Erhebet euch Geliebte, wir brauchen eine Tat!

Zu den studentischen Protestaktionen im Herbst 2009

Streifzüge 50/2010

von Erich Ribolits

[Dieser Text ist eine Erweiterung des in der Druckausgabe rschienenen und wird vom Autor weiter ausgebaut. Kommentare sind willkommen.]

Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!
Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
 Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
ich muss es anders übersetzen,
wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
 Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
 Bedenke wohl die erste Zeile,
dass deine Feder sich nicht übereile!
 Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte steh’n: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe
schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
 Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rat. 
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“
Johann Wolfgang Goethe, Faust

Im WS 2009/10 haben Studierende fast aller österreichischer Universitäten, sowie Studierende in vielen anderen europäischen Ländern und in Nordamerika durch Hörsaalbesetzungen, Demonstrationen und andere Aktionen auf die ihrer Meinung nach gegebenen und voranschreitenden bildungsfeindlichen Bedingungen an Universitäten aufmerksam zu machen versucht. Diese Protestaktionen wurden von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zwar sehr unterschiedlich wahrgenommen und kommentiert, fanden aber insgesamt ein äußerst breites Echo. Sehr erstaunlich war dabei allerdings, dass von den an österreichischen Universitäten tätigen Bildungswissenschafter/innen nur vereinzelt Stellungnahmen zu den Protesten und ihren Zielsetzungen abgegeben wurden. Aktiv bei den Aktionen in Erscheinung getreten ist nahezu niemand aus der hiesigen Szene der Bildungstheoretiker/innen. Die Zurückhaltung der „offiziellen Hüter/innen der Bildungsidee“, erscheint deshalb bemerkenswert, weil sich die Aktionen der Studierenden von allem Anfang an nicht bloß gegen formale Hindernisse des Studierens wie Studienplatzbeschränkungen, unzureichende Lehrveranstaltungsangebote oder mangelhaft ausgestattete Hörsäle gerichtet hatten. Der Protest fokussierte viel mehr die fortschreitende Ausrichtung der Studien an ökonomischen Verwertungsvorgaben und ein damit verbundenes Untergraben von Studienbedingungen, die Bildung im Sinne einer umfassenden Förderung kritischer Individuen ermöglichen. Damit wurden Kritikpunkte angesprochen, die durchaus Reaktionen von Bildungswissenschafter/innen erwarten hätten lassen.

Eine der Hauptforderungen der demonstrierenden Student/innen lautete „Bildung statt Ausbildung“ und schloss damit an prominente bildungstheoretische Diskussionen an. In den Veranstaltungen, Aussendungen und Publikationen im Rahmen der Protestaktionen wurde immer wieder thematisiert, dass Lernprozesse, die dem Ziel verpflichtet sind, nicht bloß funktionierende Gesellschaftsmitglieder heranzuzüchten, sondern Selbstbewusstsein und Mündigkeit zu initiieren, andere strukturelle Bedingungen erforderlich machen, als sie aktuell an den hiesigen Universitäten herrschen und durch die Vorgaben des Bolognaprozesses noch vorangetrieben werden. Über weite Strecken ging es somit um Themen, die ganz offensichtlich mit Überlegungen und Forschungsbereichen der Bildungswissenschaft korrelieren. Zudem konnte die Protestaktion gewissermaßen selbst als Beleg dafür genommen werden, dass sich die beteiligten Studierenden – indem sie sich mit der Rolle von passiven Konsument/innen der „Ware Wissen“ nicht zufrieden geben, sondern die Bedingungen ihres Wissenserwerbs kritisch hinterfragen – im Sinne des bildungstheoretisch legitimierten Zieles der reflektierten, sich selbständig ihres Verstandes bedienenden Persönlichkeit, gewissermaßen als Adepten der Bildung outen.

Konsequenzlose Bildungstheorie…

Die noble Zurückhaltung, derer sich österreichische Bildungstheoretiker/innen im Zusammenhang mit den Student/innenstreiks befleißigten, war allerdings durchaus kein Zufall, in diesem Verhalten spiegelte sich letztendlich nur ein Grundwiderspruch wider, der für bürgerliche Bildung symptomatisch ist. Die angesprochene Abstinenz machte bloß kenntlich, was den bürgerlichen Bildungsbegriff seit seiner Etablierung kennzeichnete: ein Idealisieren der auf Wissenserwerb aufsetzenden Fähigkeit zur Reflexion und Kritik bei gleichzeitiger kategorischer Ablehnung jeder aus der Reflexion resultierenden Aktion. Bildung – das begriffliche Kürzel für jene Qualitäten, die die Angehörigen der bürgerliche Klasse für ihre Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung befähigt und ihnen zugleich das Selbstbewusstsein zum Kampf um die Überwindung der Feudalordnung vermittelt hatte (vgl. Adorno 1959, 98) – hatte in der Phase ihres Entstehens eine durchaus gesellschaftspolitisch-progressive Konnotation. Als Korrelat der Aufklärung war sie untrennbar mit dem Ideal der Überwindung der Herrschaft des Menschen über den Menschen verbunden. In jenem Bedeutungsgehalt allerdings, mit dem der Bildungsbegriff aus den gescheiterten bürgerlichen Revolutionen Mitteleuropas hervorgegangen ist, ist er bloß noch Ausdruck des realpolitisch abstinenten und abgehoben räsonierenden Citoyens. Seine Potenz als Triebkraft konkreter gesellschaftlicher Veränderungen ist ihm genau von denen (wieder) genommen worden, die ihn dafür benutzt hatten, um für sich eine besondere gesellschaftliche Stellung zu reklamieren. Was als Bildungsbegriff von den Ideen der Aufklärung übrig blieb, nachdem der Versuch der Angehörigen des Bürgertums gescheitert war, durch einen emanzipatorischen (Kraft‑)Akt die Machtverhältnisse umzuwälzen, korreliert mit einem Untertanengeist, der sich vom gesellschaftlichen Status quo verächtlich distanziert und sich ihm zugleich widerstandslos unterwirft. Es ist kein Zufall, dass Bildung ein spezifisch deutschsprachiger Begriff ist, dem ein Äquivalent in anderen Sprachen weitgehend fehlt. Im Bildungsbegriff spiegelt sich eine in dieser Form nur in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas entstandene geschichtliche Situation wider: die politische Schreckstarre der bürgerlichen Klasse nach ihrer (vorläufigen) Niederlage.

In der Form wie er uns heute bekannt ist, entstand der Bildungsbegriff im deutschen Sprachraum um 1800 (Vgl. Lohmann 2004, 1); wesentliche Einflussfaktoren für seine Entwicklung waren Aufklärung und französische Revolution. Überall in Europa setzten ab dem 17./18. Jahrhundert Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums ein, die in Bemühungen um eine Abschaffung der Feudalgesellschaft und eine Revolutionierung der politischen und ökonomischen Verhältnisse mündeten. Im Gegensatz zum Bürgertum in England oder Frankreich, war jenes in den deutschen Ländern Mitteleuropas allerdings zu schwach, um tatsächlich eine Umwälzung der Verhältnisse zu erzwingen. Für einen Sieg in der offenen Konfrontation mit dem Absolutismus fehlte sowohl die ökonomische als auch die soziale Potenz. Zur politischen Schwäche gesellte sich das Entsetzen über den Terror, der mit der französischen Revolution verbunden gewesen war. Diese Situation war die Grundlage dafür, dass, auf den Ideen der Aufklärung aufsetzend – in ersten Ansätzen von Herder, später von Schlegel, Kant, Schiller, schließlich von Humboldt und Schleiermacher – der spezifisch deutsche Bildungsbegriff entwickelt wurde (Vgl. Bollenbeck, 1994, 119ff), der zwar eine gewissen Kritik gegenüber dem absolutistischen Staat in sich barg, aber jegliche revolutionäre Umwälzung von vornherein ablehnte. Das Ziel war eine gesellschaftliche Reform durch fortschreitende Bildung – über eine entsprechende Ausrichtung des Schulwesens und des Wissenschaftsbetriebes an den Universitäten sollte es zu Veränderungen der politisch-ökonomischen Bedingungen im Sinne eines modernen bürgerlichen Staates kommen. Die unter dem Begriff Bildung subsumierte Einwirkung auf die heranwachsende Generation sollte die Menschen reif dafür machen, eine neue, nach vernünftigen und nicht nach überkommenen-traditionellen Regeln gestalteten Gesellschaft zu verwirklichen. Der Gründungsmythos des modernen Bildungsbegriffs bestand in der Hoffnung – wie es Georg Lukács unter Bezugnahme auf Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen nicht ohne Ironie formuliert hatte – die revolutionären Ziele ohne Revolution erreichen zu können (ebd. 137).

Dass der Bildungsbegriff sich nur in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas herausbildete, hängt aufs Engste mit dem dortigen Misslingen der bürgerlichen Machtübernahme zusammen. Wo den Veränderungen der Machtverhältnisse durch revolutionäre Umwälzungen tatsächlich nachhaltige Erfolge beschieden gewesen waren, wie z.B. in England und Frankreich, wäre ein Aufrechterhalten der Idee einer Gesellschaft aufgeklärter, „ohne Status und Übervorteilung“ (Adorno 1959, 97) zusammenlebender Menschen kontraproduktiv gewesen – auch die sich nunmehr etablierende bürgerliche Form von Herrschaft wäre damit ja infrage gestellt gewesen. Dagegen konnte die bürgerliche Klasse in den deutschen Ländern das in weiterer Folge im Bildungsbegriff zusammengefasste Erbe der Aufklärung nicht so einfach fallen lassen. Nachdem ihr Kampf um politische Emanzipation nicht von Erfolg gekrönt gewesen war, wurde das Aufrechterhalten der Idee des aufgeklärten Individuums als Identität stiftende Größe für sie umso wichtiger. Allerdings blieb ihnen, aufgrund ihres Unvermögens eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse erzwingen zu können, nichts anderes übrig, als den sich etablierenden Bildungsbegriff frei von jedem konkreten politischen Engagement zu fassen, Bildung als (bloße) Geisteskultur dagegen aber umso mehr zu idealisieren. Selbstbefreiung wurde zu einer unabhängig von der konkreten gesellschaftlichen Realität existierenden Möglichkeit des Subjekts erklärt und Bildung in den privaten, quasi außergesellschaftlichen Raum verbannt. Die Hoffnung auf eine bessere Welt – der Nährboden der Bildungsidee – wurde individualisiert und zur Selbsterlösung umgedeutet. (Vgl. Foerster 2009, 22ff) Aus der Vorstellung von Bildung als Gesellschaft verändernde Kraft wurde der Bildungsbürger – einer Karikatur der ursprünglichen kämpferischen Idee.

Wie Lohmann (2004, 5ff) darlegt, war der moderne (deutsche) Bildungsbegriff nie nur einseitig an der Vermittlung ökonomisch verwertbarer Fertigkeiten und Kenntnissen ausgerichtet, er zielte immer zugleich auf die Entwicklung einer spezifischen Gesinnung. Er soll gleichermaßen der Entwicklung des auf seinen Vorteil bedachten bürgerlichen Wirtschaftssubjekts und des von demokratischem Gemeingeist beseelten Staatsbürgers dienen. Mit Kenntnissen und Fertigkeiten wird angesprochen, „was für den produzierenden, Handel und Gewerbe treibenden, Gewinn erwirtschaftenden einzelnen Bourgeois (sowie – in abgestufter Form – für die bei ihm beschäftigten abhängig Erwerbstätigen) allgemein von Nutzen sein oder werden könnte. Kenntnisse und Fertigkeiten repräsentieren innerhalb der Bildungskonzeption gewissermaßen die neue Ökonomie und Kultur der angestrebten modernen bürgerlichen Gesellschaft“ (Ebd. 6f). Staatsbürgerliche Erziehung soll den Boden für die angestrebten neuen ökonomischen Verhältnisse bereiten und sie regulieren – hier ist der Citoyen als Träger der neuen, bürgerlich-demokratischen politischen Ordnung angesprochen. Die beiden Aspekte des Bildungsbegriffs greifen ineinander und zielen gleichermaßen auf die Beeinflussung von Subjekten im Sinne bürgerlicher politisch-ökonomischer Verhältnisse.

Der Bildungsbegriff wurde damit zwar nicht dem gesellschaftlichen Status quo untergeordnet – die bürgerliche Gesellschaft war zum Zeitpunkt seiner Entwicklung ja noch lange nicht zu ihrer (völligen) Entfaltung gelangt. Der Förderung des selbstbestimmten Individuums, das sich den Zumutungen jedweder auf ihn wirkender Macht entgegenstellt, wurde er von jenen, die seine in weiterer Folge bestimmende Ausformulierung vorgenommen hatten, aber dennoch nicht verpflichtet. Seine Gestalt gewann der Bildungsbegriff durch die Bezugnahme auf die – in der Phase seines Entstehens um 1800 erst als Vorentwurf vorhandene – bürgerliche Ausprägung von Herrschaft und Macht. Als Folge der Tatsache, dass er die Grenzen der in seiner Entwicklungsphase bestehenden Machtstrukturen überschritt, haftet dem Bildungsbegriff bis heute ein herrschaftskritischer Nimbus an, tatsächlich war er allerdings nie an einer Überwindung von Herrschaft als solcher ausgerichtet, sondern immer nur dafür da, um einer neuen – eben der bürgerlichen – Form von Herrschaft den Boden zu bereiten.

Dies zu verstehen setzt voraus, im Sinne von Foucault Macht nicht ausschließlich als ein Prinzip der Repression und Zerstörung zu begreifen, sondern sie vor Allem unter dem Aspekt der Zurichtung und Produktion von Verhaltensweisen wahrzunehmen. Macht artikuliert sich nach Foucault in den Formen in denen sich Individuen zueinander und zu sich selbst verhalten. Sie bestimmt, in welcher Form Beziehung zwischen Individuen, Gruppen und Institutionen als adäquat gelten, und prägt auf diese Art das Verhalten der Menschen grundlegend. In diesem Sinn beschreibt Foucault in seinen späteren Arbeiten Macht als Führung (gouvernement). Führung – und damit Macht – meint in seinem Sinn, auf andere derart einzuwirken, dass ihnen nur bestimmte soziale Verhaltensweisen als möglich erscheinen. Die bürgerliche Form des Regierens, wie sie sich ab Ende des 18. Jahrhundert zu entwickeln begann, besteht nach Foucault nun in einer spezifischen Fokussierung auf das Individuum – letztendlich in einer „Führung durch Individualisierung“. In ihrem Text „Do We (Still) Need the Concept of Bildung?“ nehmen Masschelein und Ricken (2003, 144) in diesem Zusammenhang Bezug auf ein Zitat Foucaults: „Individuality is one of the effcts of a specific modern power apparatus, which in fact produces idividuals“. Und sie folgern, dass – da die Anrufung des souveränen Subjekts sowie die Förderung seiner individuellen Entfaltung und Weiterentwicklung den Kern des Bildungsbegriffs darstellt – es letztendlich genau dieser ist, der die Etablierung der in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas revolutionär nicht erreichten bürgerlichen Ausprägungsform von Macht beförderte. Die parallel mit der Führung durch Individualisierung entstehende Bildungsidee präsentierte sich zwar als kritisches und emanzipatorisches Unternehmen, das die Selbstbefreiung des Menschen idealisiert, tatsächlich implizierte der für die Bildungsidee bestimmende Gedanke der individuellen Selbstvervollkommnung allerdings nichts anderes als eine machtförmige Indienstnahme der Individuen. Sie werden durch den das bürgerliche System definierenden Rekurs auf den „Wert“ der durch ihre individuelle Selbstentfaltung generiert wird, zu konformen Verhalten gebracht.

Wie auch Heintel (2009: 117) schreibt, ist das Hervorstreichen des „Ich“, in der uns bekannten pointierten Form, eine Erfindung der europäischen Neuzeit. Das Ich verdankt seine Entstehung zum einen der protestantischen Vorstellung der „Freiheit des Christenmenschen“ – die absolute Autorität der Kirche wurde gewissermaßen abgelöst vom „moralischen Ich“, als einer quasi souveränen Instanz innerhalb einer Person die permanent zum Hinterfragen des jeweils eigene Verhalten im Sinne ,besten Wissens und Gewissens‘ auffordert. Zum anderen korreliert die Entstehung der Vorstellung des Individuums, das ,an sich selbst arbeiten‘ kann und ,aus sich etwas machen‘ kann, mit der im heranwachsenden Kapitalismus auftauchenden Notwendigkeit, Konkurrenz als Steuerungsmittel bezüglich Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit von Arbeitskräften einzusetzen. „Der Unterschied zu anderen wird wichtig, und muss ,selbstverwaltet‘, bzw. erst hergestellt werden. Eher kollektiv organisierte Gesellschaften sorgen von sich aus dafür, wo Personen ,stehen‘; es ist nicht primäre Aufgabe der Individuen, sich ,hervorzutun‘ und sich damit in Position zu bringen. Es braucht nicht näher ausgeführt werden, dass damit die Individualisierung Wesen und Substanz des Bürgertums schützt und befördert (nach Hegel der ,formelle Stand‘, der seine Existenz und Macht primär seiner Tätigkeit, nicht der Natur oder Gott ,verdankt‘).“ (Heintel 1009: 117)

Auf Grundlage des Foucault’schen Machbegriffs arbeiten Masschelein und Ricken heraus, dass die Definition des Lebens als „dynamic, rather than fixed or defined, endless process of self-development“ (ebd. 147) ein wesentliches Element zur Etablierung einer Gesellschaft gewesen sei, in der Menschen als erhaltenswerte und strategisch aufzurichtende „Humanposten“ des (bürgerlichen) Staates betrachtet werden. Die per Definition gegebene Unabschließbarkeit von Bildung impliziert die Möglichkeit, in die individuelle Selbstvervollkommnung „fördernd“ – im Sinne von „regulierend“ – einzugreifen. Die (von Foucault so bezeichnete) Pastoralmacht, die das Subjekt fokussiert und dieses permanent aufruft, sich selbst unter der Perspektive einer unbestimmten, stets als besser imaginierten Zukunft weiter zu entwickeln, wird zum grundlegenden Prinzip bürgerlicher Staatsführung. „Macht“ okkupiert das Leben des Einzelnen indem dieser – durch pädagogische Einwirkung – in seinen individuellen Versuchen der vervollkommnenden Selbstführung geführt wird. (Vgl. Lüders 2007, 12)

Die konkrete bildungspolitische Entwicklung – die Organisation der Wissensvermittlung und das gesellschaftliche Umgehen mit Wissen – wurde durch den sich hierzulande etablierenden Bildungsbegriff in weiterer Folge kaum beeinflusst, sie nahm im wesentlichen denselben Gang, wie in jenen Ländern, in denen die Bezugnahme auf diesen Begriff nicht möglich war. Allerdings wurden dergestalt die Weichen dafür gestellt, dass Bildung zu jenem Zerrbild verkommen konnte, das Adorno später als „sozialisierte Halbbildung“ geißelte. Die Reduktion der Bildungsidee zur schöngeistigen Pflege der Kritik bei gleichzeitiger Abkoppelung von jedweder konkreten Einmischung in gegebene Herrschaftsverhältnisse ermöglichte in der Folge zweierlei: Zum einen konnte sie für das Bildungsbürgertum weiterhin die Legitimation dafür abgeben, sich besser als jene zu dünken, die nur zum bloßen Funktionieren in Arbeitswelt und Gesellschaft „ausgebildet“ sind. In diesem Sinn wurde Bildung zum „Leitmotiv derjenigen, die von den Ausdünstungen der proletarischen Existenz nicht betroffen waren und damit die griechische Scheidung von Muße und Denken einerseits und banausischer Zweckmäßigkeit und Sorge um die Lebensführung andererseits“ (Hans-Jochen Gamm, 1979, 90) fortsetzen konnten. Und zum anderen konnte sich Bildungswissenschaft trotz revolutionärer Herkunft und vordergründig reklamierter kritischer Konnotation des Bildungsbegriffs weitgehend problemlos im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft entfalten. Tatsächlich ist die im deutschen Begriff festgehaltene Bedeutung von Bildung Ausdruck einer zutiefst konservativ-antirevolutionären Haltung und stellt schlichtweg genau das Gegenteil jener Idee dar, die anfänglich so attraktiv für das nach Macht strebende Bürgertum war: Der Vorstellung, es wäre möglich, eine auf unhinterfragt geltenden Prämissen beruhende gesellschaftliche Ordnung durch reflektierte Erkenntnis für Alle überwinden zu können.

…ist konsequente „Aufklärung“

Die der bürgerlichen Bildung immanente Präferenz für die konsequenzlose Reflexion und die Skepsis gegenüber der politischen Aktion sind aber offenbar nur zum Teil das Resultat nachrevolutionär-historischer Entwicklung, zu einem gewissen Grad waren sie von vornherein im Gedankengut der Aufklärung angelegt. So lässt sich zum Beispiel auch im wohl prominentesten Text zur Charakterisierung des gegen Aberglaube und Absolutismus gerichteten Denkens, in Immanuel Kant’s „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ – verfasst lange vor den bürgerlichen Revolutionen und ihrem Scheitern in den deutschsprachigen Ländern Europas – unschwer eine derartige Haltung erkennen. Kein Zitat dient häufiger als Begründung für pädagogische Bemühungen als jenes „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, das Kant 1784, wenige Jahre vor der Französischen Revolution, zum Wahlspruch der Aufklärung erklärt hatte. Seine entsprechende Abhandlung beginnt mit den berühmten Worten: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant 1784, 481).

Die Ausführungen Kants gelten gemeinhin als die griffigste Erklärung dafür, was unter Aufklärung zu verstehen sei, und in der Regel werden sie auch dafür verwendet, um das Ziel von Bildung zu erklären bzw. diese von einem auf bloßes Funktionieren unter vorgegebenen Bedingungen fokussierten Lernen abzugrenzen. Vielfach wird der Text als radikale Aufforderung zur Kritik interpretiert, sowie dafür, sich (politisch-gesellschaftlichen) Gegebenheiten, deren Legitimation sich einer vernünftigen Argumentation entziehen, mutig entgegenzustellen. Tatsächlich geht diese Interpretation allerdings in einer ähnlichen Form zu weit, wie die Vorstellung, dass (nachrevolutionäre) bürgerliche Bildung irgend etwas mit selbstbewusster Auflehnung gegen aufgeherrschte Bedingungen des Daseins zu tun hätte.

Kant lag wohl nichts ferner, als ein Aufruf zum Widerstand. Viele seiner Texte belegen, dass sich sein Appell zum Einsatz der kritisch prüfenden Vernunft tatsächlich nur auf die theoretische Auseinandersetzung mit den Zuständen beschränkte. Ganz im Sinne des berühmten deutschen Volksliedes: „Die Gedanken sind frei“ forderte er – wie er selber schreibt – „die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag“, nämlich die „Freiheit des Vernunftgebrauchs“. Und damit auch diese keinesfalls falsch verstanden würde, nahm er wenige Sätze nach seinem flammenden Appell zum Selberdenken gleich eine grundsätzliche Einschränkung vor: Nur der – wie er es nannte – „öffentliche Gebrauch der Vernunft […], den jemand als Gelehrter […] der Leserwelt macht“ soll seiner Meinung nach frei sein, der „Privatgebrauch“ hingegen – worunter er den Gebrauch der Vernunft im Rahmen eines „anvertrauten bürgerlichen Postens oder Amte“ verstand – „darf sehr enge eingeschränkt“ sein. Und wenn auch unserem, durch und durch in bürgerlichen Vorstellungen verhafteten Denken die Kant’sche Argumentation nur allzu schnell einleuchten mag, dass „es sehr verderblich sein [würde], wenn ein Offizier, dem von seinem Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienst über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte“, sollte es doch stutzig machen, dass nur wenige Sätze nach seinem „Sapere aude“, von ihm ganz rigoros gefordert wird, dass alle, die durch ihr Amt in irgend einer Form „dienstverpflichet“ sind – somit also alle, deren Funktionieren für den geordneten Ablauf des bürgerlichen Staates erforderlich ist – „gehorchen“ müssen! (vgl. Kant 1784, 484f)

Aber es kommt sowieso noch wesentlich deutlicher: In seinem gegen Hobbes gerichteten Ausführungen im Text: „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, lässt Kant keinen Zweifel, dass er absolut nichts davon hält, sich staatlichen Vorgaben real zu widersetzen und sein Appell zum Mut des Vernunftgebrauchs keinesfalls zu irgend einer Form aktiven Widerstands führen soll. Er führt aus: „Wenn also ein Volk unter einer gewissen itzt wirklichen Gesetzgebung seine Glückseligkeit einzubüßen mit größter Wahrscheinlichkeit urteilen sollte: was ist für dasselbe zu tun? soll es sich nicht widersetzen? Die Antwort kann nur sein: es ist für dasselbe nichts zu tun, als zu gehorchen. […] Hieraus folgt: daß alle Widersetzlichkeit gegen die oberste gesetzgebende Macht, alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, aller Aufstand, der in Rebellion ausbricht, das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist; weil es dessen Grundfeste zerstört. Und dieses Verbot ist unbedingt, so daß, es mag auch jene Macht oder ihr Agent, das Staatsoberhaupt, so gar den ursprünglichen Vertrag verletzt und sich dadurch des Rechts, Gesetzgeber zu sein, nach dem Begriff des Untertans, verlustig gemacht haben, indem sie die Regierung bevollmächtigt, durchaus gewalttätig (tyrannisch) zu verfahren, dennoch dem Untertan kein Widerstand, als Gegengewalt, erlaubt bleibt“ (Kant 1977, 154/156).

Die Intelligenz denkt, die Macht lenkt

Auch wenn im ersten Anschein ein anderer Eindruck entstehen mag, so steht Kants strikte Ablehnung jeglichen Widerstands gegen die Autorität des Staates durchaus nicht im Widerspruch zu seiner vielzitierten Aufforderung zum Selberdenken. Denn auch dort geht es ihm ja nicht darum, dass Menschen durch den Erwerb von Wissen und dessen sachlogischer Verknüpfung die Sehnsucht nach einem Leben in Würde für Alle geweckt wird und befähigt werden diese konsequent zu verfolgen. Offenbar ist Aufklärung für Kant gar nicht so sehr eine Frage von (richtigem) Wissen, sondern eine der Haltung – sie erschöpft sich für ihn dementsprechend im Mut zum eigenständigen Denken. Es geht ihm gar nicht um den Erwerb von Wissen, das Menschen ermächtigt, indem es sie den Bedingungen ihres Daseins selbstbewusster gegenübertreten lässt, sondern einzig um die Fähigkeit, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Eines ist allerdings wohl klar: Der Blödsinn, den sich Menschen aufgrund der verschiedensten, an sie herangetragenen – vielfach sehr fraglichen und in ihrer ideologischen Konnotation kaum je offengelegten – „Informationen“ zusammenreimen, mag damals nicht kleiner gewesen sein als heute – selber und mit dem eigenen Verstand gedacht haben denselben die Menschen aber allemal! Zwar wurde damals genauso wie heute verhindert, dass die Angehörigen jener Gesellschaftsgruppe, die heute gerne verniedlichend als „Verlierer“ bezeichnet werden, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse hinterfragen und Schritte zu ihrer Veränderung unternehmen. In derartiger Ohnmacht wurden und werden diese Menschen allerdings nicht gehalten, indem ihr eigenständiges intellektuelles Verarbeiten von Informationen in irgendeiner Form unterbunden wird, sondern indem verhindert wird, dass sie sich ihrer vitalen Interessen und eines damit im Zusammenhang stehenden Bedarfs an Wissen überhaupt bewusst werden. Die daraus resultierende treue Ergebenheit in das gesellschaftliche System ist aber letztendlich genauso Produkt einer „selbst vorgenommenen“ Denkleistung wie die Vorstellung, dass die Positionsverteilung in der Gesellschaft letztendlich schon irgendwie „gerecht“ vonstatten gehe und jene, die in den „verantwortungsvollen Positionen“ sitzen, dies deshalb tun, weil sie tatsächlich in der Lage seien, ihre Vernunft besonders „selbständig“ zu gebrauchen.

Für Kant ist es allerdings sowieso eine ausgemachte Sache, dass das einfache Volk überhaupt nicht legitimiert ist, über die Richtigkeit von Maßnahmen der gesellschaftlichen Einscheidungsträger zu urteilen. Und wie schon dargestellt, hat auch der gelehrte Bürger für ihn ohne Widerstand zu gehorchen, praktische Kritik ist auch ihm verboten, ihm bleibt allerdings die Möglichkeit zur theoretischen Kritik. Röttgers fasst die diesbezüglichen Aussagen Kants folgendermaßen zusammen: „Der öffentliche Gebrauch der Vernunft, die ,Freiheit der Feder‘ ,ist das einzige Palladium der Volksrechte‘. Sie ist die einzige Bedingung der Aufklärung, und der Kritiker darf nicht per se als unruhiger und gefährlicher Bürger verfemt werden. Der kritische Philosoph bereitet durch seine Kritik die Gewährung von Freiheiten vor, doch nicht dadurch, daß er das Volk reif zur Freiheit macht, denn eine Reife zur Freiheit kann eigentlich nur in der Freiheit selbst geschehen, sondern dadurch, dass er vor der Regierung als Anwalt der Vernunft auftritt“ (Röttgers 1975, 51f). Die philosophisch-gelehrte Auseinandersetzung ist für Kant das Residuum der Kritik – sie stellt für ihn so etwas wie Bittgesuche im Namen der Vernunft dar. Interessen und Interessensunterschiede kommen in den Ausführungen Kants nicht vor, dementsprechend ist (Gelehrten‑)Kritik nur in der Dimension eines akademischen Hinweises denkbar, dass der Vernunft durch die Regierenden in irgendeinem Punkt nicht ausreichend Rechnung getragen worden wäre. Für das (Fuß‑)Volk sind die kritischen Ausführungen der Gelehrten selbstverständlich sowieso nicht bestimmt, dem ungebildeten Volk steht in gelehrten Diskussionen kein Mitspracherecht zu – es könnte dadurch nur verwirrt werden (vgl. Röttgers 1975, 54). Das Kant’sche „Sapere aude“ bezieht sich nur auf die philosophisch Gebildeten, für die von ihm die Freiheit reklamiert wird, quasi die Faust in der Hosentasche ballen zu dürfen, dabei aber stets bedacht darauf zu sein, dass deren Kraft nur ja nicht praktisch wird. Die Botschaft lautet: Denkt, was ihr wollt, räsoniert eventuell auch in den erlaubten Bahnen, aber pariert nichtsdestotrotz genau in jener Form, die der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienlich ist!

Mündigkeit – die moderne Herrschaftsform

Nicht der Mut, der erforderlich ist, um sich der Zwänge bewusst zu werden, durch die die eigene Lebenssituation geprägt ist, sowie den Zusammenhang derselben mit den politischen Bedingungen zu hinterfragen und – darauf aufbauend – um die Durchsetzung der eigenen Interessen zu kämpfen, wird von Kant eingefordert. Der von ihm geforderte Mut beschränkt sich auf die Selbstverständlichkeit des freien Meinens, die er selber ausdrücklich für völlig ungefährlich für den Fortbestand der gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet. „Ein größerer Grad von bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volkes vorteilhaft, und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken“ – „bei [dieser] Freiheit [brauchen die Herrschenden] für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste besorgt zu sein.“ (Kant, 1784, 492) Und es stimmt wohl: „Geistesfreiheit verträgt sich nicht nur, sie braucht die wirkliche Unfreiheit, um so recht zu blühen! Genau genommen redet Kant, wenn er über Aufklärung, Meinungsfreiheit, Verstand, über Mut oder Bequemlichkeit beim Einsatz desselben doziert, über nichts von all dem: er redet über eine moderne Herrschaftstechnik […]. Er redet über die Herrschaftstechnik am und im Bild des ihr entsprechenden Objekts, dem mündigen Bürger. Diesem Konstrukt entspricht es wesensmäßig zu gehorchen, sich dabei aber Seines zu denken und Verantwortung für das zu übernehmen, was er sowieso muss.“ (Gegenstandpunkt 2004) Kant entwarf in seinem Text zur Frage, was Aufklärung sei, nichts anderes als das der bürgerlichen Form von Herrschaft entsprechende Ideal des Menschen – den Bildungsbürger. Und die gängige Bezugnahme der Bildungstheorie auf die Kant’sche Argumentation macht nur allzu offensichtlich, worauf das bildungstheoretische Leitbild „Mündigkeit“ tatsächlich abzielt.

Und genau dieses Verhalten ist es ja auch, dessen sich die universitären Bildungswissenschafter im Zusammenhang mit den zunehmend bildungsfeindlicheren Bedingungen an Universitäten nahezu durchwegs befleißigen. Ich habe an anderer Stelle schon ausgeführt, welcher absurde Widerspruch sich beispielsweise im Zusammenhang mit der aktuellen Umgestaltung der Universitäten im Verhalten der an den dortigen bildungswissenschaftlichen Instituten Beschäftigten zeigt (Ribolits 2009, 125f). Der in den letzten Jahren rapid voranschreitende Umbau der Universitäten zu Wirtschaftsunternehmen, in denen Forschung und Lehre nur mehr in der Dimension von Waren ins Blickfeld gelangen, die möglichst kostengünstig produziert und möglichst teuer verkauft werden, wird von den „Anwält/innen der Bildungsidee“ ja durchaus kritisch wahrgenommen. In wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzungen wird von ihnen auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die vorangetriebenen Veränderungen im Sinne bildungstheoretischer Erkenntnisse massiv zu hinterfragen seien. Und in der Regel finden Texte, in denen das Unterwerfen der Universität unter ökonomische Kalküle als Todsünde an der akademischen Bildung gegeißelt wird, in der pädagogischen scientific community große Anerkennung. Allerdings zeitigt diese theoretische Kritik keinerlei praktische Konsequenzen! Ganz im Sinne der Kant’schen Forderung, dass man im bürgerlichen Amte zu parieren habe, werden auch an den bildungswissenschaftlichen Instituten die der Verbetriebswirtschaftlichung der Universitäten geschuldeten Vorgaben widerspruchslos erfüllt. Brav wird durch die Expert/innen für Bildungsfragen das umgesetzt, von dem sie am allerbesten wissen, dass es der von ihnen vertretenen Idee des kritischen Individuums diametral entgegenläuft! Man unternimmt keine widerständigen Aktionen, legt sich nicht quer, lässt sich nicht einmal die kleinste Insubordination zuschulden kommen, sondern beschränkt sich auf das philosophisch-gelehrte Räsonieren. In Abwandlung des Kant’schen Zitats lässt sich formulieren: Es ist so bequem, mündig zu sein!

Widerstand ist „unvernünftig“

Und es ist nicht nur bequem, es ist durchaus auch vernünftig, sich derart zu verhalten! Denn außer dass man sich Probleme einhandelt, erreicht man mit Protestmaßnahmen gegen die im Detail kritisch wahrgenommenen Auswirkungen eines wohl zumeist grundsätzlich sowieso akzeptierten politisch-gesellschaftlichen Systems – für das es in den Dimensionen der bürgerlichen Vernunft ja auch keine Alternativen gibt – mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ja wirklich nichts. Unter kalkulatorischen Gesichtspunkten macht es tatsächlich keinen Sinn, „gegen den Stachel zu löcken“ – der Aufwand steht in keiner vernünftigen Relation zur Erfolgswahrscheinlichkeit. Jene, die sich auf das gelehrte Räsonieren zurückziehen und sich aus der konkreten Auseinandersetzung nobel heraushalten, können also durchaus in Anspruch nehmen, sich ihrer Vernunft selbständig bedient zu haben. Der angeblich von George Bernhard Shaw stammende Ausspruch “Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen“ hat schon seine Richtigkeit. Allerdings hatte Shaw auch noch hinzugefügt: „Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab“ – eine Aussage, die letztendlich das gesamte aufgeklärte abendländische Weltbild konterkariert.

Denn auch wenn der Begriff Fortschritt zwischenzeitlich seinen Glanz eingebüßt hat und uns heute möglicherweise nicht mehr optimal geeignet erscheint, um eine Veränderung des Status quo in Richtung eines Lebens zu umschreiben, das dem Attribut „gut“ eher gerecht wird als das aktuelle, hatte Shaw dennoch recht, wenn er eine derartige Veränderung an das Überschreiten der Grenzen des vernünftig Geltenden knüpft. Jede vernünftige Argumentation baut auf unbeweisbaren – letztendlich irrationalen – Eingangsprämissen auf, die die jeweils gegebenen Machtstrukturen stützen. Die argumentativ gewonnene „Wahrheit ist“ – wie es Foucault ausdrückt – „von dieser Welt [und nichts Ewig-Endgültiges – E.R.]; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen“ (Foucault 1978, 51). Widerstand gegen den politisch-gesellschaftlichen Status quo impliziert – im Gegensatz zu Bemühungen um dessen Modernisierung oder Optimierung – somit immer auch, sich den Prämissen der geltenden Vernunft zu widersetzen. Widerstand ist die konkrete Folge des Hinterfragens der „Wahrheit auf ihre Machteffekte hin […] und der Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse“ (ebda.).

In diesem Sinn kann es als durchaus geschickte Strategie des im 18./19. Jahrhundert an die Macht drängenden Bürgertums gesehen werden, an der Vorstellung der Aufklärung, dass Vernunft etwas Objektiv-überhistorisches sei – sich also in allen Subjekten zu allen Zeiten in gleicher Form artikuliert –, anzuschließen und eine vernünftig geordnete Gesellschaft zu postulieren. Den um ihre politische Emanzipation kämpfenden Bürger/innen ging es dabei selbstverständlich nicht um eine abstrakte Verankerung des Vernunftprinzips, sondern darum, das gesellschaftliche Machtzuweisungskriterium zu ihren Gunsten zu verändern. Der Appell zur Vernunft diente ihnen bloß als Vehikel für das Erreichen einer Gesellschaftsordnung, in der Privilegien und Macht nicht durch die qua Geburt determinierte Standeszugehörigkeit, sondern über das Erbringen ökonomisch orientierter Leistungen unter Konkurrenzbedingungen legitimiert werden. Eine derartige Gesellschaftsordnung entsprach ihren Interessen, sie zu einer besonders vernünftigen hochzustilisieren, ebenfalls.

„Bildung als Praxis der Freiheit“

Dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen Privilegien und Macht auf sich konzentrieren können, liegt nicht in einer mehr oder weniger gegebenen Verwirklichung objektiv gegebener Vernunft begründet, sondern darin, dass diese Gruppen ihren Interessen entsprechende gesellschaftliche Regeln erwirken konnten, indem sie diese im allgemeinen Bewusstsein als vernünftig verankerten. Macht und geltende Vernunft sind zwei Seiten derselben Medaille, weshalb mit dem (bloß) vernünftigen Argument der Macht auch nicht beizukommen ist. Gegen sie lässt sich nur das eigensinnige Interesse ins Treffen bringen.

Die bürgerliche Errungenschaft des öffentlich-vernünftigen Argumentierens gefährdet die Macht nicht, letztendlich stützt sie diese in ihrem Bestand sogar ab. Emanzipation von der Macht – sowie vom aktuell als vernünftig Geltenden – erfordert ein anderes Vorgehen: Es geht darum, sich der eigenen Lage innerhalb der gesellschaftlichen Gegebenheiten und der daraus resultierenden Interessen bewusst zu werden sowie praktische Schritte zu deren Durchsetzung zu setzen. Emanzipation korreliert mit Eigensinn und verwirklicht sich in der Aktion. In letzter Konsequenz ist nicht das wortreich vorgetragene Argument der Beleg dafür, dass ein Mensch auf dem Weg ist, Souverän seiner Selbst zu werden, sondern die verantwortete Tat. Wenn Bildung an Selbstermächtigung orientiert ist – an der anwachsenden Fähigkeit, sich von Herrschaft befreien zu können – greift sie somit zu kurz, wenn sie sich in der (vernünftigen) Reflexion erschöpft, sie muss dann auch die Aktion implizieren.

Auch der Initialakt der Menschwerdung erschöpfte sich ja nicht in der theoretischen Kritik, sondern inkludierte die mutige und in ihren Folgen nicht wirklich kalkulierbare Tat. Die biblische Geschichte vom Verlassen des Paradieses, mit der sich der Mensch in allegorischer Form seine Besonderheit gegenüber anderen Lebewesen zu erklären versuchte, handelt nicht von Paradiesbewohner/innen, die sich damit begnügten, larmoyant über das einschränkende Gebot der obersten Machtinstanz zu jammern. Die Schlange – Verführer/in zum Zweifel am Status quo und dazu, nicht einfach zu gehorchen, sondern Dinge kritisch zu hinterfragen – argumentierte gegen das Verbot des Essens vom Baum der Erkenntnis zwar intellektuell, vollzogen wurde der emanzipatorische Schritt aber erst mit der widerständigen Tat.
Und das, wozu die Schlange die Menschen animierte, hat durchaus die Dimensionen dessen überschritten, was im Horizont der paradiesischen Bedingungen als vernünftig gelten musste. Die Selbstermächtigung des Menschen zum autonomen und selbstverantwortlichen Lebewesen – symbolisiert durch die Tat, mit der er sich aus dem Getto des Paradieses herauskatapultierte – beruhte auf seiner durch kritische Reflexion genährten Sehnsucht nach dem uneingeschränkten Leben und der Fähigkeit, den Status quo durch bewusstes Handeln überwinden zu können. Dass die Paradiesgeschichte üblicherweise negativ – als „Vertreibung“ aus dem Paradies und als „Sündenfall“ – interpretiert wird, ist wohl kein Zufall. Der in der allegorischen Geschichte beschriebene dramatische Schritt des Verlassens der umhegten Sphäre war aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch auf den Weg machen konnte, ganz Mensch zu werden – es gibt keine Freiheit, ohne sich selbst aufs Spiel zu setzen!

„Bildung als Praxis der Freiheit“ (Paulo Freire) ist Synonym für den immer wieder neuen Ausbruch aus dem Paradies der Unmündigkeit auf der Basis der den Menschen kennzeichnenden Sehnsucht nach Selbstbestimmung. Sie stellt das niemals endende und in seinen Folgen auch niemals völlig abschätzbare Bemühen dar, jedwede Form von Herrschaft zu überwinden. Ein derartiges Bildungsverständnis „bestreitet, dass der Mensch abstrakt, isoliert, unabhängig und unverbunden mit der Welt existiert“ (Freire, 1973, 66), er kann sich ihr somit ohne praktisch-konkrete Schritte zur Veränderung auch nicht kritisch im tatsächlichen Sinn gegenüberstellen. Wenn (menschliches) Bewusstsein und Welt als Korrelate und nicht als unabhängig voneinander existierende Größen begriffen werden, ist offensichtlich, dass ein Entkoppeln von Reflexion und Aktion dem Aufrechterhalten des Status quo in die Hände spielt und somit zwingend reaktionär ist. An Emanzipation orientierte Bildung ist demgemäß als bloß theoretische Kritik von Macht und Herrschaft nicht möglich, sie impliziert stets auch die Aktion – den praktischen Widerstand. Das um die Aktion kastrierte, den misslungenen bürgerlichen Revolutionen entwachsene Zerrbild von Bildung ist allerdings nicht bloß Reduktion, es dient dem Aufrechterhalten der herrschenden Verhältnisse und stellt somit letztendlich die Negation jeder tatsächlichen Selbstbefreiung dar!


Quellenverzeichnis:

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Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters (1994). Insel Verlag, Frankfurt a.M./ Leipzig.
Foerster, Manfred J.: Bildungsbürger, nationaler Mythos und Untertan. Betrachtungen zur Kultur des Bürgertums (2009). Shaker Media, Aachen.
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit (1978). Merve, Berlin.
Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit (1973). Rowohlt TB-Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Gamm, Hans-Jochen: Allgemeine Pädagogik. Die Grundlagen von Erziehung und Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft (1979). Rowohlt TB-Verlag, Reinbek bei Hamburg.
Gegenstandpunkt, Online-Version, GegenStandpunkt Verlag 2004, http://www.gegenstandpunkt.com/mszarx/phil/ kant/aufklar.htm (22.7.2010)
Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Diogenes Taschenbuch 20439
Heintel, Peter: Thesen zur „Marke ICH“ (oder: Ein letzter Außenhalt des bürgerlichen Subjekts?) (2009) In: A. Krefting: Bei Jutta auf der Couch Drava Verlag, Klagenfurt, S. 117-121.
Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Biester, Johann Erich/ Gedike, Friedrich (Hg.): Berlinische Monatsschrift. 1784. Zwölftes Stück, Dezember (http://de.wikisource.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist_Aufklärung).
Kant, Immanuel: Werke in zwölf Bänden. Band 11, Frankfurt a.M. 1977.
Lohmann, Ingrid: Bildung und Gesellschaft. Die Entstehung ihrer Beziehung am Beginn der Moderne (2004). http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/personal/Lohmann/Publik/#copyleft (Aug. 2010)
Lüders, Jenny: Do We (Still) Need the Concept of Bildung. Einleitung zu: Ambivalente Selbstpraktiken: Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs (2007). Transcript-Verlag, Bielefeld.
Masschelein, Jan /Ricken, Norbert: Do We (Still) Need the Concept of Bildung? (2003). Educational Philosophy and Theory, 35: 139–154. doi: 10.1111/1469-5812.00015
Ribolits, Erich: Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung des Menschen (2009). Löcker, Wien.
Röttgers, Kurt: Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx (1975). De Gruyter, Berlin/New York.


Anmerkung:
Aus einem Liedtext von André Heller

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