Vom Wunderkind zum Genie

Wolfgang Amadé Mozart zum 250. Geburtstag. Grundzüge seiner musikalischen Begabung

Georg Knepler


Mozart (1756 – 1791) am Klavier. Unvollendetes Ölgemälde von Joseph Lange (1789)
Foto: SWR/Internationale Stiftung Mozarteum

* Aus Anlaß des 250. Geburtstags des Komponisten veröffentlichen wir das zweite Kapitel der 1991 erstmals erschienenen vielbeachteten Studie „Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen“ des marxistischen Musikwissenschaftlers und Historikers Georg Knepler (1906-2003). Das Buch ist unlängst in einer zweiten Auflage erschienen; wir danken dem Henschel Verlag (Berlin) für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Mozarts Musikalität als Kind war offensichtlich singulär. Schon daß der Dreijährige am Klavier Terzen zusammensuchte und sich an deren Wohlklang erfreute, dürfte den Rahmen des Normalen überschritten haben, erst recht, daß der Vierjährige, als Vater Leopold ihm Unterricht gab, im Laufe eines Jahres etwa zwölf kleine Klavierstücke vorzutragen lernte. Er war noch nicht fünf Jahre alt, als er zwei längere Stücke in jeweils einer halben Stunde erlernte. Im Alter von fünf Jahren komponierte er seine ersten Stücke – und das heißt in diesem Fall, er erfand sie auf dem Klavier; niederschreiben konnte er sie noch nicht, das besorgte der Vater. Nicht viel später spielte Wolfgang auf einer kleinen Geige, ohne Unterricht genommen zu haben, die zweite Stimme eines Trios, und er war siebeneinhalb Jahre alt, als sich herausstellte, daß er auch, wieder ohne vorherigen Unterricht, die Orgel mitsamt Pedal spielen konnte. Im siebten Lebensjahr erlernte er auch, seine Kompositionen niederzuschreiben – erste Versuche dazu soll er schon mit fünf Jahren gemacht haben -, und er war acht, als er ein eigenes Notenbuch erhielt, das er im Laufe eines Jahres mit erstaunlich verschiedenartigen, phantasievollen, zum Teil ausgedehnten Stücken füllte. Daß in dem Knaben Außerordentliches vor sich ging, war offenbar.

Unbändige Phantasie

Genauer betrachtet, setzten sich diese Fähigkeiten aus verschiedenen Komponenten zusammen. Mozart hatte ein erstaunlich gutes Ohr; er konnte (heißt es) noch Tonhöhenunterschiede von Achteltönen ausmachen. Sein musikalisches Gedächtnis war phänomenal; er muß Tausende von Musikstücken vollständig im Kopf gehabt haben. Noch erstaunlicher die Fähigkeit des Improvisierens. Schon als Knabe konnte er ihm vorgegebene musikalische Themen ohne Vorbereitung auf dem Klavier zu Fugen ausarbeiten. Die technischen Fähigkeiten, mit denen er Klavier, Orgel, Geige spielte, schienen keine Grenzen zu haben. Nun lassen sich diese Komponenten der Begabung zur Not quantisieren. Man kann sie mit größerem oder geringerem Erfolg messen und mit den Leistungen anderer vergleichen. Das ist in der umfangreichen Literatur zur Musikpsychologie auch geschehen. (Man findet einen Überblick zur Frage der Begabung bei Helga de la Motte-Haber 1) Aber allzu viel läßt sich daraus nicht erfahren. Zum einen deshalb, weil nur manche Komponenten musikalischer Begabung meßbar sind: Kaum ließe sich beispielsweise eine Meßlatte an die Phantasie legen, mit der der achtjährige Mozart seine Einfälle niederschrieb. Zum anderen deshalb, weil auch die seltenste musikalische Anlage, wenn sie nicht Hand in Hand mit anderen Anlagen geht und wenn sie nicht auf günstige Bedingungen stößt – und das sind zwei verschiedene Arten von Bedingungen -, zu nichts Fruchtbarem führt und sicher nicht automatisch den Talentierten zum Genie macht. Es ist sogar zu beobachten, daß hie und da Menschen mit geistigen Krankheiten hohe Grade mancher musikalischer Fähigkeiten aufweisen. (Über einen Fall berichtet de la Motte-Haber. 2)

Man muß sich also vor der stillschweigenden Annahme hüten, Mozarts Weg zum Genie sei von Kindheit an vorgezeichnet gewesen; Genie sei sozusagen gleichzusetzen mit einer besonders hohen Gabe musikalischer Fähigkeiten. Physiologen sagen, daß, was Menschen von Natur mitbekommen, Dispositionen sind; ob und wie sich diese entwickeln, hängt von den Umständen ab. Die Praxis bestätigt diese Einsicht. Es ist zu beobachten, daß keineswegs alle Wunderkinder mit erstaunlichen Anlagen zu bedeutenden Komponisten heranwuchsen, und die gleichsam komplementäre Tatsache, daß nicht alle bedeutenden Komponisten ihre Laufbahn als stupende Wunderkinder begannen. Eher schon werden musikalische Wunderkinder, wenn sie älter werden, anerkannte Instrumentalvirtuosen. Ferner muß bedacht werden, daß Wunderkinder auch auf anderen Gebieten – Mathematik, Schachspiel, in neuerer Zeit Kybernetik – Ungewöhnliches leisten, ohne daß ihre späteren Laufbahnen notwendigerweise außerordentlich wären. Sie haben eins gemeinsam: Ihre Hirne sind so organisiert, daß in einem (beim jetzigen Stand unseres Wissens) kaum durchschaubaren Wechselspiel von Beobachtungsgabe, Einfallsreichtum, Kombinationsfähigkeit und Gedächtnisleistung auf einem umschriebenen Spezialgebiet Außerordentliches zustande kommt. Es ist eine Frage von schaffenspsychologisch größtem Interesse – die aber, soweit ich irgend weiß, bisher nicht untersucht wurde -, ob und, wenn ja, wie Erfahrungen von der Welt außerhalb des Spezialgebiets in die kindlichen Hirne eindrangen – eine Fragestellung, die für das Schachspiel wohl unerheblich, für künstlerische Leistungen ausschlaggebend ist.

Was Mozart angeht, haben wir glücklicherweise reiches Beobachtungsmaterial zur Verfügung. So gibt es einen Bericht über seine frühe Kindheit, klug und eindrucksvoll von der Schwester, die ihren kleinen großen Bruder schon als Kind liebevoll und anscheinend neidlos beobachtete, nach Mozarts Tod formuliert: „Mozarts überreiche Phantasie war schon in den Kinderjahren, wo sie in gemeinen Menschen noch schlummert, so wach, so lebhaft, vollendete das, was sie einmal ergriffen hatte, schon so, daß man sich nichts Sonderbareres, und in gewissem Betracht, Rührenderes denken kann, als die schwärmerischen Schöpfungen derselben, welche, da der kleine Mensch noch so gar wenig von der wirklichen Welt wußte, himmelweit von dieser entfernt waren. Um nur Eins anzuführen: Da die Reisen, welche wir (er und ich, seine Schwester) machten, ihn in unterschiedene Länder führten [die Reisezeit der Kinder begann, als Mozart sechs Jahre alt war], so sann er sich, während, daß wir von einem Orte in den andern fuhren, für sich selbst ein Königreich aus, welches er das Königreich Rücken nannte – warum gerade so, weiß ich nicht mehr. Dieses Reich und dessen Einwohner wurden nun mit alle dem begabt, was sie zu guten und fröhlichen Kindern machen konnte. Er war der König von diesem Reiche; und diese Idee haftete so in ihm, wurde von ihm so weit verfolgt, daß unser Bedienter, der ein wenig zeichnen konnte, eine Charte davon machen mußte, wozu er ihm die Namen der Städte, Märkte und Dörfer diktirte.“

Vergleichbare Jugendphantasien der englischen Dichterinnen Charlotte und Emily Brontë (1816-1855 und 1818-1848) sind in unserem Zusammenhang deshalb von Interesse, weil Berichte ihres Vaters zu verstehen helfen, wie allmählich kindliche Phantasien und Eindrücke der wirklichen Welt miteinander eine Verbindung eingehen. Als die beiden sieben respektive neun Jahre alt waren, begannen sie mit ihrem achtjährigen Bruder Branwell später auch mit der jüngsten Schwester Anne Geschichten zu verfassen. Zwölf Zinnsoldaten, die die Kinder erhielten und mit Namen bedachten, ließen sie phantastische Schicksale erleben, in die sich dann allmählich Berichte und Begebenheiten einlagerten, die ihnen der Vater vermittelte, indem er ihnen aus Zeitschriften und Büchern vorlas. Dadurch wurden sie selbst zu eifrigen Lesern, so daß schließlich auf Tausenden von Seiten Serien von ineinandergreifenden Romanen entstanden, eine Art von Vorarbeit für die genialen Werke, die Charlotte und Emily Brontë in reifen Jahren schrieben.

Hang zur Universalität

Nun wurde Mozart kein Romanautor, und der Unterschied ist deshalb von Belang, weil die Beziehung der Musik zur Realität natürlich von anderer Art ist als die der Epik. Da wir es hier mit einem kaum erschlossenen, aber um so heftiger umstrittenen Gebiet zu tun haben, werden wir gut daran tun, aufmerksam zu beobachten, nicht bloß, wie Erlebnisse und Eindrücke beschaffen waren, unter denen Mozarts Musikalität sich entfaltete, sondern auch, welche zusätzlichen Dispositionen sich ihr gesellten. Hang zur Universalität ist oft eines der Kennzeichen des Genies – man denke an Michelangelo, an da Vinci oder an Goethe.

Der zitierte Bericht über das Königreich Rücken besagt ausdrücklich, er solle bloß als ein Beweisstück für die überreiche Phantasie des Knaben stehen. Im selben Bericht wird mitgeteilt, daß der noch nicht Zwölfjährige das Fechten erlernt habe, daß er, als man ihm Kartenkunststücke vormachte, sie geschickt nachzuahmen verstand und daß ihn die Arbeiten von Kompositeuren, Malern und Kupferstechern so interessierten, daß er sich Proben von deren Arbeiten erbat und sorgfältig aufbewahrte. Die Vielseitigkeit des Talents und die Offenheit nach allen Seiten hin bestätigt auch der Bericht eines guten Freundes der Familie Mozart, des Autors und Musikers Schachtner: „Er [Mozart in seiner Kindheit] war voll Feuer, seine Neigung hing jedem Gegenstand sehr leicht an … es war ihm fast Einerlei, was man ihm zu lernen gab, er wollte nur lernen … , zum Beispiel als er Rechnen lernte, war Tisch, Sessel, Wände, ja sogar der Fußboden voll Ziffern mit Kreide überschrieben.“ Das Interesse an Zahlen ist Mozart geblieben. Es gibt ein „Noten-Skizzenblatt von ihm, auf dem er begonnen hat, die Summe der anekdotischen Belohnung des persischen Schachspiel-Erfinders auszurechnen“. 3 [Dieser soll ein Getreidekorn auf dem ersten und dann die jeweils doppelte Menge auf jedem weiteren Feld des Schachbretts gefordert haben. ] Auch die Schwester schreibt (April 1792), daß ihr Bruder schon als Kind „Begierde [hatte], alles zu erlernen, was er nur sah, im Zeichnen, Rechnen zeigte er viel Geschicklichkeit“. Auch im späteren Leben, so berichtet die Schwester (ebenda), war „sein Kopf immer mit der Musik und außer dieser mit anderen Wissenschaften [von mir hervorgehoben, G. K. ] beschäftigt“. „Du begreifst auch alles mit der größten Leichtigkeit in den Wissenschaften“, bestätigt ihm auch der Vater (23. Februar 1778). Ein spätes Zeugnis, das der allgemein üblichen Abwertung Konstanze Mozarts zum Opfer gefallen ist, soll nicht unerwähnt bleiben. Im Zusammenhang mit einer geplanten Biographie Mozarts schickte Konstanze am 28. August 1799 „Briefschaften“ an Breitkopf & Härtel nach Leipzig und kommentierte sie mit den bemerkenswerten Worten, es sei aus ihnen allerhand zu lernen „für seine Charakteristik. Sein Maß an Bildung, seine übergroße Zärtlichkeit für mich, seine Gutmütigkeit, seine Erholungen, seine Liebe zur Rechenkunst und zur Algebra (wovon mehrere Bücher zeigen [! ]), seine Laune, die bisweilen wahrhaft shakespearsch war, wie Herr Rochlitz einmal von seiner musikalischen Laune gesagt hat und wovon ich Ihnen Proben senden werde … „.

Theaterbesessenheit


Wien 1781 (zeitgenössischer Stich von Carl Schütz) mit zweitweiligen Mozart-Domizilen

Erst recht belegt ist Mozarts Begabung und Neigung für das Theaterspiel. Daß er mit fünf Jahren in einer Studentenaufführung der Salzburger Universität, einer Komödie mit Musik, als einer der „Salii“ [der „Springer“, also wohl: Tänzer] auftrat, braucht nicht viel zu bedeuten. Eher schon, daß er in der Wiener Zeit (fragmentarische) Entwürfe verfaßt hat, einen zu einer Posse, einen zu einer Komödie im Stil des Wiener Hans-Wurst-Theaters, beide keineswegs uninteressant und der zweite sehr theaterwirksam. Sehr theaterwirksam – und das in einem Sinn, den man mit Mozart nicht unbedingt assoziiert – muß auch sein Auftreten als Harlekin gewesen sein. Im Fasching 1783, Mozart war siebenundzwanzig Jahre alt, führte er in der Pause eines Balles eine selbsterfundene und komponierte Pantomime von halbstündiger Dauer auf. Fünf Personen verkörperten traditionelle Figuren der Commedia dell’arte. Aloysia Weber, Mozarts Liebe und nunmehr seine Schwägerin, spielte die Colombine, ihr Mann, der Schauspieler und Maler Joseph Lange, den Pierrot, zwei weitere Personen Pantalon und den Doktor. Die Rolle des Harlekin hatte Mozart sich selbst vorbehalten. Bei seinem ersten Auftritt, der raffiniert bis zum Musikstück Nr. 7 (von insgesamt schätzungsweise zwei Dutzend) verzögert ist, guckt er „aus dem Kasten“, hat später, als Türke verkleidet, einen Kampf mit Schwager Pierrot um Colombine Aloysia zu bestehen, bei dem er unterliegt und stirbt, um später wieder aufzuerstehen. Die erste Hälfte vom Musikstück Nr. 14 ist sicher als parodierter Trauermarsch für Harlekins Tod zu verstehen, die zweite Hälfte des Stückes, in der die Dur-Variante seiner Auftrittsmusik eine Rolle spielt, als Auferstehung von Harlekin Mozart. Insgesamt ein Stück Theater, in dem es, wie man sieht, an Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung nicht mangelte. Das gilt auch für Mozarts Auftreten auf einem Maskenball als indischer Philosoph – man beachte, daß „Philosoph“ im 18. Jahrhundert einen besonderen, durch die Aufklärung mitbestimmten Sinn hatte -, als der er Zettel verteilte, auf denen scharfe kritische Kommentare über Aristokraten zu lesen waren.

Man tut gut daran, auch die Theaterbegabung Mozarts sowohl in ihren verschiedenen Komponenten als auch in ihrer Entwicklung zu sehen. Wahrscheinlich ist die elementarste Komponente in Mozarts agil-motorischer Anlage zu suchen, in seiner Neigung zu körperlichen, auch tänzerischen Bewegungen, zur Gestik und Mimik. In einer wenige Zeilen umfassenden Nachschrift zu einem Brief des Vaters an die Mutter (Wien, 8. September 1773) schreibt der siebzehnjährige Mozart: „Der Wolfgangerl hat nicht Zeit zu schreiben, denn der hat nichts zu tun, er gehet im Zimmer herum wie der Hund in Flöhen.“ – Konstanzes jüngste Schwester Sophie Haibl, selbst eine aufmerksame und sensitive Beobachterin – sie hat einen ergreifenden Bericht über Mozarts letzte Tage geschrieben, und Mozart scheint sie geschätzt zu haben -, beschreibt diese Seite von Mozarts Habitus mit folgenden Worten: „Selbst wenn er sich in der Frühe die Hände wusch, ging er dabei im Zimmer auf und ab, blieb nie ruhig stehen, schlug dabei eine Ferse an die andere und war immer nachdenkend … Auch sonst war er immer in Bewegung mit Händen und Füßen, spielte immer mit etwas, zum Beispiel mit seinem Chapeau, Taschen, Uhrband, Tischen, Stühlen gleichsam Klavier.“ – Hierzu paßt gut des fünfzehnjährigen Mozart Mitteilung aus Mailand an die Schwester (31. August 1771): „Meine einzige Lustbarkeit ist, mit dem Stummen [= Taubstummen] zu deuten [was natürlich heißt, sich durch Gesten zu verständigen], denn das kann ich aus der Perfektion.“ – Theaterbegabung beruht sicher nicht allein auf Sonderfähigkeiten; zum guten Teil rekurriert sie auf allgemein menschliche Fähigkeiten. Wer keine Menschenkenntnis hat, andere nicht beobachten, sich nicht in sie hineinversetzen kann, wem Psychologie fremd ist, wird nie für das Theater taugen. Die Schärfe, mit der Mozart schon als Kind beobachtet, und die manchmal unheimliche Sensitivität, mit der er auf andere im Positiven und Negativen reagiert, gehört mit zu seinem Genie.

Freilich muß auch eine andere, gleichsam dunklere Seite seiner Persönlichkeit, auf die Jean Massin nachdenklich und nachdrücklich hingewiesen hat, in diesem Zusammenhang beachtet werden. Massin, der gemeinsam mit Brigitte Massin 1954 eines der wichtigsten Mozart-Bücher verfaßt hat (das leider in der deutschsprachigen, auch in der USA-Literatur über Mozart kaum beachtet wird) 4, lenkt die Aufmerksamkeit auf Mozarts ständiges „Hinterfragen der reellen Identität der Personen und vielleicht seiner selbst“. Aus Paris schreibt Mozart (29. Mai 1778), es gehe ihm „so ganz erträglich“, und fährt fort: „… übrigens weiß ich aber oft nicht, ist es gehauen oder gestochen – mir ist weder kalt noch warm – finde an nichts viel Freude.“ Noch in einem seiner letzten Briefe, am 7. Juni 1791 an Konstanze in Baden gerichtet, enthüllt Mozart eine ähnliche Stimmung. Zwar bringt er sie in Zusammenhang mit der erzwungenen Trennung von seiner Frau, setzt sie in Kontrast zu der Erinnerung daran, „wie lustig und kindisch wir in Baden beisammen waren“, aber man wird mit Massin annehmen müssen, daß dergleichen Äußerungen einen Blick in tiefe Schichten von Mozarts Psyche tun lassen. Es heißt da: „- ich kann Dir meine Empfindung nicht erklären, es ist eine gewisse Leere – die mir halt weh tut, – ein gewisses Sehnen, welches nie befriedigt wird, folglich nie aufhört – immer fortdauert, ja von Tag zu Tag wächst.“

Liebes-, Wut- und Zorngesang

Die noch so intensive Konzentration auf musikalisches Metier allein hätte Mozarts Theaterbegabung und -besessenheit nicht zur Entfaltung gebracht. Das ist nicht nur einleuchtend, es läßt sich in dem einen oder anderen Fall sogar belegen. – Mozart war neun Jahre alt, als er auf Wunsch des englischen Gelehrten Daines Barrington, der die Mozarts 1765 in ihrem Londoner Quartier aufsuchte und später darüber berichtete, einen Liebes- und einen Wut- oder Zorngesang auf dem Klavier improvisierte. Der letztere war über das Wort „perfido“, ein Haushaltswort der italienischen Opera seria, gearbeitet, das noch im Don Giovanni eine Rolle spielt. Bei seinem Zorngesang arbeitete sich Mozart „zu derartiger Begeisterung … daß er das Klavier wie ein Besessener schlug und sich einigemale in seinem Stuhl aufrichtete“. Wir können uns gut vorstellen, was es da zu hören gab. Denn einmal verschweigt Barringtons umsichtig verfaßter Bericht nicht, daß das produzierte Stück sich an die Konvention hielt, daß es zwar über dem Durchschnitt, aber auch nicht erstaunlich hervorragend [amazingly capital] gewesen sei; auch besitzen wir eine niedergeschriebene Opernarie Mozarts aus demselben Londoner Jahr (KV 21), seine erste erhaltene überhaupt. Und es stimmt. Erstaunlich ist, daß der Neunjährige eine so abgerundete, eine so professionell, wenn auch gelegentlich etwas ungeschickt angelegte Opernarie überhaupt verfassen (und nun gar improvisieren) konnte; hervorragend ist sie nicht und unkonventionell schon gar nicht. Was der Neunjährige in Musik setzte, war offensichtlich nicht von selbständiger Beobachtung der Realität inspiriert. Er verhielt sich zu den in seinen Musikstücken dargestellten Gemütsverfassungen – zu den „Affekten“ in der Sprache der Zeit – wie der König von Rücken zu seinem Reich. Es mischten sich einzigartige Begabung und Aufnahmefähigkeit des Kindes mit unentwickelter Welterfahrung. In seiner Musik lehnte er sich damals notwendigerweise an überlieferte Konventionen an (die ja ohne Beobachtung der Realität ursprünglich auch nicht entstanden waren). Man wird mit der Vermutung nicht fehlgehen, daß, was den Knaben bei der Aufführung seiner Zornesarie vom Stuhl riß, die kindliche Nachahmung von Theatererlebnissen war. – Es trifft sich so, daß wir aus Mozarts Feder – und zwar aus seiner Notenfeder sowohl als auch aus seiner Schreibfeder – Belege dafür haben, wie er in reiferen Jahren Zorn in Musik umsetzte. Es ist die Rede von der berühmten Zornarie des Osmin „Solche hergelaufne Laffen“ (Nr. 3 aus der Entführung aus dem Serail), die, wie in anderem Zusammenhang zu zeigen sein wird, ohne Lebenserfahrung ganz unmusikalischer Art nicht zustande gekommen wäre.

Welterfahrung

Theatererlebnisse waren ein wesentlicher Teil von Mozarts Bildungsgang. Er muß in seinem Leben hundertemal im Theater gewesen sein, in Salzburg, in den Ländern, die er besuchte, und in Wien, und wahrscheinlich war die Zahl der Opern, die er hörte, nicht größer als die der Trauerspiele, Lustspiele und Possen. Es wird [an späterer Stelle im Buch] zu berichten sein, daß zur Zeit, da Mozart nach Wien kam, tiefreichende Umbrüche des Theaterlebens mitwirkten an dem neuen Epochenbewußtsein, auf das er dort stieß. Aus einem seiner Briefe vom Sommer 1781 wissen wir, daß er nachhaltige Eindrücke von Wiener Schauspielern empfing; einer der großen Theaterleute seines Jahrhunderts, Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816), hatte einige Monate zuvor am Wiener Burgtheater zu spielen begonnen. Mozarts Genie ist nicht eine Frucht allein seiner musikalischen Anlagen. Des Knaben „Feuer“, wie Schachtner sagte, ist eine solche Anlage, eine, die nicht in allen Fällen mit der musikalischen gekoppelt ist: die unbändige Lernbegier. Nahrung erhielt sie zunächst durch die langjährigen Reisen, vom Vater auch als Unterrichtsobjekte bietende Bildungsreisen klug gelenkt. Mozart selbst wußte das. „… ich versichere Sie“, schrieb er am 11. September 1778 aus Paris, „ohne Reisen (wenigstens Leute von Künsten und Wissenschaften) ist man wohl ein armseliges Geschöpf! – und versichere Sie, daß, wenn der Erzbischof mir nicht erlaubt, alle zwei Jahre eine Reise zu machen, ich das Engagement unmöglich annehmen kann; ein Mensch von mittelmäßigem Talent bleibt immer mittelmäßig, er mag reisen oder nicht – aber ein Mensch von superieurem Talent (welches ich mir selbst, ohne gottlos zu sein, nicht absprechen kann) wird – schlecht, wenn er immer in dem nämlichen Ort bleibt.“ Mit offenen Augen und Ohren erlebt Mozart im aufnahmefähigsten Alter, wie die verschiedensten Menschen sich verhalten, im Guten und im Bösen, in ihrem wirklichen Werktagsdasein auch in ihren Produktionsstätten, und mimetisch dargestellt auf dem Theater; im Zuschauerraum, auf Jahrmärkten und bei öffentlichen Hinrichtungen, bei Hof, im Adelspalais und im Bürgerhaus, in der Kirche und in der Freimaurerloge. Und alles das in einer Epoche, in der Zeitgenossen des Komponisten Aktionen vollbrachten, deren Menschen nur fähig sind, wenn historische Situationen in Jahrhunderten herangereift sind. Nur in solchen Zusammenhängen kann Mozarts Konzept von Musik, das er an unerwarteter Stelle selbst formuliert hat, verstanden werden.


1 Helga de la Motte-Haber, Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 1985, S. 257-401

2 a. a. O. , S. 334f.

3 Einstein, Alfred, Mozart. Sein Charakter – sein Werk, Frankfurt/M. 1978, S. 43

4 Massin, Jean et Brigitte, Wolfgang Amadeus Mozart. Biographie-Histoire de l’oeuvre-Catalogues, Paris 1959

* aus: Georg Knepler, Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, 464 S. , geb. , Berlin, Henschel Verlag (2. durchgesehene und neugestaltete Auflage) 2005, 26,90 Euro

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