler ist / der Welt verdächtig als Trotzkist / Wenn Liebespärchen Radio hören, / um Linientreue sich zu schwören«). Endgültig bißchen komisch wird v. Criegern, als sie über ein ganzes Buch von Irmgard Keun urteilt: »Der Inhalt läßt es nicht bei Kalauern bewenden. « Das soll freundlich gemeint sein? Sei's drum. Man liest das für die Zitate. Eins von Wolfgang Hildesheimer fehlt leider: »Der Kalauer kommt ursprünglich nicht aus Calau, sondern aus Luckau. Ich muß es wissen. Ich bin im Grenzgebiet beider Kreise aufgewachsen. « Sehr seicht wird in diesen Streifzügen, Nr. 44, auch über Rauschzustände doziert, wobei an einer Stelle über die »Einführung der fremdbestimmten Freizeit« nicht diese Tocotronic-Lyrics zum Einsatz kommen, sondern andere, irgendwie unpassende - toller Effekt. Der Mitherausgeber einer »pädagogischen Taschenbuchreihe« namens »Schulheft« hinterfragt mit Aldous Huxley die gängige Verwendung des Begriffs Bildungsferne. Ein italienischer Literaturwissenschaftler macht historisierende »Bemerkungen gegen die >Moral<«. Franz Schandl untersucht »einige neue Gebetsbücher der Demokratie«. In der Kolumne »Immaterial World« wird mit Marx (»Zur Kritik der politischen Ökonomie«) erklärt, daß Open Office und Wikipedia über den Kapitalismus hinausweisen. Viel Wahrheit für sechs Euro, werte Wertkritiker! Und anders als bei der Prawda damals weiß man bei euch nie, wann die nächste Ausgabe kommt. Es gibt drei Streifzüge pro Jahr. Wenn sie halt fertig sind. Ich finde allein das schon hinreißend. Streifzüge, Nr. 44, 44 Seiten, 6 Euro, www.streifzuege.org

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