Was Hänschen nicht lernt… oder: Hans lernt nimmermehr

Gedanken über einen Fetisch der modernen Gesellschaft

Streifzüge 37/2006

von Ilse Bindseil

Natürlich ist die Speicherkapazität des Kindes enorm, und sicher gilt auch, dass man möglichst unbewusst lernen soll, womit man ein Leben lang umgehen will. Unbewusst, das heißt: abgetrennt von möglicher Verwendung, von unmittelbarer Verwertung. Ja, in Grenzen heißt es auch: ohne Verständnis, möglichst dicht dran am reinen Funktionieren. Wenn ich gehe, muss ich auch nicht wissen, wie Gehen geht.

Da mit zunehmendem Alter die Speicherfähigkeit abnimmt, wechselt das unbewusste Lernen seine Funktion. Es trennt sich von der Option auf die Zukunft; es bekommt einen Bezug auf die Gegenwart, ohne an Zweck zu gewinnen. Es dient nicht der Akkumulation, sondern der reinen Funktion; ist Prüfung, Kontrolle, beständige Inspektion. Es ist Vergewisserung und Betätigung in einem, nicht länger in einem Betätigung und Akkumulation. Es ist ein Lernen, dem die Zukunft und damit eine wichtige Bestimmung seines Begriffs abhanden gekommen ist, die Bestimmung. Für den, der keine Zukunft hat, bleibt also nur ein Lernen ohne Gelerntes, ein zugleich Prüfen und Betätigen, ein möglichst fleißiges Üben und zugleich möglichst wenig ängstliches Vergewissern. Ein solches Lernen hat ohne Zweifel etwas Trostloses; auch etwas Wehrloses; so als läge der Sinn bloß und könnte jederzeit herausoperiert werden.

Hänschen

Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmermehr: Die Drohung, die in dem Satz steckt, verschiebt sich mit dem Alter vom ersten auf den zweiten Teil; der erhobene Zeigefinger bleibt der gleiche, ob er nun dem Kind droht: „Was du jetzt nicht lernst…“ oder dem Alten: „Du lernst nicht mehr“. Die erste Version ist vertraut; niemand missversteht sie. Womit dem Alten gedroht wird, muss man sich klarmachen, sonst landet man bei der Lerntheorie und konstatiert ein Lerndefizit, so als würde einen das Schicksal des Lernens interessieren. „Wenn du jetzt nicht lernst…“ setzt das Kind in eine natürliche Übereinstimmung mit dem „Lernalter“; es befindet sich mitten darin. Kein Anlass, sich weiter Gedanken zu machen: Sie haben einander gefunden, das Lernen, das Kind und das Leben. Auch wenn „das Kind“ eine kulturgeschichtliche Errungenschaft ist und das Lernen daher der Begleiter einer alles andere als natürlichen Kindheit, wäre es doch schwierig, die eine Bestimmung von der andern zu trennen. Da das Kind wächst, liefert es durch seine bloße Existenzform ein Modell für Lernen: Es wird auch intellektuell wachsen. „Er nahm zu an Weisheit und Alter“, heißt es bei Lukas vom heranwachsenden Jesus. Ob es sich mehr um Initiation als um Lernen oder mehr um Üben, gar um blindes Nachmachen und endloses Wiederholen handelt, in dem Moment, wo nicht einer der genannten Begriffe, sondern Lernen der Grundbegriff für „Lernen“ ist, liefert die Zeit und die ihr korrelierte Biologie den Vergleichspunkt für die kulturelle Reifung. Lernen wird natürlich. Das Kind lernt; es ist eben ein Kind. Das heißt, eigentlich spielt das Kind ja – dies der nicht schielende Begriff des Lernens oder vom Kindsein. Wenn es spielt, ist es von jeder Anwendung so weit entfernt, dass es gute Chancen hat, als Ganzes, fast ohne Rest und Ränder, zum Kompetenzzentrum, zur Produktivkraft zu werden. Hat es eine Zukunft, wird es gelernt haben. Hat es keine, hat es gelebt.

Hans

„Du lernst nicht mehr“, konstatiert dagegen einen Mangel in der Übereinstimmung zwischen dem alt gewordenen Kind und dessen natürlichem Partner, dem Lernen. Lernt der ins Unrecht gesetzte Partner, um die Legitimitätslücke auszufüllen und reale Defizite auszugleichen, doppelt fleißig, so kommt der Ruhm nicht ihm und in ihm der Gattung Mensch, sondern er kommt allenfalls seinem Tun, der Gattung Lernen, zugute. Subjekt und Prädikat sind nicht mehr eins, so wie im heranwachsenden Kind es und sein Lernen eins sind. Ein neues Subjekt hat das alte abgelöst, eine neue Konstellation sich an die Stelle der alten Konstellation gesetzt: Nicht das Kind lernt, sondern der Alte huldigt dem Lernen. Dass dessen Tun insgeheim noch immer am Kind orientiert ist, ist ein Grund für Rührung, Trauer, fallen Heroismus und Armseligkeit doch unmittelbar zusammen.

Aber vielleicht ist das einzig Störende an dieser Beziehung ja, dass sie aufrechterhalten wird, wo doch das Kind längst keins mehr ist und ohne seine stützende, seine „naturalisierende“ Anwesenheit auch das Lernen seine vertrauten, harmlosen Konturen verlieren muss. Wer keine Lust hat, zum Attribut eines neuen Subjekts zu werden, zum Vertreter der Sparte „Lernen“ nach dem Motto „Das Leben ist ein … Lernen“, und sich entschließt, genau an dem Punkt mit dem Lernen aufzuhören, wo dieses gewissermaßen in die Ewigkeit eintritt und zur „leer laufenden Eirollbewegung“ wird, der geht natürlich ein erhebliches Risiko ein: Was ist, wenn die Gattung, nennen wir sie Leben oder Mensch, die er nicht wechseln will, sich immer schon auf der Seite des Lernens findet, sodass er sich außerhalb der Gattung stellt, wenn er mit dem Lebensmodell „Lernen“ bricht? Was ist, wenn der Verzicht auf das Lernen den vernünftigen Bezug auf das Leben kostet? Sollte man sich unter diesen Auspizien nicht damit begnügen, mehr schlecht als recht zu lernen (und zu leben) und so wenigstens eine prinzipielle Zugehörigkeit zu wahren, oder, geben wir es zu, eine symbolische? Und muss es nicht geradezu als ein Zeichen von Demenz – ein gesellschaftliches Zeichen oder Zeichen einer gesellschaftlichen Form von Demenz – gewertet werden, in dieser Lage, die Resignation erheischt und in der stützende, also symbolische, auf Andeutung und Stellvertretung setzende Systeme gefragt sind, klammheimlich etwa auf einen Paradigmenwechsel zu spekulieren; auf Deutsch gesagt: nur weil man sich nichts mehr merken kann, etwa auf das große Nichts? Zerstört eine solche Umwertung des Verlusts in einen neuen, wesentlicheren Reichtum – statt eines wie immer kindisch-vergänglichen Lernens nämlich ein unvergängliches, geradezu gegenständliches Haben – nicht den letzten Rest von Heroismus, verkehrt Armseligkeit zur Lächerlichkeit? Peinlich berührt von der Missproportion zwischen Kraft und Vermögen wendet man sich ab und vermisst vor allem eins: die Würde des Alters.

Wohl oder Wehe, nicht Sein oder Nichtsein

Es steckt also viel Risiko in dem Versuch, mit dem Lernen aufzuhören; aufzuhören mit dem Hänschen-Dasein und ein Hans zu werden! Kann man sich einen durch keinen Lernelan und Zukunftsoptimismus verstellten Blick auf das Leben erhoffen? Oder entpuppt der sich als ein nun wieder allzu leicht entstellter, zum neuerlichen Lernprogramm nämlich mutierter Blick auf den Tod? Die Versuchung ist jedenfalls groß, auch aus dem Bruch mit dem Lernen noch ein Lernprogramm zu machen, oder die Chance gering, genau das zu vermeiden. Da das Lernen mit dem modernen Leben so verbacken ist, dass es gleichsam aus jeder Lebensäußerung, jeder Betätigung herausgeschält, im Detail entfernt werden muss, scheint ein gehobenes Lernen unabdingbar, das etwa nach dem Freudschen Prinzip „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ verfährt. Zumal, wenn der Tod als Lerngegenstand sich substituiert, ist es ein durch und durch stoisches und damit doch wieder das alte Programm. Nur der Tod ist neu; er will gelernt werden. Ein im vollen Umfang auf das halluzinative Unwesen der Theorie zielender Verzicht wäre nötig, um zu begreifen, dass er nicht gelernt zu werden braucht; er geschieht. Wie alles, was man nicht lernen muss, kann man ihn auch nicht lernen; was er an Wesentlichem enthält, nämlich seine Tatsache, steht nicht nur außerhalb jeglichen Lernprogramms, sondern negiert es. Anders gesagt: man kann ihn nicht nicht lernen! Da an ihm außer seiner Tatsache nichts wesentlich ist, kann man ihn nicht nicht oder an ihm nichts lernen. Diesen Sachverhalt nicht nur abstrakt, sondern auch konkret anzuerkennen, ihn durch eine systematische Ablösung des Lebens vom Lernen allererst herzustellen kann mit einem gewissen Recht wiederum als ein Lernprogramm bezeichnet werden, wird doch eine Arbeit benannt; eine Aufgabe, wie man unschwer erkennt, ein Imperativ formuliert. Es offenbart sich eine neue Seite des Lernens. Womöglich hat es mit der Zukunft gar nichts zu tun; mit ihr noch nie – nur in der irrtümlichen Vorstellung – etwas zu tun gehabt. Tatsächlich gewinnt der Begriff des Lernens an Kohärenz, wenn man mit ihm nicht Sein und Nichtsein, die Objektivität also, sondern lediglich Wohl und Wehe des Subjekts verknüpft. Für das Subjekt, den Einzelnen, stellt die Objektivität die Zukunft dar; es muss sich ranhalten, will es ihr gegenüber nicht aus einer bloß strukturellen, als Aufschwung und Elan interpretierbaren Vergangenheit in eine qualitative geraten. So wie insgesamt die Zeitvorstellung, die das Subjekt mit der Objektivität verknüpft, bloß eine Hilfsvorstellung ist, so ist auch die an sie geknüpfte Hoffnung oder Angst bloß ein – im Freudschen Begriff – begleitender Affekt. Ob es gelingt, ihn zurückzunehmen oder umzuwandeln, hat mit Sein und Nichtsein nichts, wohl aber mit Wohl und Wehe des Subjekts zu tun. Letzteres wiederum hat ausschließlich damit zu tun, wieviel das Subjekt mitbekommt, was es realisiert, nicht damit, wie es sich fühlt; und insofern steckt im Bruch mit dem Lernen tatsächlich eine Aufgabe, etwas, was gelernt werden will. An der Art, wie die Objektivität zum hektischen Lernprogramm gemacht wird, spürt man freilich noch etwas von der alten Angst, sie würde, wenn nicht gelernt, womöglich nicht passieren.

In die Sinnlosigkeit gebannt

Nicht nur in der Altersgestaltung spielt übrigens das Lernen eine zweifelhafte Rolle, insofern Zukunft, Unendlichkeit, ja auch Unsterblichkeit von ihm geborgt, aus ihm förmlich abgeleitet werden, sondern auch in der Arbeitslosengestaltung. Der Arbeitslose soll, bloß weil er keinen steuerpflichtigen Lohn verdient, durchaus nicht untätig sein. Freilich soll er nicht für einen unversteuerten Lohn arbeiten, obwohl das ja nahe läge, dass er sich in seiner prekären Lage auf die essentials besinnt. Stattdessen soll er lernen; ein Hänschen soll er werden! Das verspricht eine geisterhafte Existenz, die die gesellschaftliche karikiert, ohne die Symbiose von Ökonomie und Staat zu kritisieren. Der Arbeitslose, im reinen, unverdrossenen Bezug – und schon weiß man nicht mehr recht anzugeben, wozu -, recht eigentlich in stand-by-Haltung, einem Modus eigener Art, einem Zustand eher als einem Übergang, einer eigenen Existenz, lernt. Sagen wir präziser, er hält sich fit. Zumindest kann man das von ihm verlangen, dass er sich fit hält. Eigentlich ein Monopolist jener kostbarsten aller Ressourcen, genannt „Zeit zum Lernen“, recht eigentlich ein Stipendiat, liefert er der Gesellschaft, die ihn auszeichnet, freilich nicht mehr als ein Bild von ihr und dann auch noch in seiner eigenen Person. Zum konkreten Beitrag, den er von sich ablösen und abliefern könnte, bringt er es nicht und sie, die von ihm alles, bloß nichts Bestimmtes verlangt, ihm gegenüber auch nicht. Er repräsentiert in der trostlosen Weise, dass er es nicht mit seiner Arbeit, sondern mit seiner Existenz tut. Was und ob er konkret lernt, das zählt unter diesen Auspizien wenig; im Gegenteil, der Lernerfolg destabilisiert die Gesellschaft, die ihn lernen lässt und für die er lernt; das pure Lernen stabilisiert sie. Nicht anders als das Lernen der Alten spielt auch das Lernen der Arbeitslosen sich in einem Metabereich ab. Es ist nicht mehr dasselbe; aber, ungleich wichtiger, es liefert auch nichts Neues. Objektiv sinnlos, muss es in diese Sinnlosigkeit doch gebannt werden. Scheinbar von jeder Arbeit befreit, ja ein byword für Arbeitslosigkeit, ist diese Sinnlosigkeit selbst ein Ergebnis von Anstrengung. Von allein stellt sie sich nicht ein.

Abschied von der Perspektive

Wer ein Hans werden will, muss sich von der Lernperspektive verabschieden. Er braucht nicht aufzuhören zu lernen, er muss sich nur von der Perspektive verabschieden. In einer Gesellschaft, die vom Lernen lebt, wird er das nicht mehr, so wie früher, mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter tun, dann, wenn „der Ernst des Lebens“ beginnt. Er wird es vor allem mit dem Austritt aus dem Erwachsenenalter tun müssen, wenn das ernste Leben beginnt, eben das ohne geborgte Perspektive, ohne Wechsel auf die Zukunft. So viele aber, wie an der „Schwelle zum Erwachsenenleben“ für sich beschließen, ein Kind zu bleiben und auf das große Ereignis, das nie eintreten wird, hinzulernen, so viele werden an der „Pensionsschwelle“ beschließen, ein Kind zu werden, die versäumte Vorlesung zu hören, die versäumte Sprache zu lernen, den souveränen Umgang mit den elektronischen Medien jetzt, wo niemand es mehr von ihnen verlangt, zu üben. In den seltensten Fällen haben die einen mit den andern etwas zu tun; schon gar nicht sind es dieselben. Aber gleichermaßen ist es ihnen um die Leugnung eines Bruchs zu tun – die Jüngeren des Bruchs, den sie machen, die Älteren jenes, den sie zur Kenntnis nehmen sollten – und sind auf ihre Weise ein Musterbeispiel an Kontinuität.

Aber wie soll man ein Hans werden? Unsere Vorfahren hatten vergleichbaren Ärger mit der Arbeit. Wie sollten sie ohne Arbeit leben, nachdem diese über Jahrzehnte ihre Lebens- und Legitimationsgrundlage gewesen war? Wie sollten sie sich beschäftigen und wie sollten sie sich respektieren? Wie sollten sie Muße nicht mit Tod gleichsetzen? Und wie sollen wir, nachdem wir Jahrzehnte von einem Lernen in Ruhe geträumt haben, uns jetzt von der Perspektive des Lernens verabschieden und uns der Perspektive eines Lebens zuwenden, die wir ja doch nur für eine Finte des Todes halten, haben wir doch nie auf das Heute, immer zugleich auf das Morgen gesetzt. Wie sollen wir uns zum Beispiel mit der Vorstellung befreunden, dass das Leben sans phrase nicht die Belohnung für fleißiges Lernen, der Sprung nach der stattgehabten Akkumulation, sondern im genauen Gegenteil ein „Leben ohne Phrase“ ist, kein eigentliches, wesentliches, vor allem kein ewiges Leben, nur eins, das nicht interpretiert und gewertet wird? (Und das wiederum ist in Anbetracht der allgemein anerkannten Wert- und Bedeutungslosigkeit des Alters nicht eben viel. )

Eine vergleichsweise freundliche Vorstellung bezieht sich auf die prästabilierte Harmonie von Wollen und Können. Dem, der nicht mehr greifen, halten und zusammenhalten kann, bleibt der Rückzug auf die Betrachtung, die Freude an Anblick, Duft und Ton, oder was beim Nachlassen der Sinne davon übrigbleibt. Wer nichts anderes kann, kann beschaulich in der Sonne sitzen. Umgekehrt, wenn die Sinne nichts mehr taugen, kann er die Hände regen. Wenn er das Werkstück oder den Gedanken nicht mehr festhalten kann, kann er sinnieren. Die Verarmung des Lebens wird er, wenn er nach heutiger Auffassung Glück hat, nicht merken; nach einer traditionelleren Auffassung ist es keine Verarmung, da für diese ja das Wollen oder Können fehlt. Aber auch von ihr – die sich mit der üblichen Bitterkeit ebenso wenig in einen Topf werfen lassen muss wie mit der trüben Umwertung der Verarmung in Verwesentlichung, die unsere Altersprosa ziert – ist es immer noch ein Schritt zu einem Bruch mit der Interpretation, mit den vorwegnehmenden ebenso gut wie den nachhinkenden Vorstellungen, an deren Stelle eine begleitende Vorstellung sich installiert, die das carpe diem nicht in der Weise stört, dass der Tag zur Beute dessen wird, der ihn pflückt oder umgekehrt, letzterer zur Beute des Tages.

Es geht um die Vorstellung. Der Rest braucht kein Lernen; er passiert. Vielleicht sollte man die flüchtige Kraft und den flüchtigen Tag in eine Beziehung nicht zum unmittelbaren Leben setzen, das entflieht, sondern zum „Leben“ der Vorstellungen, zum „Leben“ der Bestimmungen. Hier tut „prästabilierte“ Harmonie sich auf, ohne dass ein falscher Zungenschlag dabei wäre. Denn falsch auf der Ebene der Bestimmung ist immer, was ein Zuviel beinhaltet; ein Weniger auf der Ebene der Bestimmung immer ein Schritt in die richtige Richtung. Flüchtigkeit auf der Ebene der Bestimmung ist ein Schritt in Richtung einer haltbaren Wahrheit. Es ist ein richtiger Schritt. Auf der Ebene der Bestimmung ist es von Vorteil, keine Kraft zu haben. Schwach zu sein, seine Begriffe in keinem überschäumenden Kraftakt applizieren zu können ist ein Vorzug. Nur so wird aus dem Fangen ein Pflücken und der Tag kann Tag bleiben. Ebenso ist es von Vorteil, wenn die Vorstellung „Tag“ keine Kraft hat, kein heroischer Tag ist, der seinen „Zoll“ fordert, und kein Repräsentant eines verdächtig ewigen Lebens. So kann, der ihn pflücken soll, eines natürlichen Todes sterben. Allerdings ist dies wahrhaftig die Perspektive einer intelligiblen Sphäre; da kann ich mich, wenn ich mich um meine Kraft sorge, gleichzeitig für den Tag freuen und während ich den Augenblick anbete, gleichzeitig mich um mein Leben kümmern. Auf der Ebene der Tatsachen, das heißt der gesellschaftlichen Bestimmungen, denen man unmittelbar ausgesetzt ist, sieht die Sache anders aus. Da kann ich von Glück sagen, wenn mir die Kraft fehlt; wäre ich imstande, ich würde sie mir schleunigst besorgen, und das – schlechte – Leben dazu.

Mit dem Lernen ist es wie mit einer fixen Idee; die hat nicht nur, sie ist auch ein Inhalt. Auch das Lernen ist zugleich die Form eines Tuns und sein Inhalt. Fixe Ideen hindern uns, die den Gedanken innewohnende Negation ihrer selbst wahrzunehmen; das liegt an der in ihnen vollzogenen wechselseitigen Verdoppelung von Form und Inhalt, die nichts Unzusammenhängendes, Bewegliches mehr zu erkennen erlaubt. Da alle gesellschaftlichen Verhältnisse wesentlich gedankliche Verhältnisse sind, erstreckt die destruktive Wirkung der fixen Ideen sich besonders auf deren Erkennbarkeit. Oder umgekehrt könnte man sagen, dass in der Gesellschaft der Gedanke es erfolgreich zu einer fixen Idee gebracht hat; sonst hielte er – und hielte umgekehrt die Gesellschaft – nicht einen einzigen Tag. Mehr als manche andere hindert uns heute die fixe Idee des Lernens zu realisieren, dass das Leben nicht zugleich sein Inhalt und seine Form, sagen wir: sein Sein und sein unabhängig davon einzufordernder Sinn ist; immer ist es nur das jeweils eine (und der Tod dann das jeweils andere). Mal ist, wie wir es gewohnt sind, der Tod die existentielle Begrenzung des Lebens, dessen Sinn, mal, wie in Totenkulturen, das Leben die Form des Todes: Mit allen Dienern wird der König bestattet. Vermutlich sind Leben und Tod an sich schon eine höchst fragwürdige Zerlegung, so wie Lernen und Leben eine höchst fragwürdige Zerlegung sind. Am Schema von Leben und Tod orientiert, scheinen Lernen und Leben nicht wesentlich räumlich, vielmehr zeitlich zerlegt; dabei kreisen sie bloß umeinander und halten sich, einer im andern, für ewig. Es ist wie im Märchen vom Fundevogel: Verlässt du mich nicht, sagt das Lernen zum Leben, dann verlass ich dich auch nicht. Nun und nimmermehr, sagt das Leben. Oder umgekehrt. Sagt das Lernen.

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