Vorbeugung – ein Mythos?

Gesundheit – jeder wünscht sie sich. Aber viele fühlen sich alles andere als gesund und munter. Ein Großteil versucht sich mit Tonnen von Medikamenten und Pulverln aller Art frisch-fröhlich zu zaubern. Einerseits ist die Lebenserwartung in unseren Breiten stark gestiegen, andererseits gibt es immer mehr chronische Krankheiten – nicht nur unter älteren Menschen. Das Thema Gesundheit ist heute in jeder Hinsicht wahrlich ein weites Feld. Wer hinter die Fassaden von Spitälern, Arztpraxen und Apotheken blickt, erkennt ein Schlachtfeld, auf dem sich blutige Kämpfe um Unsummen an Geld abspielen. Und die Schlachtrufe sind Mythen, nichts als lauter Mythen.

Der deutsche Publizist Matthias Martin Becker hat einen dieser Mythen auseinander klamüsert. Die Grundaussage seines Buches „Mythos Vorbeugung – Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht“: Die allseits geforderte individuelle Prävention fruchtet wenig, denn den größten Einfluss auf die Gesundheit üben die Lebensverhältnisse bzw. die gesellschaftliche Ungleichheit aus. Also der sogenannte „soziale Gradient“. Ein Leben in Armut oder in ständiger existentieller Unsicherheit, folglich in Dauerstress macht krank. Von fast allen Krankheiten sind die Ärmsten zwei bis drei Mal so häufig betroffen wie die Reichsten. Dazu liefert Becker einen historisch-sozialmedizinischen Überblick und eine dichte Rezeption von entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchungen. Der Bogen spannt sich von Mitte des 19. Jahrhunderts, als der deutsche Ahnherrn der Sozialmedizin, Rudolf Virchow, als junger Arzt einen staatlich beauftragten Bericht über die letalen Umstände von Schlesiens „Hungerpest“ erstellte, über den Briten Michael Marmot und die Whitehall-Studie bis zur Erforschung von Salutogenese (Gesundheitsentstehung) und Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) des israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky.

Besonders aufschlussreich und wichtig auch die dargelegten Erkenntnisse über die Entstehung und Wirkung von Stress – also aller belastenden Einflüsse. Vom Urstress, d.h. einer (Lebens-)Bedrohung – heute etwa durch Krieg, politische Verfolgung oder Armut ausgelöst –, über unpassende Ernährung für den je spezifischen Stoffwechsel (vgl. M.Wö. „Fleisch oder Nicht-Fleisch“ in Streifzüge Nr. 59), bis hin zu Rauchen und Umweltgiften. Das Fatale: Stress kann alle möglichen Krankheiten hervorrufen. Ergänzend möchte ich auf das Buch des Mediziners Christian Steiner hinweisen: „Zeit der Plagen? Warum chronische Symptome zunehmen und was die Holopathie dagegen tun kann“. Steiner hat nicht nur revolutionäre Erkenntnisse darüber gewonnen, wie Stress zu bewältigen ist, sondern überhaupt wie chronische Krankheiten geheilt oder stark gebessert werden können.

Die von Becker gebündelten Befunde sind auch ein interessanter Hintergrund für das vor vier Jahren von Arbeitslosen durchgeführte kritische Projekt „Würde statt Stress“ des Instituts für Alterskompetenzen, das um dasselbe Thema kreiste. Die ausführlich dokumentierten Ergebnisse, auf die sich auch die Volksanwaltschaft im Jahresbericht 2012 beruft, sind auf www.alterskompetenzen.info unter „Gesundheitsprojekt WÜST“ nachzulesen.

In „Mythos Vorbeugung“ wird auch das höchst brisante Thema, die staatlich vehement geforderten, ärztlich aber umstrittenen Früherkennungsscreenings angeschnitten. „Wenn das Mammografie-Screening ein Medikament wäre, würde es vom Markt genommen“, so der dänische Medizinforscher Peter Gotzsche, Direktor vom Nordic Cochrane Center (S. 80). „Auch das Swiss Medical Board plädierte rund heraus für die Abschaffung.“ (S. 71) – Dazu ebenfalls zwei Querverweise: Auf das Buch „Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ von Gerd Gigerenzer. Der deutsche Psychologe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin liefert ebenfalls triftige Gründe für die Wirkungslosigkeit, ja sogar Schädlichkeit der meisten Screenings. Und auf „Mythos Krebsvorsorge – Schaden und Nutzen der Früherkennung“ von Christian Wemayr und Klaus Koch, in dem auf jede Krebsart medizinisch fundiert eingegangen wird – von Häufigkeit, über Diagnosemöglichkeit bis hin zu Heilungschance.

Wie sieht es nun aber mit der Forderung aus, die auf der Rückseite des Buches von Matthias Martin Becker prangt: „Es ist an der Zeit, die Verhältnisse wieder gesund zu machen“? Der Autor fasst die Lage im akademischen Betrieb so zusammen: „Ungleichheit und ihre Folgen sind kein Thema, das wissenschaftlichen Ruhm einbringt. Michael Marmot, Richard Wilkinson und andere Epidemiologen kommt das Verdienst zu, den Begriff der Gleichheit überhaupt positiv aufgegriffen zu haben. In der präventiven Theorie und Praxis spielt sie allerdings kaum eine Rolle. Soziale Noxen überschreiten den Rahmen des bevölkerungspolitisch Erlaubten. Wer darauf beharrt, dass es wenig bringt, an den Symptomen einer ,dysfunktionalen Gesellschaft‘ herumzudoktern, stellt sich außerhalb der Gesundheitsdebatte. Um das Ausmaß der psychosozialen Belastung zu senken, wäre nicht weniger nötig als eine gleichere Gesellschaft, die eher von horizontalen Beziehungen als von Dominanzbeziehungen geprägt ist.“ (S. 195)

Beckers gesammelte akademische Befunde helfen, den Mythos Vorbeugung ins rechte Licht zu rücken. Alles in allem gäbe es jedoch noch viele andere Mythen zu durchleuchten. Etwa was das Verstehen von Krankheiten betrifft. Vorliegendes Buch deutet auch diesbezüglich in die richtige Richtung: Keine Krankheit überkommt einen wie schlechtes Wetter! Jede hat ganz konkrete Ursachen. Allerdings eine Medizin, die nicht bis zur biochemischen, bioenergetischen und emotionalen Ebene vordringt (vgl. Christian Steiner „Zeit der Plagen?“), der bleibt wie der Schulmedizin nur die Symptombekämpfung. Da wird geblockt und gesenkt, mit Beta-Blockern und Cholesterin-Senkern. Oder mit Cortison das Immunsystem außer Kraft gesetzt. Da werden massenhaft Antibiotika verschrieben – auch völlig unwirksam gegen Viren. Und wenn das alles nicht mehr hilft, wird operiert, gnadenlos operiert – allzu oft zu Tode operiert.

Matthias Martin Becker: Mythos Vorbeugung – Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht. Promedia Verlag, Wien 2014, 222 Seiten, ca. 18 Euro

image_print