Fallhöhe horizontal

von Ilse Bindseil

1.

Hoch aufgestiegen muss man sein, um tief fallen zu können: das war das Lernpensum des Literaturunterrichts noch in den Jahrzehnten nach dem zweiten Krieg, und das ist heute das Modell der medialen Inszenierung. Wer mit der BILD-Zeitung hinaufbefördert wird, wird von ihr vom Sockel hinuntergestoßen werden. Im spektakulären Fall des Einzelnen, so die Voraussetzung, wird das Schicksal eines jeden erlebbar gemacht. Und tatsächlich, in der Maske der Erhabenheit bekommt das unfassbar Fremde eigenen Unglücks etwas greifbar Vertrautes.

Daneben hat sich eine andere Form von Fallhöhe etabliert, die den Begriff scheinbar ad absurdum führt und deren Besonderheit darin liegt, dass sie nur gelegentlich herangezogen werden kann, wenn sie sich nicht abnutzen, sondern ihren Zweck erfüllen soll, auf die aller Dramatisierung zugrunde liegende Realität zu verweisen. Am tiefsten fällt dabei, wer mit der bösen Sache am wenigsten zu tun hat, von ihr nicht erhoben worden ist, von ihr auch nicht hinuntergestürzt werden kann und – trotzdem fällt. Der fehlende Bezug würde durch den Begriff der Unschuld eher verharmlost, wahrt der doch noch einen Bezug zur Schuld und wird der ursächlichen Rolle des Zufalls, die die horizontale Fallhöhe charakterisiert, nicht gerecht. Prompt hat sich der als Inbegriff von Zynismus gewürdigte Begriff des Kollateralschadens eingestellt. Formal durch Dabeisein, eine durch einen übergeordneten oder vielmehr anders angeordneten Sinn bewirkte Betroffenheit ausgelöst, ist der Kollateralschaden gewissermaßen eine Dynamisierung des Zufalls. Die Verwendung von lebenden Schutzschildern – ob in der Strategie oder Gegenstrategie, als Schachzug oder als Unterstellung – ist dagegen Ausdruck der vollzogenen Integration der Nichtbeteiligten in dasselbe System, dem auch die Drohne als die Verkörperung des unbeteiligten Aggressors entspringt. Unbeirrt verfolgt das Verhängnis die Nichtgemeinten und macht aus ihnen – Symbole.

Fallhöhe vertikal, Fallhöhe horizontal: Spannender, als den Gegensatz zu bewundern, wäre es, die Möglichkeit eines dritten oder gar vierten Modells ins Auge zu fassen, das den gebannten Blick vom hierarchischen System löst und den traditionellen Bezugsrahmen sprengt. Obwohl sich mit dem horizontalen Modell zur klassischen Fallhöhe eine Alternative eingefunden hat, die sie in ihrer schockhaften Eindrücklichkeit übertrifft, gilt die Ausschließlichkeit nach wie vor, wenn auch in der erweiterten Form des Gegensatzes, in der das Alte sich eisern behauptet. Die horizontale Fallhöhe ist der vertikalen ja nicht nur sprachlich unterworfen. Auch die Dynamik ist die alte. Wer mit der Sache, die für ihn tödlich ausgeht, am wenigsten zu tun hat, ist der Unglücklichste, ihm gebührt der Preis, sein Bild geht um die Welt. Die inhaltliche Vorstellung von den Großen, Glücklichen bleibt unangekratzt: Wer „nichts damit zu tun“ hat, muß irgendwie klein sein, er ist allein aus diesem Grund klein; eingeordnet in das Schicksal, das den Großen vorbehalten war, wird er nicht groß, aber sein Fall tief. Wenn also die vertikale Fallhöhe in ihrem horizontalen Gegensatz die logische, wenn auch unerwartete Ergänzung findet, scheint eine dritte Variante ausgeschlossen. Ein neues Modell müßte her, das das System sprengt. Die Fallhöhe müßte beiseite gelassen und der Blick zurück auf das Unglück gewendet werden: Kann es nicht selbst ein Rahmen sein oder durch etwas anderes nicht schlüssiger bestimmt werden? Daß die Vertikale und die Horizontale das Achsenkreuz bilden, von dem sich so schlecht wegdenken läßt, sollte kein Hinderungsgrund sein. Ein anderer Gesichtspunkt könnte sich der Erfahrung ja als so kongruent erweisen, daß man in ihm den Maßstab für Unglück erkennt. Es selbst wird sich dabei nicht groß geändert haben; auch das Leid der Nichtgemeinten gibt es nicht erst, seitdem der Kollateralschaden eingeräumt und auf diese verquere Weise in Sachen humanity ein Fortschritt erzielt worden ist. Freilich muß der Blick für das Neue im Alten geschärft werden. Trifft im vertikalen Fall das Unglück die Glücklichen, so im letzteren eben nicht die Unglücklichen, sondern andere, und nur wenn man dem hierarchischen Modell verhaftet ist, glaubt man zu wissen, um wen es sich bei denen handelt: nicht mal Unglückliche. Durch eine von der Fixierung auf die Höhe befreite Betrachtung könnte bereits die horizontale Fallhöhe aus der Abhängigkeit von der vertikalen befreit werden. Darüber hinaus würde die Reihe wieder offen gemacht, der Maßstab der Höhe, perspektivisch, durch einen anderen abgelöst, dieser wiederum durch einen anderen und so fort. Der paradoxe Vorteil: Jedes Unglück stünde für sich, genauer gesagt, keine Kategorie lappte auf das Feld einer anderen über.

Buffo-Versionen gab es freilich schon immer. Im Stehen fallen – ermäßigt: über die eigenen Beine stolpern – persifliert nicht nur die kategorische Notwendigkeit der Höhe, sondern zugleich das Konzept der Vorbedingung. Grundlos zu fallen, einfach nur so, das ist doch die Höhe! Über die fatalen Folgen eines solchen Sturzes weiß sogar die Unfallchirurgie zu berichten. Die Komik resultiert aus dem Fehlen des Schwungs, von dem man gewohnt ist, daß er dem Leben hinzufügt, was er sich sodann vom Leben nimmt. Prompt verschärft sich der Vollzug; der Drehbruch, wenn man nur eben in der Erde gescharrt hat und beim Fall das eigene Gewicht ohne Verlust in die Hebelkraft übergeht, ist berüchtigt.

Auch in Christa Reinigs „Ballade vom Blutigen Bomme“ wird eine Buffo-Version durchexerziert. Sie persifliert die Fallhöhe, indem sie sie wörtlich nimmt: „Wenn die schwere Klinge fällt/Spürt er, daß sie recht behält.“ Die Wahrnehmung ist archaisch – die Höhe ganz auf der Seite des Beils, die Metapher in den Sachverhalt zurückgekehrt –, die Erfahrung aber weist nach vorn. Das Spüren ersetzt beim tumben Raubmörder das Begreifen, so wie es das Begreifen auch bei denen ersetzen wird, die mit der Sache nichts zu tun haben. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Je weniger sie wissen, desto mehr werden sie spüren; von der Sache und von den Sinnen her gesehen. Auch von daher die Dringlichkeit, zugleich die Hoffnung, durch das rechte Verständnis kommendem Unglück zumindest gedanklich den Wind aus den Segeln nehmen zu können, so daß man weniger spürt; durch eine Umkehrung von Ursache und Folge, gewissermaßen, wobei das Begreifen an die erste, das Unglück an die zweite Stelle käme. Es träte nach wie vor ein, träfe aber nicht unvorbereitet. Womit wir bereits die Wucht der antiken Tragödie begründen und was dann den sogenannten Kollateralschaden so schreckensvoll macht – nennen wir es unscharf das Übergewicht des Sachverhalts gegenüber der Vorstellung –, das wäre hier aufgehoben. Das Unglück wäre weniger groß, seine Herrschaft wenigstens über das Begreifen gebrochen.

Daß es, in Gedanken beherrscht, fortan die Gedanken beherrschte, diese Erfahrung bleibt dabei außen vor.

2.

In ihrer Erzählung „Die Sintflut von Norderney“ erinnert Tania Blixen an das Projekt eines – nach dem Alten Testament, das dem Vater, und dem Neuen, das dem Sohn zuordnet ist – noch ausstehenden Dritten Testaments, in dem sich der Heilige Geist offenbart und mit dem die Trinität, man weiß nicht recht, historisch oder systematisch, erst vollendet wäre. Ein Kardinal, der sich ausgerechnet auf Norderney zurückzieht, um dieses dritte Testament zu schreiben, wird daran prompt gehindert: durch eine nur mit dem alttestamentarischen Begriff angemessen bezeichnete Überschwemmung, die an den Chancen zweifeln läßt, neben dem AT sagen wir als Heimstatt für Kampf und dem NT als für Heimstatt für Liebe eine eigene Heimstatt eben für den Geist zu schaffen. Was könnte letztere im Kern enthalten, wenn nicht die Aufhebung des Unterschieds zwischen Kampf und Liebe, auch des so wichtigen zwischen Groß und Klein, abstrakt zwischen Diesseits und Jenseits, als die sich Erleuchtung definiert und die zum Buddhismus längst so gehört wie zum Christentum der Glaube? Die Trinität hätte sich, wie nicht anders zu erwarten, als Dialektik herausgestellt, der Zauber des hoffnungsvoll Absurden, der ihr anhaftete, aber verflüchtigt; je nach religiösem oder philosophischem Blickwinkel stünde der dritte Schritt entweder am amorphen Anfang oder am erhabenen Ende des Verlaufs, wäre Ausgang oder Aufhebung. Da zum Dreischritt aber sowenig ein Viertes oder Fünftes paßt wie zum Entweder-Oder ein bloß Ähnliches oder Anderes, taugt er nicht für die vorausgreifende Suche nach einem Unglück, das eine andere Orientierung als die an der Höhe enthält und selbst wiederum eine andere Orientierung erlaubt. Allenfalls könnte der Platz der horizontalen Fallhöhe noch einmal bedacht werden: Folgt sie wirklich auf die vertikale und stünde, wenn überhaupt, an der zweiten Stelle der Dialektik, verwiese zwangsläufig also auf ein Drittes? Vielleicht ist sie ja der dritte Schritt, kann also vollständig bestimmt werden, sofern nur der zweite sinnvoll bezeichnet ist.

Dafür bietet sich die bürgerliche Innerlichkeit an. Sie sublimiert die Fallhöhe, löst sie von den Fakten ab, ohne ihre Geltung in Frage zu stellen – im Gegenteil –, und kann damit als Voraussetzung der horizontalen Fallhöhe fungieren. Die Horrorvorstellung des bürgerlichen Individuums ist ja nicht der Kummer, sondern die Willkür. Noch im horizontalen Fall wird das exemplarisch deutlich. Im Grunde ein kontinuierliches Schicksal, eine versachlichte Fortsetzung der feudalen Laune, ist er zugleich ein Hohn auf die Subjektivität, die sich ihr entgegengestellt hatte, ein Potlatch der Vernichtung von Sinn. Freilich wird er nicht mehr original erlebt; in seiner Reinform ist die Zerstörung von Sinn für die andern, die für die Bedeutung des Geschehens einen ‚Sinn’ haben, das Schicksal, als vorgeführtes, in seiner Ungreifbarkeit und zugleich Unmittelbarkeit würdigen können. Wer sich durch seine Subjektivität definiert, fühlt sich besonders beim Zuschauen bedroht. Hier kommt die exquisite Rolle zum Tragen, die die Subjektivität bei der Entstehung der Bedrohung spielt, die sie bekämpft; bedroht letztere vorzugsweise doch die Subjektivität, wäre also hinfällig, wenn es die nicht gäbe. Die Subjektivität wiederum entfaltet sich vorzugsweise auf der Metaebene, da, wo Empfinden und Erleiden, um zu existieren, keineswegs mehr paßgenau aufeinandertreffen, im Idealfall vielmehr einander gegenüberstehen, das eine als Beobachter des anderen. Diese Ebene muß versorgt werden, sonst existiert sie nicht. Das bürgerliche Individuum, das sich über sie definiert, muß sich daher unablässig anstrengen, um seinem Fall das Willkürliche zu nehmen, das es im vertikalen System als sein Klassenschicksal entdeckt hatte und das ihm im horizontalen nun in einer seltsam allgemeinen, weniger universalisierten, als skelettierten Form wiederkehrt, als anonyme Drohung, krude Tatsache; die wirkt wie der Inbegriff der Sinnlosigkeit, zugleich wie eine absurde Indienstnahme von Unfall oder Zufall, wie die Kolonialisierung eines bislang exterritorialen, wüsten Gebiets. Je mehr Subjektivität es dagegen mobilisiert, desto mehr hat es zu verlieren. Aus dieser Zwickmühle findet es nicht heraus: der Nichtbezug, der in der modernen Katastrophe, im ‚menschlichen Versagen’ technischer oder moralischer Art dramatisch zum Ausdruck kommt, muß kontinuierlich in Bezug umgewandelt werden, und das Paradigmatische der Kampfs, bei dem nicht nur die ganze Welt zur Bühne, sondern auch das Schicksal der anderen zum eigenen wird, betrifft konsequent nicht den Fall, vielmehr den Zufall. Es zeigt sich hier eine andere Facette der Tragik, geht es doch weniger um Verderben als vielmehr um den einzigartigen Tatbestand, daß, wie es im Epos heißt, „noch nie jemand so unglücklich war wie …“. Die innere Fallhöhe grenzt sich nicht nur von der bündigen Tragödie, sondern ebenso von den medial übertragenen Schreckbildern ab, in denen die Konfiguration von Leid nur mit Nachhilfe gelingt, in den zerdehnten „Bildern, die um die Welt gehen“, im sekundenkurzen Fokussieren von Menschen, die „alles verloren“ und doch „gar nichts damit zu tun haben“. Dem nicht etwa grundlosen, aber nur als Zufall erlebbaren Leid korrespondiert die Momentaufnahme; sie hebt die Sinnlosigkeit ans Licht. Das subjektive Leid dagegen kann vom Platz für die Darstellung und Erklärung nicht genug kriegen. Es vergegenständlicht sich in seinen Verästelungen; wenn es nicht wahrgenommen wird, ist es nicht, bis hin zur Umkehrung: daß es nur in der Wahrnehmung ist. „Wo ist das Problem?“ lautet denn auch die konsternierte Frage derer, die anders drauf sind.

Über den exklusiven Charakter der Subjektivität, die im bürgerlichen Bewußtsein einen ähnlichen Alleinvertretungsanspruch erhebt wie die feudalen Voraussetzungen der antiken Fallhöhe, soll hier nicht gestritten werden. Immerhin läßt sich auch so bis drei zählen, ausgehend von der äußeren, übergehend zur inneren Fallhöhe, endend bei der Horizontale, die der abendländischen Dramaturgie als der tiefste Fall des Subjekts gilt, es sei denn, es brächte sich aus eigenem Entschluß in den buddhistischen Modus und behielte noch in der Selbstaufhebung die geistige Oberhand. Dabei läßt sich nicht nur die starre Reihenfolge auflösen, sondern auch die historische Bindung jederzeit in Frage stellen. Schimmern nicht bereits in der alttestamentarischen Hiob-Episode die drei Erscheinungsformen des Unglücks durch: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gelobt“? Immerhin scheint die Verflüchtigung des Herrn zum bloß noch grammatikalischen Subjekt die Voraussetzung für die postmoderne Beweglichkeit der Prädikate zu sein, die sich in beliebiger Reihenfolge zu ein und demselben Tun arrondieren. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, daß der Weg von der antiken über die idealistische Fallhöhe zum kollateral bewirkten Fall sich nicht nur der Entwicklung sagen wir oberflächlich hin zum Technischen, damit einhergehend vielmehr der Freisetzung der Empfindung verdankt. Was wir jeweils wahr- und also tragisch nehmen, ist variabel nicht nur im Sinne von ‚historisch bedingt’, sondern weil die Empfindung sich emanzipiert hat. Je weniger verbindlich der Bezug zur Ursache ist, desto freier kann sie sich entwickeln. Der Grund für das lebhaft empfundene Leid ist dafür nicht mehr eindeutig zu fassen (und auch das wäre schon ein Grund für Kummer): Ist die Welt aus den Fugen, wie es in der Tragödie heißt, oder ist uns nur ihr Sinn abhanden gekommen? Heißt den Boden unter den Füßen verlieren, daß die Ordnung bedroht oder daß die Orientierung souverän geworden ist? Und wie kommen wir etwa zu der gewieften Einsicht, daß es auf uns nicht ankommt beziehungsweise, nun in einem weiteren Schritt, auf die Welt womöglich auch nicht? Ist hier noch Unglück im Spiel oder nur noch Durchblick? Die Grundfragen verschwimmen.

Wenn die Wahrnehmung mit allem, was daraus erwächst, auf der Seite des Betrachters, auf der Seite des Betrachteten bloß noch der Schreck ist, verliert das Unglück seinen Halt und wird fiktiv; es wird grenzenlos. So kann die Empfindsamkeit des Couch-Potatoes neue Maßstäbe für das Unglück setzen. Die Umstände des Erlebens assoziieren sich mit den Vorgängen auf dem Bildschirm dabei zu einem kontingenten Geschehen eigener Art, zu einem Fall von ungeahnter Höhe: Wenn das mich träfe, hier auf dem Sofa! Kommt es dagegen nicht auf das größtmögliche, sondern auf das wirkliche Unglück an, dann bedarf es einer Bedingung, die der klassischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung durch die Einheit der Person einen neuen, zeitgemäßen Ausdruck gibt: wer erlebt, muß auch erleiden. So ist das Unglück von zwei Seiten begrenzt, kann es doch nicht größer sein, als es der erlebt, der es erleidet; umgekehrt dessen Leid nicht größer, als er es erlebt. An dieser Forderung ändert nichts, daß die klassische Fallhöhe hierin nicht den modernen Standards genügt; es reicht, wenn einer für alle fällt, im Grunde reicht der Fall. Und es ändert auch nichts, daß beim horizontalen Fall das Erleben der Geschädigten gewissermaßen unter einer Kommunikationsblockade leidet. Ihr Erleiden ist ja nicht weniger blockiert, warum soll das Erleben es nicht sein. Auch wenn die Einheit der Person offenbar nur für die innere Fallhöhe gilt bzw. mit dieser zusammenfällt, muß sie als conditio sine qua non für alles Folgende angenommen werden, liefert sie doch den Maßstab für die mangelhafte Erscheinung des Leids, wie sie sich im horizontalen Fall kristallisiert. Dem Mangel wird zum wenigsten dadurch abgeholfen, daß als Ersatz für das blockierte Erleben andere ihre freie Empfindung zur Verfügung stellen, mag diese Freiheit auch in ungeahnte Höhen führen. Da die Gefühle des Couch-Potatoes so unübertroffen wie haltlos sind, da andererseits der Verzicht auf die haltlose Empfindsamkeit exakt jene depravierte Sachlichkeit hervorbringt, für die der Kollateralschaden ein hervorragendes Beispiel ist, ergäbe sich als perspektivische Lösung nur der Verzicht: Nichts erleben, was man nicht selbst erleidet.

Auch auf die Informationsfrage, wie das Unglück von denjenigen erlebt wird, die es ereilt, ist längst die transzendentale Antwort gegeben: Unser Erleben – kantisch: nach Grad und Art – ist es nicht. Eine ebensolche Scheinfrage wie die aus der Erlebnisperspektive gestellte nach den Empfindungen des Opfers ist ferner die sich immer wieder aufdrängende Frage nach der Wirklichkeit des Leids, das dem abgehobenen Erlebnis korrespondiert. Existiert es überhaupt? Etwas muß doch daran sein. Ist es vielleicht ganz und gar im Erleben aufgegangen, letzteres hätte sich als das eigentlich steigerungsfähige Leid herausgestellt? So sehr das Erleben durch die ihm eigene Authentizität imponiert, so rasch diskreditiert es sich durch die Abwehrstrategie, mit der ihm beizukommen, ja die noch wie ein Teil von ihm ist und das bloß Fiktive des enormen Aufwands entlarvt: Muß ich mir das antun? Da stelle ich den Fernseher doch lieber ab. Auch ob das Mitgefühl dem Mitmenschen gilt oder der Angst um sich selbst entspringt, gehört noch in den Bereich des Erlebens und ist letztlich egal. Was als Leid dem Erleben zugrunde liegt, könnte sinnvoll allein als Spaltung beschrieben und als solche gewissermaßen dingfest gemacht werden. Das Sinnlose, Zufällige, Horizontale dessen, was unter den Bedingungen der Spaltung erlebt wird, wäre ein Reflex dieser Spaltung; dennoch kein Fake, da der Emotionalisierung des Erlebens, dem kein Erleiden entspricht, ja ein emotionsloses Zufügen von Leid, Stichwort Kollateralschaden, an die Seite tritt.

3.

Der ebenso vermessen wie kindlich anmutende Versuch, dem Unglück durch Ersinnen einer neuen Grundlage vorauszueilen, hat also durchaus ein Ergebnis gebracht: Die alten Grundlagen müssen geklärt werden. Die innere Fallhöhe liefert die Voraussetzung für den horizontalen Fall. Sie setzt die Empfindung frei, wodurch der Fall einerseits schwindelnde Höhen erreicht, andererseits uneindeutig wird. Der vertikale Fall ist zugleich real und symbolisch, das eine begrenzt das andere. Form und Inhalt sind an ihm so wenig zu unterscheiden wie im übrigen Unglück und Schuld, ja Täter und Opfer. In der Evidenz des vertikalen Falls scheint noch das Geschehen durch, das die Vorlage des Begriffs ist. Der vom Dolch Getroffene fällt. Die Höhe, Sinnbild, ja Inbegriff sozialer Differenz, ist ein physikalischer Teil des Falls, Moment der analytischen Zerlegung ebensowohl wie der anschließenden Sinngebung; oben stehen und fallen sind Teil ein und derselben Definition.

Die entfremdende Zufälligkeit des horizontalen Modells ist dagegen so schlüssig nicht, wie es durch seinen strengen Bezug zum vertikalen den Anschein hat. Es ist eben radikal aus der vertikalen Perspektive gedacht. Was in ihm durchscheint, ist die Erfahrung der inneren Fallhöhe, nicht das versachlichte Geschehen, das es fassen soll. Erleiden und Erleben sind hier bereits doppelt getrennt: jeweils andere beziehen sich auf etwas anderes. Von daher der seltsam tautologische Effekt, der zugleich etwas vom Draufsatteln hat, als griffe ein und dieselbe Strategie auf unterschiedlichen Ebenen. Das horizontale Unglück ist nicht nur sinnlos in der Weise, wie etwas, dessen Gründe man noch nicht erforscht hat, sinnlos ist; es ist seinem Wesen nach sinnlos, dergestalt daß auch die, die es ereilt, keinen Sinn haben, dafür zum Inbegriff von Sinnlosigkeit werden können. Das ist etwas anderes als das „Wir haben nichts getan, wir können doch nichts dafür“, das zur Bestätigung herangezogen wird. Der horizontale Fall ist das blinde Schicksal in der Maske des Verstandes oder vielmehr umgekehrt, der Verstand in der Maske des Schicksals. Was daran ‚unsittlich’ wirkt, die Ambiguität des Horizontalen als Merkmal gleichermaßen des Schicksals wie des von ihm Getroffenen, auch die Zweideutigkeit der Kontingenz als blinder Zustand und erhellende Diagnose, die Identität von Objektivität und Zynismus also, zeigt an, daß das Subjekt-Objekt-Verhältnis eine Metaebene erreicht hat, auf der es ins Unverständliche kippt. Derlei Mystifikationen kommen nur zustande, wo es um verkappten Selbstbezug geht. Für das Ich ist es abgrundtief traurig, wenn der Fall – horizontal ist; es ist ein Widerspruch in sich, folglich zerreißend. Für alle andern, da sie in dieser Rolle kein Ich sind, ist es logisch; erst die nachträgliche Auffüllung mit Ich-Inhalten macht es zum Skandal. Die Vorstellung, daß es auf das Ich so wenig ankommen könnte wie auf die, denen es den horizontalen Fall bescheinigt, ist ganz und gar von den Schrecken der Fallhöhe imprägniert. Daß womöglich auch die Welt nicht zählt – „Wenn nicht einmal wir, wie dann die Welt?“ –, oder sich in Gleichmut und Gleichgültigkeit zu üben, als wäre man selbst die Welt – und sie so, wie man ihr unterstellt –, gehört bereits in den Bereich der Abwehrstrategien, die trösten sollen, anstatt zu helfen, unglücklich zu sein.

Der so abwiegelnd wie aufstachelnd bezeichnete Kollateralschaden hat hier exemplarische Bedeutung. Er wird zum Skandal durch den Rigorismus, mit dem die gewöhnliche Herrschaft der Abstraktion über die Person auch auf der Begriffsebene durchgesetzt wird. Die Person verschwindet. Der Schaden ist sachlich begründet, also ist auch die Person, den sie trifft, als Sache zu behandeln. Eine solche Sprache, die in der Darstellung leugnet, was in der Sache erst vernichtet werden muß, gilt als zynisch. Insofern sie die normale Leistung der Sprache, Sachliches als Persönliches vorzustellen, drastisch verweigert, scheint zugleich eine wunderbare Ehrlichkeit auf, so als ließe sich hier einen Schritt vorankommen. Um die Frage nach der Hardware des Erlebens noch einmal zu stellen: Stellt der Kollateralschaden nicht nur ein besonders zynisches Bündnis dar zwischen den Fakten und den Personen, die ihnen eine Sprache geben, sondern verkörpert auch einen Sachverhalt, der so ist, wie er ist? Könnte man ihn vom Zynismus durch eine korrekte Zuordnung also befreien? Da Urteile und Klassifizierungen stets im Verdacht stehen, nutzlose Abwehrgesten zu sein, wäre das im Sinne unserer Unternehmung.

Ein Schaden ist in der Umgangssprache undramatisch und behebbar; er arbeitet nicht wie eine Infektion, eine schwelende Wunde, er expandiert nicht und hat keine Folgen, die über ihn hinausgehen; er selbst ist bloß eine Folge. Archaisch, aber durchaus zutreffend ausgedrückt: es ist keine Rache zu befürchten. So gesehen ist der Schaden die Utopie eines beherrschbaren Unglücks. In der zeitgenössischen Sozialpsychologie ist dieser Begriff dagegen mit allem gefüllt, wovon er sich tröstlich unterschied. Ein Schaden – wieder führt der Weg vom Objekt zum Subjekt zurück – ist ebenso wie eine (Persönlichkeits-)Störung nicht ein isolierbarer Teil, sondern eine konstitutive Befindlichkeit des Ganzen. Daraus folgt eine in doppelter Hinsicht fatale Prognose, steht mit der Klassifizierung des Ganzen als Abweichung doch die Geltungs- oder Machtfrage ins Haus, die Diskurs- oder Interpretationshoheit in Frage.

Kollateralschaden – der gedankliche Umweg macht den Blick frei – bedeutet nicht bloß den in Kauf genommenen Personenschaden, er spiegelt die Inkaufnahme; die Personen, deren Schaden in der sachlichen Erwägung kein Gewicht hatte, kommen in dem Begriff nicht mehr vor. Aber ganz so statisch, wie es erscheint, ist nicht einmal diese Schadensversion. Der dynamische Übergang zwischen zufälligen Opfern und „lebenden Schutzschilden“, etwa, deutet auf Dynamik: es arbeitet in ihr. Noch die sachlichste Entscheidung, so sie Personen in Mitleidenschaft zieht, muß sich offenbar nach der Personseite absichern, und sei es im zugespitzten Sinn, daß aus Nichtgemeinten oder Nicht-einmal-Gemeinten potentielle Täter gemacht werden. Der konstitutiven Bedeutung des Schadens, als Störung, kommen wir damit näher. Es geht um die persönlichen und sachlichen Anteile des Subjekts, die, in einer Bewegung, so undramatisch und unvermeidlich wie Ebbe und Flut, das Subjekt durch seine Hervorbringung beschädigen beziehungsweise durch seine Beschädigung hervorbringen. Beides ist sowenig zu trennen wie die Unbeteiligten von der strategischen Maßnahme, die sie trifft.

Dies wäre die nichtzynische Bedeutung des Kollateralschadens, die auf das Angrenzende abhebt – Stichwort Metonymie –, nicht auf irgendeine der aufgeladenen Implikationen der Beteiligung oder Nichtbeteiligung: Macht oder Ohnmacht, Unschuld oder Schuld. Es geht um die ‚ontologische’ Variante des Schadens, die so dynamisch ist wie der dialektische Prozeß, nur nicht entwickelnd, sondern zersetzend; für das Verständnis des horizontalen Unglücks lehrreich. Die Ursprungsfrage nach einer Prävention zumindest auf der gedanklichen Ebene, nach den Möglichkeiten einer Regulierung des Unglücks durch die Weigerung, seine Definition zu akzeptieren, hat sich ja längst in die gegenteilige nach der Bedingung der Möglichkeit von Unglück verkehrt. Wem daran liegt, daß dem empfundenen Unglück ein wirkliches Unglück entspricht, der sollte über den eigenen Schaden trauern, wie er im übersachlichen „Kollateralschaden“ in naiver Aufrichtigkeit zum Ausdruck kommt: so als wäre es der Schaden anderer. Wobei es schwerfiele, der Trauer eine andere als analytische Qualität zuzuerkennen. Empathie spielt hier keine Rolle. Auf die Aufwertung des längst zur unerreichbaren Utopie avancierten Unglücks anderer käme es nicht an; das wäre nur das Gegenstück zum Kleinreden. Andererseits, sollen wir mit denen fühlen, die den sprichwörtlich harten Job machen, oder mit uns, die wir vor dem Bildschirm leiden? Nicht darum geht es, dem Selbstentwurf des idealistischen Subjekts eine äußerste Rechtfertigung abzuzwingen. Der systematische Rückbau des hypertrophierten Subjekts wäre vielmehr die Perspektive. Diese kann nur als regulative Idee hochgehalten werden. Was sie an Wirklichkeit enthält, fällt aus dem Verständnis logischerweise heraus, bleibt dem realen Leben vorbehalten. Die Einheit von Erleiden und Erleben ist durchaus wörtlich zu nehmen.



* Als ich in Villandry, einem der berühmtesten Gärten Frankreichs, der der Renaissance gewidmet ist, einen Zugang oder Anfang suchend, auf der Grenze zwischen bebautem und unbebautem Land, gewissermaßen zwischen Baum und Borke herumstolperte und mich unwillkürlich an den vertrauten Wald hielt, der bis an den Garten heranreichte, wurde ich von einer Stelle angezogen, die noch in einer normalen Umgebung als unordentlich aufgefallen wäre und bei der ich im ersten Moment an einen flüchtig umzäunten Ameisenhaufen, einen für Kompost eingerichteten Abfallplatz dachte; geblendet von der detaillierten Pracht des Gartens mit seinen thematisch geordneten Abteilungen, konnte ich mich nicht orientieren. Mich befremdete der Verzicht auf Illusionismus und Täuschung noch in Sichtweite des Gartens; hatte der veredelnde Elan an seiner formalen Grenze haltgemacht, so als könnte man über diese nicht hinausblicken und als gehörte nicht auch dieser Blick nach draußen noch zum Anblick des Innern, hatte er nur bis hierhin und nicht weiter gereicht? Beim Näherkommen wurde der Eindruck merkwürdigerweise immer undeutlicher, auch trübseliger: Welches armselige Stück Restnatur hatte man an einer Stelle umzäunt? Es war ein Schößling, das Stämmchen krumm, die spärlichen Blätter angefressen und verpilzt, unmöglich zu sagen, ob im Entstehen oder im Vergehen, kurz eine richtige Eiche. Eine nicht weniger unauffällige Tafel oder ein Stein kennzeichnete sie als eine Eiche aus Buchenwald; Mithäftlinge hatten sie zum Gedenken an ihren Genossen Villandry, einen Dreißigjährigen, der sich dem Widerstand angeschlossen hatte und in Buchenwald umgekommen war, hierher gebracht; wann, diese Frage wurde nicht beantwortet. Dieser Gedenkort – mehr eine Stelle als ein Ort – stand am Anfang meines Rundgangs durch den Garten, der nicht nur rundum bezaubernd ist, sondern ein Dokument selbstbewußter Gestaltung, durchdrungen vom Vertrauen in den Sinn der eigenen Unternehmung, und gewiß den größtmöglichen Gegensatz zu dem Schicksal verkörpert, das die KZs für die Deportierten bereit hielten. Der Gegensatz begleitete mich als eine Aufforderung, das nicht Zusammenpassende zusammenbringen, was, je mehr es abstrakt gelang, desto gründlicher am Konkreten scheiterte. In das Unvermögen, mit der Sache fertig zu werden, schlich sich der Begriff Fallhöhe ein und begleitete mich, solange ich auf dieser Reise unterwegs war. Mit dem Folgenden hat dieser Anlaß nur noch wenig zu tun, es geht um eine rein gedankliche Arbeit: wie immer um das Beseitigen selbst aufgerichteter Hindernisse. Kurz vor dem Abschluß meiner Überlegungen fiel mir ihr Auslöser wieder ein, als ich, des zauberhaften Herbstwetters und der Kraniche wegen, „Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ besuchte und mich, um den zahlreichen Besuchern zu entgehen, auf den Familienfriedhof flüchtete. So winzig er war, hatte er doch Platz für gleich mehrere Gedenksteine für einen Herrn von Ribbeck, der, den Nationalsozialisten schon immer abhold, bei einem konkreten Zusammenstoß aus seinem stolzen Herzen keine Mördergrube gemacht und in Sachsenhausen dafür mit seinem Leben bezahlt hatte. Da fiel mir wieder ein, wie ich auf die Fallhöhe gekommen war.
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