Die Arbeit hoch? — Einleitende Bemerkungen

von Erich Ribolits

Inhaltsverzeichnis des Buches

Wenn ich nicht im Grunde ein sehr arbeitsamer Mensch wäre, wie wäre ich je auf die Idee gekommen, Loblieder und Theorien des Müßiggangs auszudenken. Die geborenen, die genialen Müßiggänger tun dergleichen niemals(Hermann Hesse)

Der bekannte österreichische Theologe und Religionsphilosoph Adolf Holl meinte vor einiger Zeit in einem Interview, daß der Kapitalismus gewissermaßen als die erste tatsächliche „Weltreligion“ bezeichnet werden kann. Er stellt sich als ein weltumspannendes „Glaubensbekenntnis“ dar, dem heute mehr Menschen anhängen als jemals in der Geschichte irgendeiner anderen Religion. Und daß alle derzeitigen Gegenbewegungen zum Kapitalismus unter einer im wesentlichen religiösen Motivation antreten – sich zum Beispiel als fundamentalistische, okkultistische oder ähnliche Bewegungen artikulieren -, ist die logische Konsequenz dieses „religiösen Charakters“ des Kapitalismus. Wenn man das provokante Bild von der „kapitalistischen Religion“ weiterentwickelt, dann müßte die Verausgabung des Menschen durch (ökonomisch verwertbare) Arbeit als der „Gottesdienst des Kapitalismus“ bezeichnet werden; und die Opfergaben, die im Rahmen dieses Gottesdienstes dargebracht werden, wären dann wir selbst – die Bewohner der kapitalistischen Gesellschaften – sowie unsere natürlichen Lebensgrundlagen.

Wenngleich eine solche Gleichsetzung der politisch-ökonomischen Formation Kapitalismus mit Religion vermutlich auf heftige Ablehnung bei den meisten gläubigen Menschen stößt und höchstwahrscheinlich auch nur von wenigen Kollegen des angesprochenen Religionsphilosophen geteilt wird, läßt sich doch ein wesentliches Element der skizzierten Metapher nur schwer leugnen: Die menschliche Arbeit ist in den industriewirtschaftlichen Gesellschaften – die zwischenzeitlich ja allesamt konkurrenzlos von der kapitalistischen Ökonomie dominiert werden – heute mit einer geradezu kultischen Bewertung belegt. Sie nimmt eine zentrale Stelle im gesellschaftlichen Normen- und Wertegefüge ein und kann ohne Übertreibung als der Kristallisationspunkt allen gesellschaftlichen Geschehens bezeichnet werden. Über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg wird Arbeit heute als die grundlegende Bestimmungsgröße des Menschen gesehen, ja sogar unsere gesamte Sozietät wird stolz als eine „Arbeitsgesellschaft“ definiert. Diese zentrale Stellung der Arbeit in den Industriegesellschaften läßt leicht vergessen, daß die ethische Überhöhung der Arbeit historisch gesehen eine nur sehr kurze Karriere hinter sich hat. Erst das neuzeitlich-bürgerliche Postulat, daß die gesellschaftliche Positionsverteilung nicht durch geburtsständische Determinierungen, sondern über die Fähigkeit und Bereitschaft zur Leistungsverausgabung bestimmt sein soll, hat die menschliche Arbeit ja in einen solchen überragenden gesellschaftlichen Rang befördert.

Zugleich mit der neuzeitlichen Karriere der Arbeit hat die Loslösung des Menschen von der ständischen Gebundenheit auch einen gewaltigen Bedeutungsgewinn für das gesellschaftliche Subsystem Erziehung und (Aus? )Bildung ausgelöst. Nachdem die Arbeit ihren Makel als „ein von Gott auferlegtes Übel“ abgeschüttelt hatte und zur Lebensbestimmung des Menschen avanciert war – zum bestmöglichen Weg, um zu sich selbst zu finden -, galt es, zur Arbeitsverausgabung zu erziehen. Arbeit wurde zur primären Bezugsgröße für Erziehung und die Vorbereitung der Heranwachsenden auf die Übernahme von Positionen in der Berufs- und Arbeitswelt durch Erziehung und (Aus? )Bildung zu einer zentralen Aufgabe der Gesellschaft. Damit war der Grundstein gelegt für ein Verständnis von Pädagogik, das auf die Optimierung von Lernprozessen in Hinblick auf deren Relevanz für ökonomisch verwertbare Arbeit abgestellt ist. Die Pädagogik war damit nicht nur zur zentralen Agentur für die Vermittlung arbeitsrelevanter Einstellungen, Kenntnisse und Fähigkeiten geworden, die strukturellen Bedingungen des Arbeitens unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen selbst hatten die Pädagogik eingeholt und ihr in weiterer Folge zunehmend einen das Arbeitsverausgabungssystem stabilisierenden Charakter aufgedrängt.

Gegenwärtig befindet sich die Formation bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft in der Anfangsphase einer tiefgreifenden Krise. Gewaltige technologische Innovationsschübe, die fortschreitende Internationalisierung des wirtschaftlichen Geschehens und die anwachsenden ökologischen Probleme im Gefolge der Profitökonomie haben das in den kapitalistischen Kernländern etwa ein halbes Jahrhundert lang relativ gut funktionierende Zusammenspiel von Produktivität, Arbeitskräftebedarf und Konsum völlig aus dem Gleichgewicht gekippt. Just in jenem historischen Moment, in dem mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der großen, einander feindlich gegenüberstehenden Machtblöcke der Traum eines Lebens in Freiheit und Wohlstand für alle in greifbare Nähe gerückt schien, wurde unübersehbar, daß auch der Kapitalismus – der „Sieger des historischen Systemstreits“ – an einem krisenhaften Punkt seiner Adaptionsfähigkeit angelangt ist. Der augenscheinlichste Indikator dieser Krise zeigt sich in der abnehmenden Fähigkeit zur Vernutzung menschlicher Arbeitskraft im Rahmen der wirtschaftlichen Prozesse. In der gesamten industrialisierten Welt können heute hohe und – über längere Zeiträume betrachtet – durchwegs steigende Arbeitslosenraten beobachtet werden. Parallel zu diesem Ansteigen der statistisch ausgewiesenen Arbeitslosigkeit läßt sich auch ein rasantes Anwachsen der „Langzeitarbeitslosen“ verzeichnen. Schließlich wächst auch noch die Zahl sogenannter „prekärer Arbeitsverhältnisse“ (Teilzeitjobs, befristete und arbeitsrechtlich wenig abgesicherte Beschäftigungen, „Arbeit auf Abruf“, Beschäftigungen mit Bezahlungsbedingungen an der Armutsgrenze und ähnliches) rapid an.

Diese Entwicklung wurde über viele Jahre damit relativiert, daß sich das kapitalistische Wirtschaftssystem offensichtlich in einer seiner periodisch auftretenden Krisen befinde und die Dinge nach einiger Zeit mehr oder weniger von selber wieder ins Lot geraten würden. Zunehmend müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, daß die derzeitige „Krise der Arbeitsgesellschaft“ keine vorübergehende, konjunkturbedingte Erscheinung darstellt. Auch bei Wachstumsdaten der Wirtschaft – die bis jetzt immer von einem Anwachsen des Arbeitskräftebedarfs begleitet waren – wächst die Zahl der („mehr oder weniger“) Arbeitslosen derzeit weiter an. Zugleich werden Kompensationseffekte, auf die man in der Vergangenheit zählen konnte, heute immer unwahrscheinlicher. Da sich die technologische Entwicklungen zunehmend auch im Dienstleistungssektor arbeitskräfteeinsparend auswirken und der Ausbau eines „persönlichen Dienstleistungssektors“ eine nicht vorhandene, ausreichend große Zahl von Personen voraussetzen würde, die sich solche Dienstleistungen überhaupt leisten können, kann heute auch nicht mehr erwartet werden, daß der Dienstleistungssektor die freigesetzten Arbeitskräfte aus anderen Wirtschaftssektoren in größerem Umfang aufnehmen wird. Der seit der ersten industriellen Revolution andauernde Prozeß, daß der durch die permanente Erhöhung der Produktivität ausgelöste relativ andauernd sinkende Arbeitskräftebedarf durch einen anwachsenden Bedarf an lebendiger Arbeit aufgrund der fortschreitenden Ausweitung der Produktion und des Angebots an Dienstleistungen konterkariert oder zumindest kompensiert wird, ist offensichtlich an seine „natürlichen“ Grenzen gestoßen. Heute ist kaum mehr zu übersehen, daß das immer weitere Anwachsen der Masse der produzierten Güter eine Zerstörung der ökologischen Grundlagen der menschlichen Existenz nach sich zieht. Neben die Produktivitätssteigerung, als den traditionellen Jobkiller der auf Profit programmierten kapitalistischen Ökonomie, tritt damit heute zunehmend der „Jobkiller Überlebenschance der Menschheit“. Damit impliziert die angedeutete Entwicklung jedoch wesentlich mehr als „bloß“ dramatisch verschlechterte Lebensbedingungen für die vielen bereits unmittelbar von Arbeitslosigkeit oder verschlechterten sozial- und arbeitsrechtlichen Bedingungen betroffenen Menschen. Sie bedeutet in letzter Konsequenz das Ende des Mythos, daß es uns durch Arbeit gut geht und durch mehr Arbeit besser geht.

Wenn heute darüber diskutiert wird, wie unter ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten dem Problem der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten begegnet werden soll und ob durch Arbeitszeitverkürzung wieder Arbeit für mehr Menschen geschaffen werden kann, dann geht diese Diskussion am Kern des Problems weitgehend vorbei. Der Mensch der spätkapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft arbeitet ja keineswegs nur deshalb, um ökonomisch zu überleben, er definiert sich über die Arbeit, sie ist das strukturierende Merkmal seiner Existenz, und sie vermittelt ihm sein Selbstverständnis als Mensch. Ohne gesellschaftlich honorierte Arbeit ist er nicht „bloß“ in seinem materiellen Dasein gefährdet, ohne eine derartige Arbeit verliert der heutige Bewohner der industrialisierten Länder faktisch seine gesamte ideelle Existenzbasis. Wodurch unsere Sozietät überhaupt erst zu dem geworden ist, was wir heute mit dem Begriff Arbeitsgesellschaft zusammenfassen, ist die – mit jedem Generationsschritt reibungsloser ablaufende – allgemeine Verinnerlichung eines „aus sich selbst“ begründeten Werts des Arbeitens jenseits „bedürfnisorientierter Notwendigkeiten“. Die gegenwärtige Verringerung des Gesamtausmaßes der zur Verfügung stehenden, gesellschaftlich honorierten Arbeit ist – um noch einmal am anfangs erwähnten Bild vom „Kapitalismus als Religion“ anzuschließen – somit mit dem Verbot einer identitätsstiftenden Kulthandlung vergleichbar und kann dementsprechend von den Gesellschaftsmitgliedern nur im Sinne einer massiven psychischen Destabilisierung wahrgenommen werden.

Somit bleibt – selbst wenn es durch einen sozialen Umbau der Gesellschaft möglich wäre, die materiellen Probleme, die mit der sukzessiven Verringerung der Arbeitsplätze verbunden sind, in den Griff zu bekommen – die Tatsache bestehen, daß wir allesamt „verlernt“ haben, ohne Arbeit und in Muße zu leben. Denn auch das, was wir heute als Frei-Zeit bezeichnen, unterliegt ja in jeder Hinsicht denselben Strukturen wie die Arbeitserbringung im Rahmen der Profitökonomie. Es handelt sich dabei keineswegs um eine unverzweckte Muße-Zeit, die einem „inneren Bedürfnis“ folgend gelebt wird – Freizeit unterliegt im selben Maß wie die Arbeit den Bedingungen der Entfremdung. In der Arbeitsgesellschaft ist die von entlohnter Arbeitsverausgabung freigehaltene Zeit in hohem Maß gleichzusetzen mit Konsum, stellt damit aber auch bloß die Kehrseite der Vernichtung der ökologischen Lebensgrundlagen durch Arbeit dar. Es ist wohl unbestreitbar, daß eine Ausweitung der extensiven Freizeitgewohnheiten von Europäern und Amerikanern auf die restliche Menschheit genauso katastrophale ökologische Auswirkungen hätte wie die Verallgemeinerung dessen, was wir Lebensstandard nennen. Auch im Hinblick auf ihre „ökologische Unverträglichkeit“ können Freizeit und Arbeit als siamesisches Zwillingspaar bezeichnet werden. Die Freizeit ist in jeder Hinsicht bloß die präsentable Kehrseite der Arbeit, sie ist mit ihr untrennbar verbunden und bietet in ihrem heutigen Verständnis sicher keinen Ansatzpunkt, das durch die Strukturen der Arbeitsgesellschaft ansozialisierte Selbstverständnis des Menschen als „homo laborans“ zu relativieren.

Das was weiter vorne als Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft angesprochen wurde, bedeutet also wesentlich mehr als eine ökonomische Umbruchssituation, es handelt sich dabei um eine kaum mehr kaschierbare Krise des gesellschaftlichen Systems selbst. Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, beziehungsweise ökologische Notwendigkeiten es dem Menschen verunmöglichen, „sein Heil“ weiter in der Arbeit zu suchen, dann wird damit das neuzeitliche Weltbild vollständig aus den Angeln gehoben. Spätestens an diesem Punkt muß ersichtlich werden, daß durch das Problem der Verringerung des Gesamtvolumens der gesellschaftlich honorierten Arbeit auch massiv die Pädagogik betroffen ist. Pädagogik beschäftigt sich mit Erziehung und Bildung, ihr geht es um die Frage, „wie der Mensch zum Menschen wird“, welche Begleitumstände es sind, die ihm helfen, sein humanes Potential zur Entfaltung zu bringen. Eine Pädagogik, die dabei von der Annahme ausgeht, daß Arbeit eine „conditio sine qua non“ für den Menschen ist und zum menschlichen Leben gehört wie „das Salz zur Suppe“ ist untrennbar mit der Arbeitsorientierung der bürgerlich-kapitalistichen Gesellschaft verbunden. Sie ist Agent des Arbeitsethos und nicht in der Lage, bei der Suche nach Orientierungen für eine „Post-Arbeitsgesellschaft“ behilflich zu sein – sie ist paralysiert angesichts der Tatsache, daß Arbeit in Zukunft immer weniger der organisierende Lebensmittelpunkt der Menschen wird sein können.

Noch herrscht heute weitgehend der Glaube vor, daß durch ein besser, das heißt „arbeitsmarktgerechter“ qualifiziertes Humankapital, durch mehr Engagement, Flexibilität und Mobilität der Arbeitskräfte, durch neue Arbeitszeitmodelle und ähnliche Maßnahmen die Gefahr, daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit – ihr bestimmendes Gut – ausgeht, gebannt werden könne. Noch sind alle Lösungsmodelle für die Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft getragen vom Arbeitsethos und orientieren sich am Modell: „Mehr arbeiten bringt Segen“. Noch wird ja auch überwiegend die Illusion aufrechterhalten, daß die Arbeitslosigkeit nur ein temporäres und randständiges gesellschaftliches Problem sei und man den heute schon Arbeitslosen durch geeignete Maßnahmen mittelfristig wieder Arbeit anbieten wird können. Neben Schritten zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums lauten wesentliche diesbezügliche Rezepte: Weiterbildung und Umschulung. Auf diese Art ist die Pädagogik in höchstem Maße in die Krisenstrategien zur Aufrechterhaltung des Systems der Arbeitsverausgabung eingebunden. Ihr wird heute geradezu die Schlüsselrolle bei der Modernisierung des „Humankapitals“ zugewiesen – sie soll leisten, was Politik längst schon nicht mehr zustandebringt: Indem sie Handlungsanweisungen für Erziehung und (Aus? )Bildung liefert, die gewährleisten, daß möglichst schnell (wieder) ein optimal brauchbares Arbeitskräftepotential zur Verfügung steht, soll sie den Bestand des Systems und damit Wohlstand und wirtschaftliche Prosperität absichern.

Aber wäre es nicht heute, angesichts der Tatsache, daß immer schwerer an der Erkenntnis vorbeigegangen werden kann, daß die derzeit heranwachsende Arbeitslosigkeit keine konjunkturelle sondern strukturelle Ursachen hat und daß ein Aufrechterhalten der Arbeitsverfallenheit der Menschen geradewegs in die ökologische Katastrophe führt, allerhöchste Zeit, daß die Pädagogik endlich das Denkkorsett der Arbeitsgesellschaft verläßt? Wäre es nicht höchste Zeit, daß die Pädagoik ihre eigene Arbeitsorientiertheit kritisch reflektiert und sich der Erkenntnis besinnt, daß der Mensch sich nicht als arbeitender Konsument vom Tier unterscheidet, sondern als denkendes, reflexionsfähiges Wesen. Lange können sich die Menschen in den Industrieländern wohl nicht mehr um die Erkenntnis drücken, daß es heute nicht bloß um irgendwelche ökologische Teilkorrekturen des ökonomischen Systems geht, sondern daß – wenn die Überlebenschancen auf diesem Planeten nicht endgültig verspielt werden sollen – es mit dem Ende der Ära des energie- und ressourcenvergeudenden, exzessiven Konsums auch notwenig wird, von der Arbeitsgesellschaft endgültig Abschied zu nehmen. Für die Bewohner der Industriegesellschaften gilt es heute, eine Orientierung zu finden, die jenseits der Verzweckung durch Arbeit und Konsum liegt. Die Pädagogik als jene Disziplin, in deren Zentrum die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von „Bildung“ steht – einer Größe, die zwar nie losgelöst von gesellschaftlichen Bedingungen gefaßt werden kann, aber dennoch nur Sinn gibt, wenn sie in ihrer konkreten Auswirkung über den gesellschaftlichen Status quo hinausweist -, ist aufgerufen, ihren Beitrag zu dieser notwendigen Neuorientierung zu leisten. Dazu wird es erforderlich sein, den pädagogischen Stellenwert des Arbeitens radikal zu hinterfragen und sich im Gegenzug des pädagogischen Stellenwerts der Muße (neu) zu besinnen. Für eine Pädagogik, die sich in ihrer Aufgabe als Hebamme humaner Entwicklung ernst nimmt, scheint es heute hoch an der Zeit, sich von der „Ideologie der Arbeit“ zu emanzipieren.

Allerdings darf dabei auch nicht so getan werden, als ob, unabhängig vom ökonomisch vermittelten Arbeitszwang, der Mensch sein Verhältnis zur Arbeit frei definieren könne. Ein heute anstehendes Besinnen der Pädagogik auf den Wert der Muße für die Entwicklung des autonomen Individuums muß dementsprechend verbunden sein mit einer Reflexion der gesellschaftlich-ökonomischen, also der politischen Rahmenbedingungen, unter denen die Sozialisierung zum „Arbeits- und Konsumtier“ erfolgt. Ein bloßes pädagogisches Neuentdecken der „Muße als bildende Kraft“ ist genauso scheinheilig wie eine Pädagoik, die sich unkritisch in den Dienst der Requalifizierung der Krisenopfer stellen läßt, ohne gemeinsam mit den Betroffenen nach Antworten auf die zugrundeliegenden, systembegründeten Ursachen der Krise zu suchen. Ein idealistisch-wertfreies pädagogisches Besinnen auf die Muße bleibt zahnlos und heuchlerisch angesichts der Tatsache, daß die (Über? ) Lebensmöglichkeiten der Menschen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf das engste mit Lohnarbeit verbunden sind. Das Denkkorsett der Arbeitsgesellschaft zu verlassen bedeutet mehr als ein appellatorisches Einfordern einer Mußeorientierung des Menschen, es bedeutet, die „politische Funktion“ der Arbeitsgesellschaft in den Fokus einer, auch die eigene Disziplin selbstkritisch durchleuchtenden pädagogischen Reflexion zu nehmen und die Arbeitsgesellschaft auf ihre Nutznießer zu hinterfragen.

Im vorliegenden Buch soll ein Ansatz in diese Richtung unternommen werden. Es wird versucht, ein Hinterfragen der Arbeitsorientiertheit der Pädagogik mit einer kritischen Reflexion der diese bestimmenden politisch-ökonomischen Verhältnisse zu verknüpfen. Grundlage der Überlegungen ist die Annahme (die durchaus auch auf die im gegenständlichen Buch vertretenen Gedanken anzuwenden ist), daß die Entwicklung und Durchsetzung von pädagogischen Theorien nicht allein aus dem Binnenraum der Pädagogik begriffen werden kann, sondern daß zu ihrer Deutung immer auch die Mitberücksichtigung der je parallel auftretenden historisch-politischen Konstellationen erforderlich ist. Pädagogik und gesellschaftliche Verfaßtheit werden zueinander in einer dialektisch vermittelten Beziehung wahrgenommen; eine Wechselbeziehung, die allerdings dann in politische Verzweckung der Pädagogik umschlägt, wenn sich diese ihrer politischen Bedeutung nicht bewußt ist und ihr Erkenntnisinteresse nicht selbst unter politischen Gesichtspunkten reflektiert. In diesem Sinn wird die Tatsache, daß gerade heute unter wohlklingenden Stichwörtern wie „Schlüsselqualifikationen“, „Handlungsorientierung“ oder „Ganzheitlichkeit“ am (berufs? )pädagogischen Theoriegebäude weitgehende Um- und Neubauten vorgenommen werden, als Herausforderung ersten Ranges zur Reflexion (berufs? )pädagogischer Begründungsprämissen gesehen. Dies insbesondere deshalb, als die neuen pädagogischen Paradigmen nahezu ausschließlich unter dem Aspekt des Reagierens auf politisch-ökonomische Veränderungsprozesse legitimiert werden, was nichts anderes als ein verstecktes Bekenntnis zur anwachsenden Verzweckung von Bildungsprozessen für die Aufrechterhaltung des ökonomisch-gesellschaftlichen Ist-Zustands und somit einen (weiteren) Verlust an pädagogischer Legitimation signalisiert.

Nach dem vorher Gesagten braucht kaum mehr darauf hingewiesen werden, daß der vorliegende Text in Anerkenntnis einer „kritischen Pädagogik“ verfaßt wurde und getragen ist von der Vision einer radikalen Humanisierung und Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ohne ein gleichzeitiges Interesse an einer Veränderung der ökonomischen Prämissen der Arbeitsgesellschaft bloße Ideologie wäre. Er stellt einen Versuch dar, Ansätze für die Lösung pädagogischer Grundfragen im gesellschaftlichen Kontext zu entwickeln. In diesem Sinn kann er auch als ein Beitrag dafür verstanden werden, der Bildungsidee jene politische Brisanz wiederzugeben, die sie beim letzten großen Umbau des politisch-ökonomischen Systems – am Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – innehatte.

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