Der lange Weg zum Antikapitalismus

SWS Rundschau, Heft 4/2006, 46. Jahrgang, S. 479-482

von Andreas Exner

Rezension von: Schönbauer, Ulrich/ Vlastos, Michael (Hg. ) (2006), „Der neue Antikapitalismus“, Wien: Verlag des ÖGB.

Die Heterogenität von Sammelbänden erschwert mitunter eine Rezension. Auch im hier besprochenen Fall ist aufgrund der inhaltlichen Breite der Beiträge ein knappes und kompaktes Urteil fehl am Platz. Die Rede ist von jenem Werk, das Ulrich Schönbauer, Sozialwissenschafter in der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (AK Wien) und der im Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung (VÖGB) tätige Michael Vlastos jüngst herausgegeben haben. Es trägt den Titel „Der neue Antikapitalismus“. Das verspricht nicht gerade wenig.

Ausgangspunkt sowie Hauptteil der Veröffentlichung ist der Beitrag von Norbert Bacher und Ulrich Schönbauer, der eine empirische Studie des gesellschaftspolitischen diskussionsforums (GEDIFO) unter dem Titel „Der neue Stil. Verhandlungsabläufe zwischen Betriebsräten/innen und dem Management im Zeitalter der Globalisierung“ vorstellt. Das GEDIFO geht auf eine Initiative von AK Wien und VÖGB aus dem Jahr 2000 zurück und ist, den Herausgebern zufolge, vom „Verlangen nach einer neuen Politikentwicklung“ (7) motiviert. Auch wenn das GEDIFO „kein geschlossenes Gegenmodell“ (7) zum Neoliberalismus formuliere, so wolle es doch zumindest irritieren. Und in der Tat, das tut es.

Zu diesem Zweck verweisen Bacher und Schönbauer zunächst auf ziemlich illustre Vertreter der „Kapitalismuskritik“ bzw. Kapitalismusanalyse: Neben dem bekannten Fondsmanager George Soros werden der Unternehmensberater Rudi Wimmer sowie Wolf Lotter, Redakteur des liberalen Wirtschaftsmagazins brand eins zitiert. Mehr noch stößt allerdings vor den Kopf, dass die Herausgeber in ihrem Einleitungsbeitrag ein Verständnis der historischen Form- und Begriffsbestimmung ausgerechnet jener Produktionsweise vermissen lassen, die sie frisch von der Leber weg „Kapitalismus“ nennen. Bereits Marx hat theoretisch aufgezeigt, was im Grunde vermutlich jeder Betriebsrat weiß: dass der objektive Produktionszweck im Profit besteht, nicht jedoch in unbestimmten „Handlungsmöglichkeiten“ oder gar in „ordentlichen Gütern und Dienstleistungen“ (8). Die Möglichkeiten ökonomischer Handlungen finden ihre Grenzen vielmehr entlang der strukturellen Zwänge des Werts und seiner Formen (Geld, Ware, Preis, Lohn, Profit usw. ). Im Rahmen der Fülle materiell möglicher und sinnvoller ökonomischer Handlungen werden jene strukturell bevorzugt und hauptsächlich realisiert, die für die Verwertung (das Wachstum des abstrakten ökonomischen Werts) günstig sind und den Profit (voraussichtlich) maximieren.

Kapitalismus ist also immer und mit Notwendigkeit „Geld-Geld-Wirtschaft“ – eine Wortkreation von Wolf Lotter, die Schönbauer und Vlastos fälschlich, dafür im Einklang mit ihrem Urheber für die Finanzmärkte und einen so genannten Börsenkapitalismus reservieren möchten. Tatsächlich ist jedoch dem objektiven Produktionszweck nachgeordnet, ob er sich mittels Warenproduktion oder aber in Gestalt der Akkumulation von „fiktivem Kapital“ (Wertpapiere, Aktien) realisiert. Eine Frontstellung zwischen „Realwirtschaft“ und „Finanzwirtschaft“, wie sie die Herausgeber eröffnen, ist allerdings nicht nur theoretisch verschroben. Politisch ist sie darüber hinaus regressiv und gefährlich. Denn strukturell entspricht sie der Gegenüberstellung von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital, wie sie etwa der völkische „Antikapitalismus“ des Nationalsozialismus an zentraler Stelle propagierte. An Terrain gewinnt eine solche Sicht heute überall dort, wo Teilmomente der kapitalistischen Produktionsweise – etwa die Warenproduktion oder der „schaffende Unternehmer“ – positiv besetzt sind und gegen andere, nicht weniger zwangsläufige Momente dieser Produktionsweise – häufig etwa die Finanzmärkte oder die Finanzspekulation – ausgespielt werden. Dem personalisierenden und moralisierenden Ressentiment wird damit Tür und Tor geöffnet.

Kommen wir zum Hauptteil, jener Studie, die sich dem „neuen Stil“ in der Betriebsratsarbeit widmet und der konfliktreiche Diskussionen innerhalb des GEDIFO über die Praxis des „Co-Managements“, im Sinne einer „Einflussnahme sowohl auf strategische Entscheidungen [des Managements, A. E. ] als auch auf die konkrete Umsetzung“ (28) vorausgegangen waren. Die Erhebung sollte klären, unter welchen Bedingungen Co-Management eine „praktisch wirksame Mitbestimmungsmethode“ (16) darstellt. Das zentrale Ergebnis besteht in einer Typologie von Verhandlungsabläufen und Betriebsratspositionierungen. Diese umfasst (42 – 43):

1. multinationale Unternehmungen mit „best practices“, in der Regel mit „recht guten Voraussetzungen für ein Co-Management“; dieses reicht von der „Bildung von Netzwerken zum Management über gemeinsam mit dem Management abgestimmte , Inszenierungen‘ für die Börse und den Aufsichtsrat bis hin zum Versuch … , über Mitarbeiterbeteiligung ein Kapitalvertretermandat im Aufsichtsrat zu erlangen“;

2. New Economy-Betriebe, also Unternehmen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, mit einer stark auf Entrepreneurship, d. h. auf kapitalistischen „Unternehmergeist“, ausgerichteten neoliberalen Haltung ihrer Belegschaften;

3. „Globalisierungsopfer“, also Unternehmen, die aufgrund der Globalisierung stark unter Druck stehen – mit entsprechend negativen Konsequenzen für die Betriebsräte;

4. aus öffentlichem Eigentum ausgegliederte Betriebe, die mit dem Übergang zu privatwirtschaftlichen Strukturen zu kämpfen haben;

5. öffentliche Institutionen, die für Betriebsräte „sowohl Chancen als auch Risken“ darstellen und

6. Familienbetriebe, die sich einerseits durch Harmonie, andererseits aber durch erbitterte Kleinkriege im Falle wirtschaftlicher Schwierigkeiten auszeichnen;

7. einige Fälle von Unternehmen, in denen die Studie einen Typus „marginalisierter Betriebsräte/ innen“ identifiziert: diese sehen sich ausgesprochen individualisierten, oft relativ gut verdienenden Belegschaften gegenüber oder sind innerhalb ihrer Körperschaft isoliert.

Insgesamt wirkt diese Typologie plausibel und dürfte eine praxistaugliche Orientierungshilfe für die Betriebsratsarbeit bieten.

Im zweiten Teil des Sammelbandes werden die Studienergebnisse von einer Reihe internationaler AutorInnen kommentiert. Vor allem der Beitrag von Herrmann Kotthoff wirft ein kritisches Licht auf die Studie. Ganz richtig streicht er heraus, dass die Studie gegenüber dem Konzept des „Co-Managements“ keine neutrale, streng analytische Haltung einnimmt, denn „mit der … Heterogenität … der Rahmenbedingungen des Betriebsrats kontrastiert scharf die Uniformität des Akteurs-Typus des Betriebsrats“ (148). Tatsächlich handelt der Bericht von Bacher und Schönbauer in gewissem Sinne davon, „wie die anderen Fälle dahin gebracht werden können, so zu werden wie dieser , beispielhafte‘ Co-Manager …“ (148). Als wesentlich für diesen Betriebsrats-Typus sieht Kotthoff an, dass er sich „intern der erfolgreichen Unternehmensorganisation , nachgebildet'“ hat (148): Unter Bedingungen des (tendenziellen) Null-Wachstums würde der Betriebsrat vom „Andersmachen“ auf „Mitmachen“ umschalten.

Co-Herausgeber Michael Vlastos beleuchtet in seinem Beitrag „Guerillero Betriebsrat“ den Wandel der innerbetrieblichen Kampf- und Konfliktbeziehungen im Prozess der neoliberalen Globalisierung. Eine kritische Distanz zum Phänomen bleibt dabei leider auf der Strecke. So betont er die Notwendigkeit, „flexible kleine Einheiten“ einzusetzen und „guerillaartige Widerstandsnester“ aufzubauen, um im „asymmetrischen Krieg“ an den „unterschiedlichen , Kriegsschauplätzen'“ bestehen zu können, und schreckt auch nicht vor einer Empfehlung zurück, dafür Anleihen aus dem militärischen Bereich zu nehmen.

Deutlich zeigt sich in den Beschreibungen der Betriebsratsarbeit, wie sie die GEDIFO-Studie leistet, letztlich auch, dass Hegemonie wesentlich im Unternehmen gründet. Die Studie bietet einiges an Anschauungsmaterial für die Art und Weise, wie die subalternen Individuen und Gruppen den Konsens über den (neoliberalen) Kapitalismus aktiv herstellen – etwa indem Fragen der ökologischen Tragfähigkeit und der sozialen Sinnhaftigkeit der Produktion unberücksichtigt bleiben, oder indem z. B. abstraktes ökonomisches Wachstum, Flexibilisierung und das Interesse an Lohn und den entsprechenden (Erwerbs-) Arbeitsplätzen den Rang von Naturgegebenheiten einnehmen.

Sehr zu empfehlen ist der Band all jenen, die einen lebendigen Einblick in die Praxis und das Denken von BetriebsrätInnen erhalten wollen. Wer sich für emanzipatorische Fragestellungen interessiert, geht allerdings leer aus. Die Hoffnung, dass der Titel des Bandes hält, was er verspricht, wird enttäuscht. Von „Antikapitalismus“ findet sich keine Spur. Sollte das Buch Spiegelbild theoretischer Reflexion in Gewerkschaftszusammenhängen in Österreich sein, so ist die Bilanz zwar instruktiv, doch betrüblich. Lichtjahre sind die Beiträge nämlich davon entfernt, auch nur die grundlegenden kapitalistischen Strukturen und Begriffe – Markt und Staat, Geld und Ware sowie Lohn (-arbeit) und Profit – zu problematisieren. Daraus resultiert insgesamt eine widersprüchliche Haltung, die einerseits einer „Realwirtschaft“ keynesianischer Prägung nostalgisch nachtrauert, andererseits aber einer weitreichenden Anpassung an jene Imperative verfällt, die der Neoliberalismus auf seine Fahnen heftet: Marktorientierung, Konkurrenzfähigkeit, Wertschöpfung, Flexibilität und „Finanzierbarkeit“. Einer zukunftsweisenden Perspektive, die darauf abzielt, praktische Antworten auf die sozialen Zumutungen und ökologischen Verheerungen des gegenwärtigen Kapitalismus zu finden, ist damit nicht gedient. Der Weg zu einem „neuen Antikapitalismus“ ist also noch weit.

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