Sexualisierte Gewalt

Aspekte eines gesellschaftlichen Problems

Sexualisierte Gewalt – ein altbekanntes und historisch wahrscheinlich ziemlich konstantes Phänomen. Gerade deshalb erscheinen die jämmerlichen Realitäten weitgehend unausgelotet. Der Komplexität des Themas steht ein seltsamer Mangel an Klarheit und Wissensvermittlung gegenüber. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das weitverbreitete gesellschaftliche Problem der sexualisierten Gewalt, die sich hauptsächlich gegen Frauen und Mädchen richtet, als individuelles Problem in Form von Klischees, Stereotypien und Mythen repräsentiert. Die gängigen sexuellen Geschlechterklischees benachteiligen auch Männer: Sexualisierte Gewalt an Männern und Jungen ist kaum ein Thema, weil Sex gegen den Willen eines Mannes nicht vorstellbar scheint. Auch wenn platte Schuldzuweisungen (Täter-Opfer-Umkehr) politisch nicht mehr korrekt sind, existieren Vergewaltigungsmythen weiter. Also all die beruhigenden („Vergewaltigungen kommen selten vor“), verharmlosenden („Es ist nicht so viel passiert“) oder opferbeschuldigenden („Die Frau war unvorsichtig“) Aussagen, mit denen sexualisierte Gewalt zugleich geleugnet und legitimiert wird. Opferfeindliche Einstellungen stabilisieren die gängigen sexuellen Geschlechterrollen. Wo Gewalt als sexuelles Fehlverhalten, als Ausrutscher und nicht als Gewalt benannt wird, verschwindet sie – ebenso wie die Täter. Und wo ein Gewalttäter nicht als solcher benannt wird, gibt es auch kein Opfer, das diese Gewalt erleiden musste.
Auf eine ausführliche Beschäftigung mit dem Thema folgen immer wieder Zeiten des Vergessens und Verdrängens. Diese zyklische Amnesie erklärt sich dadurch, dass sexualisierte Gewalt – in all ihren Facetten von anzüglichen Blicken, nicht gewollten Berührungen usw. bis hin zu sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Vergewaltigung – durch ihre Allgegenwärtigkeit im Leben sehr vieler Menschen ein Thema ist, das starke individuelle, aber auch gesellschaftliche Kontroversen und Abwehrmechanismen hervorruft und somit immer wieder tabuisiert wird. Denn zwischen dem Wissen um Zahlen und Fakten, der eigenen Gewalterfahrung oder dem Bescheidwissen über einen – befreundeten – Vergewaltiger und dem Begreifen eines Phänomens, dem Erkennen der Dimension liegt das Tabu, das von Scham und Schande begleitet wird und das Sich-Erinnern, Daran-Denken und Darüber-Sprechen so schwer macht.

„Und bist du nicht willig…“ – Macht und Gewalt

Sexualisierte Gewalt gehört seit Jahrtausenden zum Fundament patriarchaler Gesellschaften und ist beladen mit der Geschichte einer patriarchalen Kultur, in der der „Gebrauch“ des einen Geschlechts für das andere zum selbstverständlichen Vorrecht gehörte. Seit nunmehr vier Jahrzehnten wirft die feministische Gewaltkritik der patriarchal strukturierten Gesellschaft und ihren Institutionen vor, einen Zusammenhang von Sexualität und Gewalt, Gewalt und Lust geschaffen zu haben; dass Öffentlichkeit und staatliche Institutionen diese Machtverhältnisse reproduzieren, d. h. normentsprechend agieren, indirekt für Täter Partei ergreifen und Opfer verdächtigen. Demgegenüber bestand der Feminismus auf einer Definition, die Vergewaltigung als sexualisierte Form von Gewalt versteht. Sexuelle Handlungen werden demnach instrumentalisiert, um Macht und Dominanz zu demonstrieren. Das Motiv von Vergewaltigung ist nicht sexuelles Begehren, sondern Anspruch auf Besitz und Beherrschung der Frau, auf uneingeschränktes Verfügungsrecht vonseiten des Vergewaltigers. Mit dieser Definition ist Vergewaltigung kein Übel perverser Außenseiter, sondern ein Phänomen perverser „Normalität“, ausgeführt von normalen Männern. Diese These lenkt von der Pathologie Einzelner auf die Pathologie einer Gesellschaft, der Gewalt seit jeher innewohnt und die sexualisierte Gewalt zum Bestandteil struktureller Gewalt gegen Frauen und Mädchen macht. Erklärt das die anhaltende Stagnation im Kampf gegen sexualisierte Gewalt?

Die Verbindung von Vergewaltigungstat und gesellschaftlichen Machtverhältnissen läuft Gefahr, Gegensätzlichkeiten von Macht und Gewalt zu verwischen. So als sei die Gewalt nichts als die deutlichste Manifestation von Macht. Macht hat mensch aber nur, wenn sie ihm gegeben wird, sie muss ausgehandelt werden, sie beruht auf Zustimmung anderer. Gewalt dagegen ist einseitiger Zwang ohne zustimmendes Gegenüber. Der Täter agiert allein und ist allein verantwortlich. Er übt nicht Macht aus, sondern Gewalt. Wird der Unterschied zwischen Macht und Gewalt verkannt, bleibt die Position des Täters interpretierbar und im Unklaren.

Opferbegriff und Definitionsmacht

Wenn Vergewaltigung als männliches Unterdrückungsinstrument verstanden wird, muss eine zweifelsfreie Eindeutigkeit der Täter-Opfer-Unterscheidung bestehen. Die Eindeutigkeit der Täter-Opfer-Kategorisierung entspricht aber nicht immer der Realität. Jedenfalls sind Täter meist nicht nur Täter, Opfer nicht nur Opfer, Opfer können zu Tätern werden oder wieder zu Opfern, Täter bringen nicht nur Opfer hervor usw. Dass die patriarchale Geschichte auf Frauen und Männer wirkt, ist eine Binsenweisheit und auch, dass diese Tatsache beide Geschlechter provozieren muss, allerdings mit unterschiedlichen Konsequenzen. Die Stabilität des traditionellen Geschlechtersystems wäre ohne die Beteiligung der Frauen nicht denkbar. Ein System, das Frauen schädigt und zugleich von ihnen gestützt und bedient wird. Das Erkennen der Verwobenheit in die Machtverhältnisse verlangt nach einer Eingrenzung des Opferbegriffs, der auf den konkreten Gewaltakt bezogen bleibt. Nicht die Frau ist Opfer, sondern sie war Opfer in einer Gewaltsituation. Nicht das Festschreiben eines ohnmächtigen Opferstatus, um an Schuldgefühle der Gesellschaft zu appellieren, sondern das Freihalten eines Wegs zu Entscheidungsfreiheit und Handlungsfähigkeit aller Subjekte sollte ein Diskurs leisten.
Auch vonseiten betroffener Frauen fällt die Repräsentation der Vergewaltigung nicht gleich aus. Denn Männergewalt trifft die einzelne Frau in ihrer spezifischen Lebenssituation. Jeder Mensch kann nur selbst definieren, ab wann es sich um Gewalt handelt und inwieweit mensch unter den Folgen einer Grenzverletzung leidet. Mit dem gesellschaftlich normierten Gewaltbegriff, der von Kindheit an anerzogen, erlebt und kopiert wird und auf das Erlebte häufig nicht anwendbar ist, wird es Betroffenen schwer gemacht, erfahrene Grenzüberschreitungen zu formulieren.

Das Erleben von sexualisierter Gewalt

Sexuelle Handlungen werden deshalb so häufig als Mittel zum Zweck der Ausübung von Gewalt verwendet, weil damit die Selbstbestimmung über den eigenen Körper durch eine andere Person ausgehebelt wird. Sexualisierte Gewalt stellt einen Angriff auf die körperliche und seelische Integrität und Unversehrtheit eines Menschen dar. Sie ist ein Akt der Erniedrigung und Demütigung. Bei einer Vergewaltigung ist immer der Körper mit betroffen und dies in seinem intimsten Bereich. „Der Körper ist der einzige Teil der Welt, der zugleich von innen empfunden und – an seiner Oberfläche – wahrgenommen wird.“ (Jaspers 1946) Sich selbst hilflos zu erleben, die Selbstwahrnehmung von Kontrollverlust, zu erleben, dass Körpergrenzen ignoriert wurden, kann problematisch für die Bewältigung sein. Von Frauen beschriebene Gefühle nach einer Vergewaltigung ähneln sich deshalb auch – Scham, der Wunsch, das Geschehene ungeschehen zu machen, ein Gefühl des Beschmutztseins, Ekel vor dem eigenen Körper. Zudem ist zu berücksichtigen, dass drei Viertel der Täter dem sozialen Umfeld der Frauen angehören, es Bekannte, Freunde, Beziehungspartner oder Männer sind, die der Frau im Alltag öfter begegnen. Jede Begegnung führt zur Konfrontation mit der erlebten Schwäche und Beschämung. Sexualisierte Gewalt steht in einem besonderen Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft und bedeutet, dass Regeln, die für respektvolles zwischenmenschliches Verhalten gelten, außer Kraft gesetzt wurden, und damit den erlebten Verlust der Kontrolle über die Situation, den erlebten Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper, den erlebten Verlust des Vertrauens in bisherige Beziehungserfahrungen. Die Erkenntnis, dass der eigene Wille missachtet und gebrochen werden kann, kann zu einer Erschütterung des Selbsterlebens führen, dies besonders dann, wenn der eigenen, möglichen Ambivalenz zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch, Grenzen zu setzen, Gewalt entgegengesetzt wird. Die Folgen von sexualisierter Gewalt können ähnlich schwerwiegend sein wie die Folgen von Folter – man-made disasters. Die Traumatisierung verweist auf die dazugehörige Grausamkeit.

Dissoziation/Trauma

Dissoziation bedeutet Abspaltung. Wenn in einer bedrohlichen Situation, die die üblichen Handlungsmöglichkeiten eines Menschen außer Kraft setzt, also bei sexualisierten Gewalterfahrungen Flucht oder Gegenwehr nicht möglich ist, findet eine Art „Flucht nach innen“ statt. Die Situation wird gehirnphysiologisch anders verarbeitet – abgespalten, fragmentiert, um sie auf diese Weise erträglicher zu machen und nicht alle Details wahrzunehmen, zu spüren und zu erinnern. In ihrer Gesamtheit wäre die Situation – auch in der Erinnerung – unerträglich und nicht zu integrieren. Dissoziation ist ein wirksamer Schutz vor Überflutung.

„Weil nicht sein kann, was nicht sein darf…“ – Die Gesellschaft dissoziiert
Dissoziation findet auch eine gesellschaftliche Entsprechung. Im Umfeld von Gewalt findet sich häufig die Konstellation von Einfühlungsverweigerung wie auch die aufgeregte Sensationslust – dies kann als Abwehrkonstellation begriffen werden. Das Leid, das durch sexualisierte Gewalt ausgelöst wird, ist gesamtgesellschaftlich nicht er-/verträglich und wiederholt sich dadurch immer wieder. Wird sozusagen durch Schweigen konserviert – frisch gehalten – eingefroren – aufgewärmt – vervielfältigt.

Das Tabu ist das Leiden, der Schmerz, das Entsetzen und das Grauen. Erst mit dem Spiegel als Anti-Tabu, dem kollektiven „klar sehen“ kann der Aspekt des Leidens als real bedeutsam anerkannt werden.

Wer sich die Opfer vom Hals schafft, kappt den Zusammenhang von Tat und Tatfolgen und hält sich von den Belastungen eigener Verantwortungen frei. Betroffene von sexualisierter Gewalt werden mit ihrem Leid und besonders mit ihren Ansprüchen ins Abseits gedrängt. Ein breiter öffentlicher Diskurs über die Fragen zu der den gesellschaftlichen Verhältnissen innewohnenden Gewalt wird so verhindert. Und auch darüber, was jeder Mensch braucht und was durch Gewalt und Trauma zerstört wird: Dazugehörigkeit; Gemeinschaft; Sicherheit; Vertrauen; klare Kommunikation; Sicherheit in den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen; sichere Beziehungen; die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen.


Literatur

Heynen, Susanne: Vergewaltigt. Die Bedeutung subjektiver Theorien für Bewältigungsprozesse nach einer Vergewaltigung, Weinheim/München: Juventa-Verlag 2000.
Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie, Heidelberg: Springer 1946.
Re.ACTion: Antisexismus_reloaded, Münster: Unrast-Verlag 2007.
Schellong, Julia: Worte für Unsagbares – Psychische Folgen sexualisierter Gewalt und Anforderungen im Strafverfahren, in: Stadt Wien (Hg.): Konferenzband. Selber schuld!? Sexualisierte Gewalt – Begriffsdefinition, Grenzziehung und professionelle Handlungsansätze, Wien: Stadt Wien, MA 57 2012, S. 57–62.
Sommerauer, Andrea: Steter Tropfen höhlt den Stein, in: Moser, A./Wassermann, F. (Hg.): Narben. Kunstprojekt zu sexueller Gewalt, Innsbruck: Studienverlag Ges.m.b.H. 2011, S. 215–223.
Spangenberg, Ellen: Dem Leben wieder trauen. Traumaheilung nach sexueller Gewalt, Düsseldorf: Patmos-Verlag 2008.
Thürmer-Rohr, Christina: Verlorene Narrenfreiheit Essays, Berlin: Orlanda Frauenverlag 1994, S. 142–153.
Thürmer-Rohr, Christina: Mittäterschaft und Entdeckungslust. Zur Dynamik feministischer Erkenntnis, in: Studienschwerpunkt Frauenforschung (Hg.): Mittäterschaft und Entdeckungslust, Berlin: Orlanda-Frauenverlag 1990.

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