Ausgelogen?

Zur doch beachtlichen Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány

Der Standard 23.9.06

von Franz Schandl

„Wir haben offenbar die letzten eineinhalb, zwei Jahre durchgelogen. Es ist ganz klar, dass nicht wahr ist, was wir sagen.“ – Ist solch eine Aussage ein Skandal? Dezidiert nein, so ist die politische Normalität und das sollte endlich auch zur Kenntnis genommen werden. Somit alles andere als ein Skandal, aber vielleicht gerade deswegen doch einer, aber ein anderer.

Auf der Website des ORF heißt es kryptisch: „Ihm wird vorgeworfen, zugegeben zu haben, dass seine Regierung in den vergangenen Jahren , gelogen‘ habe.“ Genau darum geht es. Gyurcsány wird gar nicht angekreidet, gelogen zu haben, sondern es zugegeben zu haben. Das macht doch einen Unterschied. Nicht die Lüge ist das Problem der Politik, auch nicht die gegenseitige Bezichtigung, sehr wohl aber ihre Offenlegung als Einbekenntnis. Wohin kämen wir, wenn derlei gestanden wird? Da wären Täuschung und Selbsttäuschung schwer beeinträchtigt.

Indes, nur jene, die sich selbst belügen oder gar an die Kindermärchen der Staatsbürgerkunde glauben, verbieten sich, das zu wissen. Freilich ist es ein Schlag ins Gesicht, es in dieser Schroffheit präsentiert zu bekommen. Aber jeder, der sich in der Politik umhört oder gar jemals an ihr beteiligt gewesen ist, weiß es oder weiß es zu verdrängen. Üblicherweise beherrscht nämlich die Verlogenheit die Lüge. Genau diese Wand hat Gyurcsány durchlöchert. Der ungarische Ministerpräsident mag sich demaskiert haben, aber noch mehr hat er dem Wahlvolk (Anhängern wie Gegnern) die selbstgenügsame Larve heruntergerissen. Sie können sich in diesem Moment nicht mehr dem Schein hingeben. Das tut weh.

Anstatt in sich zu gehen, verwandelt sich das Publikum in einen rasenden Mob und stürmt gleich mal eine TV-Station. Demagogen und Populisten nehmen Aufstellung, um das Kommando zu übernehmen. Die Propagandisten der reflexionslosen Vorurteile sind prompt zur Stelle, und ihre Hooligans erledigen den Rest. Seitdem kommt Budapest nicht zur Ruhe. Die Leute wollen zwar betrogen werden, aber sich nicht betrogen fühlen. Dass sie angelogen werden, das hätten sie mit etwas Verstand auch vorher wissen müssen. Auch wenn die Demonstranten es nicht verstehen, sie demonstrieren nicht gegen die Lüge, sondern gegen die Wahrheit. Das ist schlecht.

Besser wäre es, sie demonstrierten gegen die Wirklichkeit, die solche Wahrheiten und Lügen erzwingt. Demonstrationen machen erst dann einen Sinn, wenn deren Teilnehmer anfangen, gegen sich selbst, also gegen das, was sie ausmacht, aber nicht mehr ausmachen soll, zu demonstrieren. Wenn sie gegen die Zumutungen ihrer Konstitution auftreten und nicht diese über vermeintliche Interessen verwirklichen wollen, wenn sich also das rudimentäre ICH gegen das oktroyierte SICH erhebt. Das wäre mal wirklich was anderes. Solche Demonstrationen gibt es aber weder in Budapest noch in Wien und auch nicht in Amsterdam und New York. Derlei ließe sich nur mit einem enormen Bewusstseinsschub bewerkstelligen. Doch woher nehmen? Weder die Zivilgesellschaft noch die Schurkenstaaten haben derlei im Angebot.

Politik ist kein Ort der Selbstbestimmung, sondern ein Zauberkabinett der Reklame. Was drücken wir ihnen rein? , ist die obligate wie zynische Frage jeder, also auch politischer Werbung. Sie fällt damit ein vernichtendes Urteil über das Publikum, das sie behandelt. Nicht die Lage der Menschen ist Richtschnur, wohl aber deren Stimmung. Wer Politiker ist, kann die Leute (vor allem auch die Anhänger) nur verachten für das, was sie sich bieten lassen. Die meisten tun das auch, aber sie sagen es nicht. Dafür erzählen sie dem sogenannten Souverän die selige Geschichte vom Mündigen, denn die wird von allen Hörigen gerne gehört.

Ferenc Gyurcsány hat hier die Regeln gebrochen. Da ist einer, der sich seiner hellen Augenblicke nicht erwehren kann. Das ist untypisch für einen Politiker, soviel Offenheit ist selten. Die Rede Gyurcsánys ist übrigens die mit Abstand interessanteste, die ich in den letzten Jahren von einem etablierten Politiker gelesen habe. Schwach wird sie bloß dort, wo er meint, er spreche von einem ungarischen Phänomen. Das ist weder ein ungarisches, noch ein kakanisches Problem, aber auch kein europäisches oder gar ein importiertes amerikanisches, sondern eines, das die moderne Politik insgesamt auszeichnet und damit auch ihre strukturellen Schranken offenlegt. Nicht politische Krisen erleben wir, sondern Krisen der Politik. Und diese schiere Verzweiflung des Politikers an der Politik angesichts ihrer Mittel, wird dezidiert angesprochen: „Wir treiben uns gegenseitig in den Wahnsinn in manchen Punkten, dass wir die notwendige Menge Geld zusammenkratzen können“, heißt es in der etwas holprigen Übersetzung der APA.

Natürlich geht in dem Vortrag einiges durcheinander, und die Analyse ist keine feine. Sie ist in ihrer Wortwahl sogar ausgesprochen grob. Aber sie spricht aus, was man im Getriebe der Politik spüren kann, sofern man sich überhaupt noch spürt und die Betriebsamkeit des Sachzwangs nicht als Pflicht einfach hinnimmt. Gyurcsány im Original. „Ihr irrt Euch, wenn Ihr denkt, dass Ihr die Wahl habt. Ihr habt sie nicht. Ich habe sie nicht. Heute besteht höchstens die Wahl, ob wir versuchen zu beeinflussen, was passiert, oder ob uns das ganze Zeug auf den Kopf fällt.“

Auch der wenig korrekten, aber doch richtigen Einschätzung, dass „wir Arschlöcher zueinander sind“, kann kaum widersprochen werden. Das gilt ja nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Wirtschaft. Als Unwesen der Konkurrenz verhalten wir uns zwangsläufig wie Feinde zueinander. Auf dem Markt sowieso. Doch der prägt unser Leben, dimensioniert unsere Psyche. Man sieht, Gyurcsány ist knapp dran. Was hindert ihn eigentlich daran zu sagen: Wir haben das ganze Zeug satt und wir wollen keine Arschlöcher mehr sein. Das wäre der Punkt, wo Emanzipation begänne, aber da herrscht Stille.

Eine Politik, die sich ernsthafte Fragen stellt, kann sich nur noch in Frage stellen. So weit ist Gyurcsány nicht. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass es sich letztlich um ein Manöver handelt, um die anstehenden budgetäre Einschnitte, d. h. die sozialen Opfer, den Opfern zu verklickern. So wird der Ministerpräsident die Kurve kratzen und dem „ganzen Zeug“ weiter als „Arschloch“ dienen. Was sollte er sonst tun? Autos polieren? Das schließt er dezidiert aus. Denn auch über die Motivation, Politiker zu sein, klingt einiges durch, was gerne verschwiegen wird. Etwa das indirekte Eingeständnis, dass es sich besser leben lässt, wenn man Politiker ist und eben nicht Autopolierer. Zweifellos ist es in dieser Gesellschaft wichtiger, Leute zu polieren als Autos.

Für einen Rücktritt besteht aus dem vorliegenden Grund jedenfalls kein Grund. Es sollte ausreichen, dass Gyurcsány den Ungarn zu verstehen gibt, sie wieder anzulügen, und seinen Sitzungskollegen die Aufnahmegeräte wegnimmt.


Dokumentation von Ferenc Gyurcsanys Rede in Ausschnitten:

„Weil wir’s verschissen haben“

Eine Rede des ungarischen Regierungschefs Ferenc Gyurcsany vor einem internen Forum der ungarischen Sozialisten im Mai dieses Jahres sorgt nun in Ungarn für Wirbel. Ihm wird vorgeworfen, zugegeben zu haben, dass seine Regierung in den vergangenen Jahren „gelogen“ habe. Demonstranten verlangten daraufhin in Protestkundgebungen am Sonntagabend in Budapest die Abdankung des Premiers. Die Rede war kurz nach Amtsantritt der neuen sozialliberalen Regierung nach ihrer Wiederwahl im Frühjahr gehalten worden. Am 1. Oktober stehen in Ungarn Kommunalwahlen an.

Als Reaktion auf die Proteste veröffentlichte Gyurcsany am Montag den gesamten Text seiner Rede, in der es um die anstehenden Wirtschaftsreformen und die hohe Staatsverschuldung geht, in seinem Weblog.

Der veröffentlichte Text beruht auf dem Transkript einer Tonbandaufnahme. Im Folgenden einige Wortlautauszüge in einer Übersetzung der APA:

„Was wir im vergangenen Monat machen konnten, haben wir getan. Was wir in den Monaten davor heimlich machen konnten – so, dass nicht in den letzten Wochen des Wahlkampfes Papiere darüber an die Öffentlichkeit kommen, was wir planen -, haben wir getan. Wir haben das Geheimnis bewacht, während wir unterdessen wussten und Ihr wusstet, dass wir uns, falls der Wahlsieg kommt, nachher sehr zusammennehmen und zu arbeiten anfangen müssen – dass wir noch nie solche Probleme hatten. Wir haben die politische Einheit seit vorigem Sommer bewahrt und dahinter sozusagen die fachliche politische Einheit, wie noch nie in den vergangenen Jahren, vielleicht niemals. (… ) Wir treiben uns gegenseitig in den Wahnsinn in manchen Punkten, dass wir die notwendige Menge Geld zusammenkratzen können.

(… )

Wir haben fast keine Wahl. Wir haben keine, weil wir’s verschissen haben. Nicht ein bisschen, sondern sehr. In Europa hat man so eine Blödheit noch in keinem anderen Land gemacht, wie wir sie gemacht haben. Das kann man erklären. Wir haben offenbar die letzten eineinhalb, zwei Jahre durchgelogen. Es war ganz klar, dass nicht wahr ist, was wir sagen. Dass wir dermaßen jenseits der Möglichkeiten des Landes sind, wie wir es uns nie vorher von der gemeinsamen Regierung der Ungarischen Sozialistischen Partei und der Liberalen vorstellen konnten. Und was haben wir sonst während der vier Jahre gemacht? Nichts. Ihr könnt keine einzige bedeutsame Regierungsentscheidung nennen, auf die wir stolz sein können, außer jener, dass wir zum Schluss die Regierungsarbeit aus der Scheiße gefahren haben. Nichts. Wenn wir vor dem Land Rechenschaft ablegen müssen, was wir in den vier Jahren gemacht haben, was sagen wir dann? (… )

Kinder, wir sind nicht perfekt. Überhaupt nicht. Wir werden’s auch nicht sein. Ich kann Euch nicht sagen, dass alles in Ordnung sein wird. Ich kann Euch nur sagen, was ich im vergangenen einen Jahr gesagt habe: dass (wir tun werden), was wir ehrenhaft machen können, was wir fähig sind zu tun. Denn wir spielen keine Extra-Matches, weil wir unsere Energien nicht dafür verwenden, herumzuscheißen, es gibt keine eigenen Interessen, was unter uns sowieso die Öffentlichkeit nicht ertragen würde, weil es nicht irgendwas ist, was ich mit Euch zu Wege bringen will.

(… )

Es ist keine Reform, dass sich die anderen ändern sollen. Es ist keine Reform, dass wir uns so rausstellen und dem Volk das Mantra vorsagen. Die Reform ist, dass wir bereit sind, es in einer ganzen Reihe von Bereichen anders zu bewerten, was wir bisher gedacht und getan haben. Im Vergleich zu dem ist die Aufgabe der ersten Monate, die Aufgabe der Korrekturen, nur ein simpler Zwang, das muss ich gestehen. Ihr irrt Euch, wenn Ihr denkt, dass Ihr die Wahl habt. Ihr habt sie nicht. Ich habe sie nicht. Heute besteht höchstens die Wahl, ob wir versuchen zu beeinflussen, was passiert, oder das ganze Zeug uns auf den Kopf fällt. Unsere Lösung ist sicher nicht vollkommen, Ihr habt Recht, sicher nicht – aber wir wissen keine bessere. (… )

Aber man muss nicht deswegen Politiker sein, weil man von dem so super leben kann. Weil wir schon vergessen haben, wie es ist, Autopolierer zu sein. Sondern deswegen, weil wir diese Sachen lösen wollen. (… ) Wir müssen losgehen. Wir müssen wissen, was wir tun wollen. Die ersten paar Jahre werden furchtbar sein, sicher. Es ist völlig uninteressant, dass (nur) 20 Prozent der Bevölkerung für uns stimmen werden. (… ) Was wäre einmal, wenn wir nicht unsere Popularität verlieren, weil wir Arschlöcher zueinander sind, sondern weil wir große gesellschaftliche Dinge machen wollen? Und es ist auch kein Problem, wenn wir dann für einige Zeit unsere Popularität in der Gesellschaft verlieren. Wir werden’s dann eben wieder zurückgewinnen. Weil sie es einmal verstehen werden. „

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