F. Habermann: Halbinseln gegen den Strom

Buchbesprechung

von Gerd Büntzly

Versuche, anders zu leben und zu arbeiten und so den Zwängen der kapitalistischen Verwertung zu entkommen, gibt es schon seit den 60-er Jahren, und auch diese sind ja in dieser Hinsicht keinesfalls die Stunde Null gewesen. Nun ist eine neue Darstellung solcher Projekte erschienen, die im Zeitalter der Krise eine neue Aktualität haben. Das Buch stellt zahlreiche Projekte alternativen Lebens vor, die die Autorin auf Reisen, zum Teil auch durch eigenes Mitgestalten erfahren hat. „Es gibt keine Inseln im Falschen!“ Mit diesem Satz, einem abgewandelten Zitat von Theodor W. Adorno, beginnt ihr Buch. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“ war Adornos Satz (Minima Moralia, I, 18). Nun gut, sagt Habermann, aber Halbinseln mag es doch geben, die auf eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zielen. Die zehn Kapitel ihres Buches befassen sich mit allen Lebensbereichen, über die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Kleidung und Dienstleistungen, Wohn- und Lebensgemeinschaften, Finanzen, Bildung, Gesundheit, Kommunikation, Mobilität und, lat but not least, Vergnügen.

Ihre Beschreibung verschiedener Lebens- und Arbeitsprojekte in Freiburg, Hamburg, Berlin, Hartroda, Niederkaufungen…. kann neugierig machen, selbst hinzugehen und zuzusehen, ob die beschriebenen Projekte dem eigenen Lebensgefühl entsprechen. Dabei ist ihr Ansatz offen für beinahe alles: sie widmet sich nicht nur Projekten, die das ganze Leben fordern, sondern auch „Freizeitprojekten“, ja selbst solchen, die sich selbst kaum so bezeichnen würden, wie etwa dem „Containern“, dem Aneignen weggeworfener Lebensmittel.

Was die Theorie angeht, so geht es in der Hauptsache um ein Leben ohne den Zwang, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Die Tauschbeziehungen werden dabei besonders kritisch unter die Lupe genommen. Die Autorin bedauert, dass der Urheber der wertkritischen Theorie, Robert Kurz, sich so im Elfenbeinturm seiner Theorie verschanzt habe, dass für ihn nichts, was gegenwärtig an praktischen Ansätzen existiert, Gültigkeit hat, zitiert aber zustimmend andere Autoren dieser Theorieschule, die sich von Kurz inzwischen distanziert haben und weniger eingeengt argumentieren. Wertkritik ist ihr ganz wichtig: Im Wert, in der Verfügbarkeit für den Markt über eine Quantität, die von der Qualität des Gebrauchs ganz absieht, liegt auch für sie die Perversion des kapitalistischen Denkens.

Do-ocracy: Das ist der Grundsatz, dass jede und jeder, der eine Idee hat, die anderen zugute kommt, die Freiheit haben soll, die auch zu verwirklichen: es ist der Grundsatz von Respekt oder Hochschätzung der Eigeninitiative. Beispiel einer Camp-Vorbereitung (S. 140 f):

Mary fragt auf der Email-Liste: Wie wäre es, wenn wir einen Essenspool organisieren, so dass wir alle zusammen kochen und essen können?“ Andere antworten… oder, oftmals, niemand antwortet. Mary ruft dann die anderen Teilnehmenden an, … fragt herum, … sammelt Geld und organisiert den Einkauf. … Wenn dann jemand sich beschwert: „Du meine Güte, warum kann Mary hier entscheiden, was gegessen wird und wann wie gearbeitet?“, antworten die anderen: „Dies ist eine Do-ocracy. Wenn du meinst, du kannst Marys Arbeit übernehmen, und du willst sie übernehmen, dann geh hin und tu’s.Sie wird wahrscheinlich erleichtert sein. Wenn nicht, nerv nicht rum, sonst hört sie noch auf zu arbeiten, und wir haben nichts zu essen!“

Es scheint aber, dass dieser Begriff gelegentlich auch etwas anders interpretiert wird, wenn (auf S. 80) Mark Boyle vorgeworfen wird, er verweigere die Mitarbeit anderer an der Weiterentwicklung seiner Seite Justfortheloveofit.org „im Sinne einer Do-ocracy“. Boyle sieht offenbar den spezifischen Charakter seiner Initiative nur gewahrt, wenn er nicht alle anderen an seiner Seite herumfummeln lässt: war das nicht genau so im angeführten Beispiel mit Marys Kochprojekt?

Habermann schätzt die freie Software, die den Raum der „Commons“, der Gemeingüter um eine neue Dimension erweitert hat, nachdem es erst schien, der Kapitalismus sei im Gegenteil im Begriffe, auch noch die letzten dieser „Commons“, etwa Trinkwasser, zu Privatkapital zu machen. Selbstverständlich müsse man sich immer wieder solchen Versuchen kämpferisch entgegenstellen, ist sie überzeugt, aber auch in den letzten Jahrzehnten sei bereits gelungen, die Gemeingüter auszuweiten, etwa mit der Besetzung von Häusern.

Netzwerke und damit persönliche Beziehungen sind äußerst wichtig für das Funktionieren einer alternativen Wirtschaft. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es Idealisten gibt, die ihr Leben dem Aufbau neuer Strukturen opfern, und andere, die solche Strukturen nur konsumieren. Habermann beobachtet daher, dass viele Kommunen Regeln haben, mit denen sie die Beiträge der einzelnen Mitglieder zumindest qualitativ kontrollieren. Besonders interessant sind ihre Beschreibungen von Strukturen, etwa in Hamburg oder Oldenburg, bei denen deutlich wird, dass da nicht nur isoliert irgendwo ein Projekt existiert, sondern dass es mehrere alternative Projekte gibt, die zusammenarbeiten. Nur so können wirklich stabile „Halbinseln“ entstehen, die nicht vom erstbesten Widerstand wieder fortgespült werden.

Die Frage der Arbeitsteilung, auch zwischen den Geschlechtern, wird immer mal angesprochen. Werden in den neuen Projekten die alten Dominanzverhältnisse überwunden? Das kann sein, wenn der Schwerpunkt von Projekten mehr auf Teilhabe liegt als auf Effektivität. Die Befreiung vom Geld sollte allen erlauben, alles zu machen. Andererseits krebsen viele Projekte am Existenzminimum herum und haben daher Effektivität nötig.

Immer wieder steht aber auch die Frage im Raum, in wieweit die Ansätze zu solidarischer Selbsthilfe nicht vom Staat dafür genutzt werden, sich aus seiner Verantwortung zurückzuziehen und Sozialleistungen zu kürzen. Das ist ein Fakt, der offenbar manche Aktivisten richtig lähmt. Aber auch von der andern Seite droht Ungemach: Erfolgreiche Kunst landet sehr schnell im Design, erfolgreiche Wirtschaftsprojekte werden leicht vom Kapitalismus eingemeindet und aufgesogen.

Habermanns Buch ist sicherlich nicht die letztgültige Darstellung des Themas, dafür ist es zu locker und erzählend gehalten. Andererseits ist es eine Fundgrube von Ideen und regt zur Nachahmung und zum Nachfragen an.

Friederike Habermann: Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag. Königstein/Ts: Ulrike Helmer Verlag, 2009. 228 Seiten, € 19,90.

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