Marx reloaded – Kritische Theorie auf der Höhe der Zeit

Anselm Jappe: Die Abenteuer der Ware. UNRAST-Verlag, Münster 2005.

von Peter Samol

Die Marktwirtschaft macht zu Beginn des neuen Jahrtausends einen ziemlich brüchigen Eindruck. Der plötzliche Konkurs von Firmen, die viele Zeitgenossen aus ihrem täglichen Leben gar nicht mehr wegdenken konnten, eine stetig zunehmende Zahl von Arbeitslosen, gefolgt von einem rasanten Abbau des Sozialstaates sind nur einige der vielen Zeichen, die nicht einmal die hartgesottensten unter den berufsoptimistischen Schönrednern noch übersehen können.

In der gegenwärtigen Krise ist Marx aktueller als je zuvor. Um das zu erkennen, ist es allerdings erforderlich, die Interpretation seines Werkes auf die Höhe der heutigen Zeit zu bringen. In diesem Sinne legt Anselm Jappe in seinem neuen Buch sehr anschaulich dar, dass es insbesondere die zentrale Kategorie des „Werts“ bzw. der „Wertform“ und die aus ihr abgeleiteten Momente „Ware“, „Arbeit“ und „Geld“ sind, die unsere gesamte Gesellschaft durchdringen und ihr ihre Form aufzwingen. Die grundlegende Analyse und Kritik der Wertform ist das Anliegen eines der jüngsten Zweige der marxistischen Theorie, der sich selbst sinnigerweise als „Wertkritik“ bezeichnet.

Die Wertkritik hat mit etlichen Dogmen des traditionellen Marxismus gebrochen. Unter anderem mit dem Geschichtsdeterminismus, der Arbeitsverherrlichung und der Klassenkampfideologie. Nach Auffassung der Wertkritik folgte die Entstehung des Kapitalismus keiner historischen Notwendigkeit. Einmal entstanden, folgt seine weitere Entwicklung allerdings einer zwingenden Logik, die mehr oder weniger gewalttätig dem Rest der Gesellschaft aufgezwungen wird. Unter der Herrschaft der Wertform werden alle möglichen Waren produziert, allein zu dem Zweck, aus Geld – der Maßeinheit des Wertes – mehr Geld zu machen. Um wiederum an Geld zu gelangen, muss gearbeitet und das Produkt der Arbeit in Form von Waren verkauft werden. Auf diese Weise sind Arbeit, Ware und Geld zum Zentrum aller menschlichen Aktivitäten geworden.

Der Wert und alles, was aus ihm folgt, sind nichts Natürliches, sondern ein grausamer Fetisch. Wenn Familien obdachlos werden, weil sie ihre Wohnungsmiete nicht zahlen können, Börsenmakler sich nach einem Verfall der Aktienkurse scharenweise aus ihren Bürofenstern stürzen oder Arbeitslose einem rigiden Zwangsregime unterworfen werden, dann ist das im Prinzip nichts anderes als die Huldigung, die „Wilde“ einem Götzenbild darbringen. In beiden Fällen haben Menschen etwas geschaffen, dem sie aus völlig irrationalen Gründen große Opfer darbringen, bis hin zu Menschenleben. Beide Male sind die Menschen selbst die Urheber der jeweiligen Fetischform und beide Male ist ihnen das nicht bewusst.

Unter dem Fetischverhältnis des Werts nimmt die Arbeit eine ganz besondere Rolle ein. Sie ist die Quelle des Werts und aller aus ihm abgeleiteten Kategorien. Nur unter der Herrschaft der Wertform, also im Kapitalismus, wird die Arbeit zum totalen gesellschaftlichen Organisationsprinzip. Einem Menschen aus einem beliebigen vorkapitalistischen Zeitalter wäre es nie eingefallen, etwa das Umpflügen eines Feldes, eine Musikdarbietung oder die Zubereitung eines Essens unter ein und denselben Begriff, eben den der „Arbeit“, einzuordnen. Real existiert nämlich im Grunde nur eine große Vielfalt konkreter Aktivitäten. Im Kapitalismus werden dagegen alle Tätigkeiten, die Wert produzieren und sich in Geld übersetzen lassen, als „Arbeit“ aufgefasst. Es ist eine zwingende Folge dieser Logik, dass eine Frau, die ihren alten Schwiegervater pflegt, im kapitalistischen Sinne „nicht arbeitet“, während ihr Bomben produzierender Mann „arbeitet“.

Nicht zuletzt wendet sich die Wertkritik auch gegen die Klassenkampfideologie. Deren Anhänger können nicht erklären, warum der Kapitalismus gerade jetzt in eine Krise stürzt. Ihre Erklärungsmodelle, in denen die Kapitalisten häufig so beschrieben werden, als ob sie das gesellschaftliche Mehrprodukt gierig an sich reißen und für ihr Privatvergnügen verzehren würden, überzeugen nicht. Sind doch auch die Kapitalisten nur „Götzendiener“ an der tautologischen Selbstverwertung des Kapitals. Zwar sind sie insofern privilegiert, als sie sich mit teureren Waren eindecken können, aber im Grunde führen sie selbst nur ein sehr erbärmliches Leben. Jedem mittelalterlichen Feudalherren wären die gehetzten und überarbeiteten Kleinunternehmer und Manager von heute wie armer Pöbel vorgekommen. Darüber hinaus ist es einfach nicht plausibel, dass die vermeintlich herrschenden Klassen wirklich so dumm sein sollten, die Zahl der Ausgegrenzten durch eine ständige Verschlechterung der Lebensumstände zu einer bedrohlichen Masse anwachsen zu lassen, wo doch eine gezielte Ruhigstellung durch ausreichende Vergütungen und Sozialtransfers viel einfacher, effektiver und billiger wäre.

Die Geschichte ist eher eine Geschichte von einander abwechselnden Fetischismen als von Klassenkämpfen. Die Frage nach den Nutznießern der Misere geht ins Leere. Es verhält sich vielmehr so, dass der Wert in die Haut lebendiger Menschen fährt und sie zu willfährigen Vollstreckern seiner Logik macht. Zwar gibt es in der kapitalistischen Gesellschaft auch Privilegierte, aber der Versuch, ihnen ans Leder zu gehen, macht ungefähr genauso viel Sinn, als würde man auf der sinkenden Titanic um den besten Platz an der Schiffsbar kämpfen. Schon bei Marx selber ist in den ersten drei grundlegenden Kapiteln des Kapitals nie von Klassen die Rede. Die Wertkritiker nehmen Marx beim Wort und kommen bei der Analyse der Bewegungsgesetze des Kapitalismus zu dem Schluss, dass diese in sich selber Widersprüche enthalten, die sich immer mehr zuspitzen und die endgültige Krise der kapitalistischen Gesellschaft aus sich selbst hervortreiben.

Es ist insbesondere der tendenzielle Fall der Profitrate, der letztlich den Niedergang herbeiführt: Das Kapital muss zu seiner Selbstverwertung ständig lebendige Arbeit aufsaugen, denn diese ist die einzige Wertquelle, die mehr Wert produziert als ihr Gebrauch kostet; die Differenz macht den so genannten „Mehrwert“ aus, der wiederum die einzige Quelle für den Profit ist. Hört die Mehrwertproduktion auf, dann hört auch jede Wertproduktion auf, denn ein Produzent, der keinen Profit macht, fängt erst gar nicht an etwas zu produzieren. Aber gleichzeitig treibt die Konkurrenz die Kapitaleigner unerbittlich dazu, ständig lebendige Arbeit durch Maschinen zu ersetzen. Diese bringen keinen Mehrwert ein, sondern geben lediglich genau den Wert, der bereits in ihnen steckt, an das Endprodukt weiter. So nimmt der Profit immer weiter ab, bis jede Produktion über kurz oder lang unrentabel wird.

Zur sichtbaren Verringerung der Arbeit tritt noch das unsichtbare Schrumpfen der produktiven Arbeit hinzu. Denn im Kapitalismus produziert keinesfalls jede Arbeit Mehrwert. Unproduktiv sind zum Beispiel das Bildungssystem, innere und äußere Sicherheit sowie das Gesundheitswesen. Arbeiten, die dort verrichtet werden, müssen vielmehr in Form von „Lohnnebenkosten“ oder Steuern aus der Mehrwertschöpfung, die zuvor woanders stattgefunden hat, mitfinanziert werden. Dadurch schmälern sie die Rentabilität der Gesamtproduktion. Im sich weiterentwickelnden Kapitalismus, dem die produktive Arbeit immer mehr ausgeht, wird es immer schwieriger und am Ende unmöglich, die Kosten für die mitlaufenden unproduktiven Arbeiten zu bestreiten, selbst wenn diese eine unverzichtbare Voraussetzung für die kapitalistische Produktion darstellen.

Das ist auch der Grund, warum sich die Staaten ständig verschulden. Sie tun dies, um die für ihre Volkswirtschaften notwendigen Infrastrukturen zu finanzieren. Mittlerweile ist die gesamte kapitalistische Gesellschaft unrentabel geworden und lebt nur noch auf Pump. Durch die Verschuldung wird das Wertgesetz für eine gewisse Zeit suspendiert und der Zusammenbruch eine Weile hinausgezögert. Diese Suspendierung geschieht außerdem durch die Flucht der Wirtschaft in fiktives Kapital, das an den Börsen und in anderen Bereichen der Spekulation geschaffen wird. Hier wird mit Versprechungen auf künftige Gewinne gehandelt, die bei nüchterner Betrachtung niemals mehr erzielt werden dürften. Auf diese Weise werden erhoffte Gewinne von morgen schon heute ausgegeben. Die mit rein spekulativen Finanzoperationen erzielten Gewinne sind mittlerweile ein unverzichtbarer Posten im Haushalt von Unternehmen, Staaten und Privatleuten geworden.

Durch die entsprechenden Geldmengen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen, entsteht der falsche Eindruck, das Geld würde sich von selbst vermehren. Aber es beruht auf dem Vertrauen, dass damit in Zukunft einmal reale Gewinne aus produktiver Tätigkeit geschöpft werden. Würde man die Spekulationskrücke entfernen, dann würde die Weltwirtschaft gar nicht mehr funktionieren. Insofern geht eine Spekulantenschelte, die in bestimmten Personengruppen die eigentliche Ursache der Krise ausmachen will, völlig ins Leere. Sie stellt nicht nur eine ausgesprochene Dummheit dar, sondern ist darüber hinaus gefährlich. Das angebliche „raffende Kapital“ aus der Spekulationssphäre ist immer wieder schnell mit einer bestimmten Gruppe identifiziert worden, meist mit „den Juden“. Von da an ist es nur ein kleiner Schritt bis zur systematischen Verfolgung und Vernichtung von Menschen. Auf diese Weise führt eine fehlgehende und völlig irrationale Diagnose zu den schlimmsten Folgen. Die Wertkritik führt dagegen gerade zu einer Kritik der strukturellen Mechanismen des Kapitalismus, die das Unheil nicht auf Umtriebe bestimmter Menschengruppen zurückführt.

Sobald die Einlösung der Versprechungen auf künftige Gewinne in der Zukunft in größerem Maße verlangt wird, platzen die Spekulationsblasen und rufen reihenweise Bankrotte hervor. Gegenwärtig bleibt der große Knall zwar aus, aber es findet ein langsames und allmähliches Absterben der auf dem Wert beruhen Produktionsweise statt. Diese langsame Agonie, die sich vor unseren Augen abspielt, führt nicht automatisch in eine bessere Gesellschaft. Der schleichender Niedergang hinterlässt vielmehr eine bedrohliche Leere, die leicht in die Barbarei einmünden kann. Niemals in der Geschichte ist der bewusste Wille der Menschen so wichtig gewesen, um das Leben der Menschen zu garantieren. Immerhin muss man der Warengesellschaft zugestehen, dass sie die Erkenntnis über die Existenz der fetischistischen Formen ermöglicht hat. Dieser Bewusstseinsfortschritt ist eine Vorbedingung zur Aufhebung des Fetischismus. Leider kann nichts und niemand verbürgen, dass diese Aufhebung gelingen und der Warenfetischismus wirklich der letzte Fetischismus sein wird.

Versteht man das ebenfalls beim Unrast-Verlag erschienene Buch „Dead men working“ als „Einladung“ zur Wertkritik, dann ist Anselm Jappes Werk für alle Interessierten der nächste Schritt. Es enthält einen systematischen Durchgang durch sämtliche Grundlagen und Schlussfolgerungen dieser Theorierichtung. Hier findet man endlich die systematische Zusammenstellung ihrer wesentlichen Elemente, die man sich zuvor aus den vielen Einzeltexten der Krisis-Veröffentlichungen zusammensuchen musste. Dabei erhält der Leser zahlreiche plausible Antworten auf die Frage, warum die Welt so funktioniert, wie es zur Zeit der Fall ist. Nicht zuletzt dürfte das Buch auch besonders gut als Textgrundlage für Arbeitsgruppen geeignet sein.

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