Ruhe ist die erste Bürgerspflicht

Streifzüge 2/2002

von Gerold Wallner

Der Abgeordnete der Grünen wurde von der Polizeiführung ersucht, auf einer Demonstration kalmierend aufzutreten. Am nächsten Tag war sein Foto in den Tageszeitungen zu finden, das ihn mit erhobenen Armen vor der Kette der Ordnungshüter zeigte. Ob die Arme zum Schlag gehoben waren, zur Abwehr oder vielleicht auch nur in resignierender Geste, ist aus den Berichten nicht ersichtlich. Jeden Falls war es am Rand dieser Demonstration zu Ausschreitungen gekommen, die Tags darauf Gegenstand von Debatten im Nationalrat wurden. Dass der Abgeordnete der Grünen an der Demonstration teil genommen hatte, wurde in einer Art und Weise von der Parlamentsmehrheit der Regierungsparteien moniert, als wäre der Abgeordnete selbst für die Ausschreitungen, an denen er nicht beteiligt war, verantwortlich. Einige Zeit später wurde in Graz die erste Bürgerwehr gegründet, ein Verein, der seine Mitglieder patrouillieren lässt, um Drogendealer und Bettlerinnen, Parksünder und Radfahrerinnen, die gegen die Einbahn unterwegs sind, zu ertappen und zu überführen. Der Verein ist eine Gründung jener Partei, die in der Koalition der Regierungsparteien die stärkere ist.

Wie hängen diese beiden Ereignisse zusammen?

In beiden Vorfällen haben wir es mit Befindlichkeiten zu tun, die den dünnen Firnis des Konsenses bürgerlicher Geselligkeit deutlich machen. Überall dort, wo freie bürgerliche Subjekte auftreten, tun sie dies unbewaffnet und haben sich mit den Waffen auch jeder Kon- fliktaustragung begeben. Der Staat hat sich ihnen gegenüber mit Schwert und Waage bewaffnet und zur Regulierung, Benennung und Austragung der Konflikte verpflichtet, und was den Menschen früher als ein Bild der Gerechtigkeit galt, die sie unmittelbar selbst auszuüben hatten, ein Bild, dem sie sich qua Religion und Tugend annäherten, erscheint nun nicht mehr als Idol oder Abbild sondern als die Realität selbst. Aber der Staat hat mit den Waffen der ehedem Freien auch die Garantie übernommen, dass er nun alle Gewalt zugunsten seiner Sujekte ausübe und hinfort keines mehr für Witwen, Waisen, Bedrängte und Erniedrigte einzustehen habe.

Wer also heute Waffen trägt, tut das nicht mehr als freier Mann, der mit der Führung des Schwerts verpflichtet ist, Frieden zu halten, also auch dafür zu sorgen, dass kein Streit ausbreche, keine Ungerechtigkeit verübt werde und keins zu Schaden komme. Wer heute Waffen trägt, tut dies im Auftrag des bürgerlichen Staats als Delegierter; die Waffe kommt nicht mit der Freiheit zu ihrem Träger, sondern mit der Herrschaft zu ihrem Büttel und Polizisten. So erklärt sich auch die Reaktion der bürgerlichen Subjekte, die einem Konfliktfall begegnen. Nicht greifen sie selber ein, denn das ist nicht die Pflicht und Arbeit, die ihnen zukommt. Höchstens rufen sie die Polizei, die sich um die Streithähne zu kümmern habe, wenn sie nicht überhaupt die Schlägerei, die sie beobachten, als reine Privatsache ansehen, in die sie nicht verwickelt werden wollen; und dies oft nicht aus Angst, selbst sich einer Gefahr auszusetzen, sondern aus Angst, ungebührlich zu etwas Stellung zu beziehen, das sie eigentlich nichts angeht, und sich daher in s Unrecht zu setzen. So wird die Polizei dann nur mit anonymem Anruf verständigt, und gesehen hat keines was.

Die Entwaffnung der Gesellschaft fällt mit der Durchsetzung der Distanzwaffen zeitlich genauso zusammen wie mit der Durchsetzung erster bürgerlicher Organisationsformen in den Städten der noch feudalen Landschaft. Aber die Distanzwaffen hatten der feudalen ritterlichen Tugend längst den Garaus gemacht, und so kann es auch nur logisch erscheinen, dass mit der Existenz der Söldner, die sich die Technologie der Distanzwaffen zu Eigen machten, gleichzeitig mit der modernen Kriegsführung auch deren Kommerzialisierung begann.

Dieser gerafften Darstellung entspricht in der Durchsetzungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft natürlich ein langer Prozess, in dem die ersten zentralstaatlichen Gebilde auch noch keineswegs die bürgerliche Abstraktion der vor dem Gesetz Gleichen und ihm gleichermaßen Unterworfenen verkörperten. Und weit bis in die jüngste Gegenwart hinein können wir – wenn auch schon in großem Maße kriminalisiert – paramilitärische oder parapolizeiliche Organisationsformen vorfinden, die dem Staat das Gewaltenmonopol streitig machen; ja selbst die vollkommen staatskonforme Existenz von Geheimpolizeien und Nachrichtendiensten ist in nuce darauf gerichtet, wenn dem Staat auch zu dienen, ihn doch nicht an deren Tätigkeit teil haben zu lassen.

Jeden Falls ist es kein Wunder und vollkommen logisch, dass die erste Figur, die in den Kon- flikt mit einer Staatlichkeit eintritt, weil sie Gleiches Recht für Alle fordert und nach verlorenem Prozess und damit der Verweigerung der Genugtuung den Staat selbst in Form seiner Repräsentanten attackierte und dabei eine Ladung Silberbarren der kurfürstlichen Münze erbeutete, ein Bürger war. Kein Bauer und kein Edelmann tritt uns hier mit Ansprüchen an einen gerechten Staat entgegen, sondern der Rosskamm (Pferdehändler) Hans Kohlhaase (das Vorbild für Kleists Novelle Michael Kohlhas). Interessant an seiner Geschichte ist gerade das Beharren darauf, dass die Verletzung des Rechts nicht ungesühnt bleiben darf und schon gar nicht dort, wo sich der Staat selbst dieser Verletzung schuldig macht. Das Vergehen Hans Kohlhaases war es also, starrsinnig darauf zu beharren, dass der Staat mit der an sich gezogenen Gewalt das von ihm gesetzte Recht auch durch zu setzen hätte, eine wahrhaft bürgerliche Denkfigur!

Es lebt also ein Misstrauen gegen die Entwaffnung (wiewohl wir uns Hans Kohlhaase noch als durchaus bewaffneten Menschen denken müssen) und gegen den Staat und seine Garantien. Es ist auch dieses Misstrauen, das die linken DemonstrantInnen gegen den Aufmarsch der Rechten in Gang setzte; der Verdacht, der Staat würde seine Gesetze nicht einhalten, nicht unterschiedslos blind mit Schwert und Waage seine Gewalt zum Wohl und Erhalt und Konsens der Gesellschaft einsetzen. Es ist das selbe Misstrauen, das den Verein auf die Straße bringt, um dort selbst für Recht und Ordnung zu sorgen. So gesehen ist der Gedanke durchaus charmant, wie die Vizekanzlerin sagen würde, dass die BürgerInnen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.

Was natürlich in diesem Zusammenhang verschwiegen wird, ist dass sich das Interesse der Handelnden durchaus darauf richtet, den Staat zurecht zu weisen, und damit das Interesse der anderen, die durch die staatlichen Garantien sich geschützt wähnen, vehement anzugreifen wie auch die staatlichen Garantien selbst. So ist es auch gar kein Wunder, dass das Auftauchen von Abgeordneten der Opposition auf einer Demonstration im Parlament zu einer Debatte führte, die sich nicht um das Grundrecht der Koalitions- und Versammlungsfreiheit drehte, sondern sofort das Gewaltmonopol des Staats thematisierte. Die Frage war, hat irgend ein Staatsbürger das Recht, sich in der Nähe von Ereignissen aufzuhalten, die das Monopol auf Gewaltausübung durch den Staat in Frage stellen könnten; in der Nähe von Ereignissen also, die Anlass geben, kriminelle Handlungen wenigstens zu befürchten, diese aber durch zu geringe Distanz wenn nicht gut zu heißen, so doch zum Anlass zu nehmen, sich in ungebührlicher Weise einzumischen.

Worin liegt nun also der Unterschied zwischen dem Anbgeordneten der Grünen und dem Verein der Freiheitlichen? Ich behaupte, den Unterschied gibt es nicht, beide bewegen sich in den Widersprüchen und Aporien der bürgerlichen staatlichen Geselligkeit, die als Bürgerpflicht nur noch die Sorge um sich selbst zu lässt, und die Sorge um die Anderen an den Staat verweist, was aber wiederum von den Subjekten argwöhnisch betrachtet wird. Wenn gesellschaftliche Pflicht und Leistung eine Tätigkeit ist, die angeblich in der Verfolgung der eigenen Wohlfahrt die Wohlfahrt der Gemeinschaft bezweckt und durchführt, dann ist jede Tätigkeit für Andere den Zielen der Gesellschaft widrig. So fällt die Tätigkeit des Staats, Garantien abzugeben dafür, dass das je Einzelne seine Zwecke zum vorgeblichen Wohle Aller verfolgen kann, unter den Verdacht, nach der Entwaffnung der als Einzelne Konstituierten diese in der Ausübung ihrer gesellschaftlichten Pflichten zu hindern; jeden Falls dort, wo die staatlichen Garantien das Subjekt Geld kosten; jeden Falls dort, wo sich die Garantien auch auf jene erstrecken, die ihr persönliches Fortkommen zum Wohle Aller gerade nicht ausüben können oder wollen; jeden Falls dort, wo die staatlichen Garantien entgegen der Existenz von Einzelnen sich auf ein Allgemeines erstrecken, dem das je Einzelne die Zuständigkeit für das Gemeinwesen schnell abzusprechen bereit ist, wenn sein Zweck nicht unmittelbar mit dem Zweck des je Einzelnen korreliert.

Was in unseren Fällen Grüne und Freiheitliche verbindet, ist dass sie ihr je gesellschaftliches Engagement an einen Staat richten, der nicht neutral sei sondern ihrer Ereiferung offen, dass sie dabei verlangen, dass der Staat sich ihren partikularen Standpunkt zu eigen mache, der doch nur aus der Verfolgung der eigenen Wohlfahrt resultiert und durch Verfassung wie sozialen Konsens geheiligt sei. Der soziale Konsens ist aber dabei ein sonderbar Ding; denn er bestimmt sich nur durch das, was nicht sein soll, nicht durch das, was sein soll. Wenn sich der soziale Konsens nun an dem entzündet, was nicht sein soll (nämlich die je einzeln erfahrene Verunsicherung durch eine Verfolgung von Fortkommen und Zwecken, die nicht die je eigenen sind und die als dem Staat zuwider laufend oder gar kriminell bezeichnet werden), dann kann das soziale Engagement nur die Form der Denuziation annehmen, die sich wiederum an den Staat richtet und so dem eigenen gesellschaftlichen Engagement gleich die Dimension der Aufforderung gibt, der Staat möge zu Gunsten der eigenen Position und zu Ungunsten der Position der Anderen gefälligst seine Aufgaben machen.

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