(Nicht) Wählen – und was dann?

von Lorenz Glatz

Ob Sie das nach den letzten Wahlen oder vor den nächsten Wahlen lesen, spielt für uns keine Rolle, liebe Leser(innen). Wir wollten Ihnen sowieso keine Partei ans Herz legen. Die Frage, wen wählen, ist ja viel schwieriger als die Frage, wen nicht wählen. Hier allerdings könnte einem/r so viel einfallen, dass dann schon wieder das Wählen selber die Frage wäre.

Auffällig ist jedenfalls schon seit langem, dass sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien immer weiter verwischen. Das ist allerdings weniger das Ergebnis zunehmender Fantasielosigkeit der Politiker als vielmehr die Folge davon, dass die Politik als Kunst des Möglichen angesichts der immer deutlicher spürbaren Diktatur der Ökonomie ein zunehmend kleineres Feld zur Gestaltung und immer mehr einzuhaltende Regeln vorfindet. Angesichts von globalen Finanzmärkten und transnationalen Konzernen geraten die zu Standorten degradierten Nationalstaaten in einen selbstmörderischen Wettlauf um die besseren Verwertungsbedingungen auf Kosten von Mensch und Natur. Die Wahlmöglichkeiten sind also schon durch die herrschenden Zustände einigermaßen eingeschränkt, und zu entscheiden haben die Gewählten auch schon mehr gehabt.

Politik wird zur Kunst, den StaatsbürgerInnen die Unausweichlichkeit der Verschlechterungen zu vermitteln, die sie ihnen antut. Soll also niemand sagen, dass die Politik ein einfaches Geschäft ist. Und ein eminent wichtiges ist sie noch dazu, wenn alles weiter seine Ordnung haben soll. Die lebensfeindlichen Gesetze der Markt- und Geldökonomie sind schließlich die eine Sache, dass wir Menschen sie hinnehmen und uns – möglichst aus eigener Überzeugung – nach ihnen ausrichten lassen, eine andere. Das erstere geht automatisch. Dass aber das zweite einigermaßen reibungslos geschieht, dafür braucht es eben Staat und Politik und was so alles dazu gehört, wie die Wissenschaft, die Massenmedien, die Demoskopie und das Polit-Marketing.

Ein paar Unterschiede sind aber durchaus noch geblieben. Die wichtigsten liegen wohl noch in der Stärke und Art der Ressentiments, die die eine oder die andere Partei bei ihren Adressaten bedient und schürt, wieviel und welche Feindbilder sie hat und auch braucht, um gewählt zu werden. Tatsächlich stimmen neun von zehn Leuten, die zur Wahl gehen, realistischer Weise nicht für, sondern gegen jemanden, sie wählen nicht, wen sie für gut, sondern bloß, wen sie für weniger schlecht halten oder von wem sie erwarten, dass er/sie die sowieso erwarteten Einschnitte möglichst andere mehr als eine(n) selbst spüren lässt. Hierin erschöpft sich im Wesentlichen auch schon die Bedeutung der Wahl, die eins noch hat.

In der Praxis zwischen den Wahlen schrumpfen die Differenzen dann allerdings noch beträchtlich, wie etwa ein Vergleich des österreichischen Schwarzblau mit dem deutschen Rotgrün selbst in so umstrittenen und kontroversen Bereichen wie in der „Fremden“- und „Asyl“-Politik mühelos zeigt. Wer auch immer hierzulande neben Bundeskanzler Schüssel in der Regierung sitzen wird – in der Substanz wird sich die Praxis der neuen Regierung nicht sehr von der unterscheiden, die unlängst Schüssels frisch gewählter deutscher Kollege in einer Art „Blut, Schweiß und Tränen“ – Rede für sein Kabinett angekündigt hat.

Es ist also eine gewaltige Herausforderung an die Selbstbescheidung auch der demokratie- und marktwirtschaftsgläubigsten Wähler, sich mit den Unterschieden zu begnügen, die zwischen den Parteien noch bestehen, und erst recht eine Herausforderung ist es, die Erfolge, die einer/m angepriesen werden, noch als solche zu erkennen. Wenn z. B. eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um „nur 9%“ in einem Jahr in einer Arbeitsgesellschaft ein „Erfolg im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ ist und die jährlichen realen Pensionskürzungen eine „Maßnahme zur Pensionssicherung“ sind, was ist dann eigentlich ein Misserfolg?

Dass wir alle, Wählerinnen wie Nichtwähler, uns dieser Herausforderung an unsere Leidensfähigkeit trotz der steigenden Zumutungen wenigstens insofern gewachsen zeigen, als wir diese Zustände zumindest mehr oder weniger widerstandslos hinnehmen, kommt vermutlich von zwei Dingen: einerseits von der Dominanz der warenwirtschaftlichen und staatsgläubigen Denkweise, die heute als die einzig realistische erscheint, und andererseits von der praktischen Alternativlosigkeit der herrschenden Ordnung.

Mit der letzteren kann nur eine soziale Bewegung aufräumen, die sich nicht herbeizaubern lässt, für deren Zustandekommen aber mehr Experimentierfreudigkeit und Kooperationswilligkeit von unzufriedenen Menschen Wichtiges beitragen kann.

Mit der Denkweise zu brechen ist jedoch eine Voraussetzung, für die auch einzelne und wenige etliches tun können. Dazu ein Gedanke:

Üblicherweise führen alle Überlegungen und Auseinandersetzungen um soziale Probleme sehr schnell zur Frage nach der Finanzierung, nach Geld und Geldeswert, nach Kauf und Verkauf etc. – und damit in die Sackgasse des Diktats der wirklich oder angeblich leeren Kassen, denn grundsätzlich wird heute von links bis rechts in allen möglichen Varianten ungefragt als Voraussetzung akzeptiert, dass erst ein Geschäft (und sei es im Gesamtzusammenhang noch so sinnlos, ja destruktiv) gemacht werden muss, bevor wir an menschliche Bedürfnisse auch nur denken dürfen.

Diesen gefährlich engen Automatismus, der das Denken aller Politiker und politisch interessierten Menschen und erst recht der Theoretiker und Praktiker der Wirtschaft prägt, gilt es zu durchbrechen, ihn bewusst zu machen und konkret zu kritisieren, wo immer er handgreiflich wird. Worauf es ankommt,

ist nicht Geld, sondern die Nutzung materieller Ressourcen und der Erwerb und die Anwendung von Wissen;

ist nicht die Frage, ob durch irgendein Geschäft und irgendeine Arbeit Geld reinkommt, sondern was zu tun und – ganz wichtig: als entbehrlich, ja schädlich zu unterlassen ist, um gut zu leben.

Es wäre ein großer Fortschritt, wenn die drängenden lokalen und globalen gesellschaflichen Probleme von immer mehr Menschen so betrachtet würden. Eine solche Anschauungsweise sollten wir in den aufbrechenden Konflikten in bewusstem Gegensatz zum Gelddenken in Politik und Wirtschaft zur Geltung bringen, damit konkrete Interessen als praktische Konsequenzen und Forderungen durchgefochten werden können – in einer Art Anti-Politik und Anti-Ökonomie.

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