Ukrainisches Todesroulette

von Tomasz Konicz

Mit aller Macht versuchen Kiews Truppen eine Entscheidung im ukrainischen Bürgerkrieg herbeizuführen – und begehen dabei immer öfter Massaker an der Zivilbevölkerung. Deutsche Massenmedien wollen von all dem aber nichts wissen.

Die militärische Lage der prorussischen Kräfte in der Ostukraine hat sich in den vergangenen Tagen verschärft. Der bekannteste Akteur in den Reihen der ostukrainischen Aufständischen, der „Verteidigungsminister“ der nicht anerkannten „Volksrepublik Donezk“, Igor Strelkow, hielt am 28. Juli eine ungewöhnlich kurze Pressekonferenz ab, in der knapp die Folgen der jüngsten und bislang heftigsten Militäroffensive der ukrainischen Streitkräfte in der Region dargestellt wurden.

Strelkow musste hierbei weitere Geländeverluste einräumen. Während heftiger Gefechte versuche die ukrainische Armee die Einkesselung der Milizen in der Großstadt Donezk zu vollenden. Er selber sei „überrascht“ gewesen von der „Quantität an gepanzertem Material“, die dabei zum Einsatz gekommen sei. An die 200 bis 250 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge seinen zum Einsatz gekommen, die bei „zwei simultan ausgeführten Schlägen vom Norden und Süden vorrückten“. Obwohl die meisten ukrainischen Angriffe laut Strelkow vor dem Erreichen der Einkreisung von den Milizverbänden gestoppt werden konnten, habe er die Evakuierung von Verwundeten in die Russische Föderation angeordnet, da er „die Möglichkeit einer totalen Einkesselung von Donezk“ nicht ausschließen könne.

Die ukrainischen Streitkräfte haben somit nicht zum Sturm auf Donezk angesetzt, sondern versucht, die Stadt nordöstlich und südöstlich zu umgehen. Die heftigen und blutigen Kämpfe der vergangenen Tage, bei denen Dutzende von Zivilisten umkamen, fanden somit östlich von Donezk statt. Vom Norden her rückte die ukrainische Armee gegen die Ortschaften Horliwka (Gorlowka) und Debalzewe (Debalzewo) vor, vom Süden richtete sich der Angriff gegen die Region um die Städte Schachtarsk (Schachtjorsk) und Tores. Vor dem Beginn dieser Offensive sind Scheinangriffe auf Donezk gestartet worden, um die Kräfte der Milizen aufzuspalten.

Bei ihrem Vormarsch gingen die ukrainischen Streitkräfte abermals dazu über, von den Aufständischen gehaltene Städte mit Artillerie oder Mehrfach-Raketenwerfern zu beschießen. Besonders schlimm hat es Horliwka/Gorlowka erwischt, wo Dutzende von Zivilisten bei dem Beschuss durch Mehrfach-Raketenwerfer des Typs Grad ums Leben kamen. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet von 17 Toten, Russia Today meldet mehr als 30 Opfer eines zweitägigen Bombardements der Stadt.

Der Beschuss ist durch Zufall auf Video festgehalten und auf YouTube publiziert worden. Beim verstreuten Einschlag der Raketensalve steigen in der ganzen Stadt Rauch- und Staubwolken auf, sodass von einem gezielten Schlag gegen etwaige militärische Ziele beim besten Willen nicht gesprochen werden kann. Dieser Beschuss trägt vielmehr alle Charakteristika eines Angriffs, der die Widerstandskraft der Zivilbevölkerung brechen soll. Die Milizen und frisch aufgestellten Formationen der Nationalgarde, die nun die ukrainischen Streitkräfte bilden, greifen bei ihrer „Antiterroroperation“ offensichtlich zur Terrortaktik. Die Folgen dieses offensichtlichen Kriegsverbrechens, das in der bundesrepublikanischen Berichterstattung höchstens als Randnotiz vorkommt, wurden in grauenerregenden Bildern und Videos festgehalten. Eine im städtischen Park getötete Familie, die halb zerfetzte Mutter, die ihr totes Kleinkind noch in den Armen hält. Bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Marktverkäufer, die mit dem Verkauf selbst angebauten Gemüses ihre mageren Einkünfte aufzubessern versuchten.

Terrorangriffe gegen Zivilbevölkerung

Generell kommen bei diesen Terrorangriffen all diejenigen Menschen zu Schaden, die es sich nicht leisten können, die Bürgerkriegsregion zu verlassen. Denn der Vorfall in Horliwka/Gorlowka stellt ja beileibe keinen Einzelfall dar. Fast täglich melden russische Medien – denn im Westen will kaum ein Massenmedium der ukrainischen Armee genauer auf die Finger schauen – getötete Zivilisten bei Raketen- oder Artillerieschlägen gegen die aufständischen Städte im Osten der Ukraine. Allein am 29. Juli starben beim Beschuss von drei Städten im Osten der Ukraine etliche Zivilisten. In Lugansk wurde ein Altersheim getroffen (fünf tote Senioren, die mitunter in ihren Rollstühlen zerfetzt wurden), in Horliwka eine Schule, in Donezk ein Plattenbau (mehrere Tote).

Bislang ist vor allem Lugansk von dem willkürlichen ukrainischen Raketenbeschuss besonders stark betroffen. Allein am 26. Juli starben 20. Zivilisten, 80 wurden verletzt. Die OSCE berichtete am 19. Juli, dass zwischen Anfang Juni und Mitte Juli allein im Raum Lugansk 250 Zivilisten getötet und 850 verletzt worden seien. Ein UN-Report beziffert die Anzahl der bisher in diesem Konflikt getöteten Zivilisten auf 1.129, zudem seien 3.442 Menschen verwundet worden.

Ein Großteil dieser zivilen Opfer ist auf die besagte Terrortaktik der ukrainischen Streitkräfte zurückzuführen, da nahezu ausschließlich von Rebellen gehaltene Städte von Artillerie beschossen und mit Flugzeugen bombardiert wurden. Die US-NGO Human Rights Watch konnte vier solcher Vorfälle, bei denen Städte mit Grad-Raketen beschossen wurden, genauer untersuchen. Das Fazit:

Die vier Angriffe fanden in der Nähe der Frontlinie zwischen Aufständischen und Regierungskräften statt. Aufschlagskrater am Boden und an Gebäuden, die Human Rights Watch untersuchen konnte, waren charakteristisch für Raketenangriffe, nicht für Artilleriebeschuss. In allen vier Fällen haben der Winkel und die Form der Krater, sowie der Fakt, dass die Einschläge an den Seiten der Gebäude waren, die zur Frontlinie wiesen, stark darauf hingedeutet, dass die Raketen aus der Richtung ukrainischer Regierungskräfte oder bewaffneter Pro-Kiew-Gruppen kamen.

Der Beschuss von Städten mit Grad-Raketen kann nur als verbrecherisch eingestuft werden, da eine genaue Zielfestlegung mit diesen Waffen schlicht nicht möglich ist. Grad-Systeme werden eigentlich dazu eingesetzt, um Truppenverbände großflächig anzugreifen, sie weisen eine sehr große Streuung auf. Die Bedienmannschaft eines solchen Mehrfach-Raketenwerfers kann das Gebiet festlegen, in dem die Raketen niedergehen sollen, sie kann aber deren genaue Aufschlagspunkte nicht vorhersehen – der Mangel an Zielgenauigkeit wird durch die Masse der verschossenen Raketen ausgeglichen. Eingesetzt gegen Städte, gleicht der Grad-Beschuss somit einem Todesroulette. Völlig willkürlich und zufällig werden Menschen ohne jegliche Vorwarnzeit buchstäblich aus dem Leben gerissen. Die Intention eines Beschusses von Städten durch Grad-Systeme kann folglich nur darin liegen, deren Bewohner willkürlich zu töten. Ein solcher Akt stellt eindeutig ein Kriegsverbrechen dar.

Dabei scheinen die Machthaber in Kiew noch weiter an der militärischen Eskalationsschraube zu drehen. Am 29. Juli berichtet CNN, dass die ukrainischen Truppen nun ballistische Kurzstreckenraketen mit Sprengköpfen von rund 500 Kilo in der Ostukraine einsetzen würden. Laut vertraulichen Angaben des Pentagon sollen mehrere solcher Raketen aus „Gebieten, die von den Regierungskräften kontrolliert werden“, abgeschossen worden sein. Die Pentagon-Korrespondentin von CNN, Barbara Starr, berichtete:

Wir sprechen hier von maximaler Tödlichkeit, von Waffen, die Dutzende von Menschen mit einem Schlag töten können. Dem Pentagon sind die Abschuss- und Aufschlagspunkte bekannt. Die US-Administration hält diese Informationen zurück, weil sie sich in einer verzwickten Lage befindet. Du weißt ja, das sind ja die „guten Jungs“, die diese Waffen abfeuern.

Ziviler Widerstand und Zerfallserscheinungen

Die Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Vorgehens der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes gründet dabei hauptsächlich in der Fragilität dieser Offensive. Kiew ist schlicht nicht in der Lage, die Kriegshandlungen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, weswegen sie auf Biegen und Brechen möglichst schnell zum Erfolg geführt werden müssen. Der ukrainische Finanzminister Oleksandr Schlapak erklärte am 24. Juli, dass die Regierung aufgrund der angespannten Finanzlage den Sold der Streitkräfte nur bis zum 1. August auszahlen könne, sollten nicht weitere Finanzspritzen des Westens folgen.

Zerfallserscheinungen der ukrainischen Streitkräfte sind vor allem im „südlichen Kessel“ zu beobachten (Noch immer ist ungeklärt, wer Flug MH17 abgeschossen hat), in einer ukrainischen Grenzregion zu Russland, in der Tausende ukrainische Soldaten, die bei einem gescheiterten Vorstoß Anfang Juli die gesamte aufständische Region von Russland abschneiden sollten, seit Wochen eingekesselt sind und größtenteils ohne Versorgung ausharren müssen. Inzwischen desertieren nach russischen Angaben viele dieser demoralisierten Soldaten und gehen über die Grenze nach Russland, um sich dorthin abzusetzen. Verwundete ukrainische Soldaten wurden überdies in russischen Krankenhäusern im Grenzgebiet versorgt, meldete Euronews unter Berufung auf russische Fernsehberichte. Mitunter werden die ukrainischen Soldaten in denselben Krankenhäusern behandelt wie die aufständischen Milizionäre, berichtete Russia Today.

Es ist bezeichnend, dass die jüngste ukrainische Militäroffensive gerade nicht den Entsatz dieser eingekesselten Truppen zum Ziel hatte. Das hat seine perverse militärische Logik: Die Kräfte der zahlenmäßig weit unterlegenen Milizen können so besser aufgesplittert werden.

Doch auch in den Hochburgen des ukrainischen Nationalismus und Rechtsextremismus, in den Städten und Dörfern der Westukraine, wächst der Widerstand gegen den Krieg und die jüngst verkündete Teilmobilmachung. Im westukrainischen Chernivtsi blockierten hunderte Demonstranten die Straße Richtung Kiew, um den Abtransport der zum Militärdienst einberufenen jungen Männer zu verhindern. Ähnliche Protestaktionen und Straßenblockaden werden aus der westukrainischen Region Ivano-Frankivsk und aus dem Umland von Kiew gemeldet. Mitunter werden die Einberufungsbescheide von den Demonstranten öffentlich verbrannt.

Realität gegen massenmediale Obsessionen

Es ist aber auch bezeichnend für den beklagenswerten, deprimierenden Zustand der bundesrepublikanischen Massenmedien, dass diese Entwicklungen in der hiesigen Kriegsberichterstattung kaum eine Rolle spielen. Es scheint, als ob sich Deutschlands Meinungsmacher von der Taz bis zur FAZ – mal wieder – kollektiv in die Schützengräben begeben hätten, um fortan die Funktion einer Propagandakompanie auszuüben.

Der SPIEGEL etwa will in einem Anflug von Größenwahn (wir sind ja wieder wer) wohl eigenhändig „Putin stoppen“ (SPIEGEL schließt Russland-Forum nach drei Stunden), die FAZ sieht jede Verständigung mit Russland als eine „Illusion“ an, während die Tageszeitung nur in den prorussischen Milizen eine plündernde „Meute“ sehen will – und einen unfreiwillig komischen Durchhaltebericht aus dem „befreiten“ Dnjepropetrowsk publiziert. Die Stadt wird von dem Oligarchen Igor Kolomojskij, der eine Privatarmee finanziert, und der lokalen Mafia regiert, die „Ruhe und Ordnung“ schaffe. Ein „Milliardär, der der keine Einmischung duldet“, schaffe in der Stadt „Frieden, Wohlstand und Vielfalt“, so die Tageszeitung:

„Willkommen in der Hauptstadt der Mafia“, begrüßt eine Kellnerin den Gast aus Deutschland. In Dnjepropetrowsk sei die Welt noch in Ordnung, hier könne man in Ruhe leben und arbeiten. Und das liege vor allem an der Mafia. Es gebe drei große Clans, die die Geschicke der Stadt bestimmen. „Doch die Mafia lässt mich in Ruhe, solange ich nur kellnere und mich nicht in deren Geschäfte einmische“, meint sie. Überhaupt sei das Leben in Dnjepropetrowsk besser als in Kiew oder gar in Donezk. Die Bewohner seien in ihrer überwiegenden Mehrheit Einheimische.“

Die Auflösungstendenzen ukrainischer Staatlichkeit (Der gescheiterte Staat von nebenan) werden somit von der Taz als ein Zukunftsmodell gepriesen – damit dürfte der Preis für das absurdeste Propagandamachwerk des Monats Juli mühelos an die Kreativabteilung der Tageszeitung gehen. Übrigens, war da nicht mal was? Sollte sich die gesamte Maidan-Bewegung nicht gerade gegen Korruption und Oligarchenherrschaft richten? Im Februar dieses Jahres zeigte sich die Tageszeitung – die nun ihr Herz für die harte Hand der Oligarchenherrschaft entdeckt – noch empört über den obszönen Reichtum des gestürzten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, der „eine Villa mit eigenem Zoo unterhalten“ habe. Offensichtlich sind manche Oligarchen gleicher als andere.

aus: Telepolis 30.7.2014

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