Das Ende naht?

Eine Kritik an den Grundlagen der "Krisis"-Gruppe

von Karl Reitter

Wie immer man zu den Aussagen der "Krisis" stehen mag, eines ist Robert Kurz nicht abzusprechen. Er hat eine sehr interessante und diskussionswürdige Definition von Krise entwickelt, die den Anspruch erheben kann, durchaus neue Aspekte zu beleuchten.

Daher kann ich Michael Heinrich nicht ganz zustimmen, wenn er der "Krisis"-Gruppe vorwirft („Streifzüge“ 1/1999), sie würde die altehrwürdige Zusammenbruchstheorie wieder zum Leben erwecken. Es handelt sich zweifellos um eine solche, aber Kurz gibt ihr eine sehr spezifische Wendung, die man in dieser Form bei Luxemburg und Grossmann nicht findet. Die klassische Zusammenbruchstheorie geht ja davon aus, daß der Kapitalismus im Moment seines Zusammenbruchs die gesamte Gesellschaft durchdringt, daß alle Bereiche des Lebens unter die Verwertungslogik subsumiert sind. Bei Luxemburg ist das ganz deutlich. Sie geht davon aus, daß die Akkumulation des Kapitals nur unter der Bedingung möglich ist, daß ein ständiger Werttransfer vom nichtkapitalistischen ökonomischen Milieu in den kapitalistischen Sektor erfolgt. Der Wert, den Bauern, Handwerker und kleinbürgerliche Produzenten erzeugen, wird über Mechanismen — die hier im Detail nicht dargestellt werden können — vom Kapital angeeignet. Die Idee, daß das Kapital nicht nur jenen Wert akkumuliert, der im kapitalistischen Sektor der Gesellschaft selbst erzeugt wird, sondern daß zusätzlich ein systematischer Werttransfer zu beachten ist, wurde von einigen AutorInnen aufgegriffen. Ich erinnere an die Konzeption des ungleichen Tausches zwischen imperialistischen Metropolen und außereuropäischen Ländern, oder an die Konzeption von Claudia Werlhof, die in der weiblichen Hausarbeit eine indirekte, aber wesentliche Quelle der Mehrwertakkumulation vermutet. Während die Theorie des ungleichen Tausches oder der Aneignung unbezahlter Hausarbeit eher statisch konzipiert sind, geht es Luxemburg um die Dynamik der kapitalistischen Akkumulation. Nach ihrer Ansicht sägt die kapitalistische Produktionsweise auf dem Ast, auf dem sie sitzt. Der Werttransfer ermöglicht die Akkumulation, diese wiederum führt zur Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise und zur Zerstörung vorkapitalistischer Sphären. In der klassischen Konzeption bricht die kapitalistische Produktionsweise am Höhepunkt ihrer Ausdehnung und Macht zusammen.

Auf den Punkt gebracht läuft die Zusammenbruchstheorie der "Krisis"-Gruppe darauf hinaus, daß die geschichtliche Expansion der Wertproduktion zum Stillstand gekommen ist, ja noch mehr, rückläufige Tendenz annimmt. Historisch im 17. und 18. Jahrhundert in England entstanden, breitete sich die kapitalistische Produktionsweise sowohl in die "Tiefe" der Gesellschaft, als auch geographisch in der westlichen Hemisphäre aus. Anders gesagt, immer mehr Bereiche des Lebens wurden unter die Verwertungslogik subsumiert. Historisch muß genau an jenem Punkt vom Ende des Kapitalismus gesprochen werden, an dem die Expansion stoppt, und die rückläufige Tendenz einsetzt. Sobald eine systematische Ausdehnung der Subsumtion der lebendigen Arbeit unter das Kapital nicht mehr stattfindet, hat die Todesstunde des Kapitalismus geschlagen. Die kapitalistische Produktionsweise hätte dann ihren Zenit überschritten, sobald sie nicht mehr in der Lage ist, mehr und neue lebendige Arbeit einzusaugen. Es geht also um die Dynamik von Expansion und Schrumpfung. In der Sichtweise von Kurz bricht der Kapitalismus an seinem Höhepunkt nicht sichtbar zusammen, sondern es setzt die — freilich unaufhaltsame — Tendenz der Verdrängung der Arbeit aus der Wertproduktion ein. Damit werden die Grundlagen der Kapitalakkumulation untergraben. Sowohl geographisch als auch im "Inneren" der Gesellschaft werden immer mehr Bereiche aus der Verwertungslogik ausgeschieden. So gesehen ist der Ausdruck Zusammenbruchsthese etwas irreführend. Es geht darum, einen langen und schmerzvollen Prozeß des "Ausbrennens" der Wertproduktion zu konstatieren. In der Sichtweise der "Krisis"-Gruppe muß dieser Prozeß unabhängig vom Bewußtsein und politischen sowie sozialen Handeln der Menschen erfolgen. Wir sind mit einer streng objektivistischen Geschichtsthese konfrontiert.

Nach meiner Auffassung muß diese Krisenkonzeption auf zwei Ebenen begründet werden. Erstens: Wenn man an der These festhalten will, daß Marx im Kapital nicht einen empirischen Querschnitt durch den Kapitalismus des 18. Jahrhunderts vorlegt, sondern den reinen Begriff des Kapitals entwickelt, so müßte auf begrifflicher Ebene zu zeigen sein, daß das Kapital durch die Verfolgung der eigenen Logik sich selbst Schranken, innere Schranken, setzt. Zweitens: Man muß zeigen, daß eine solche letzte Schranke — falls sie begrifflich nachgewiesen werden kann — gegenwärtig aktuell ist, sich also empirisch nachweisen läßt. Denn die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, daß die historischen Bedingungen für die Endkrise noch nicht herangereift sind.

Das Kapitalverhältnis ist von Haus aus krisenhaft. Marx zeigt aber in der Regel eine Wechselwirkung zwischen Krise und Prosperität. Die Prosperitätsphase bereitet die Elemente der Krise vor, die Krise wiederum eine neue Prosperität. Kapitalakkumulation muß Kapitalvernichtung nach sich ziehen, Kapitalvernichtung bereitet der Akkumulation erneut den Boden. Daß dieses Auf und Ab für die Bevölkerung oft verheerende Folgen hat, tangiert die Logik des Kapitalismus keineswegs, darin besteht unter anderem die perfide Logik dieses Gesellschaftssystems. Die entscheidende Frage ist nun: Existieren notwendige Tendenzen, die nicht wechselwirksame Folgen haben? Die klassische Anwort lautet, ja, es handelt sich um das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Konsequenz dieser Tendenz sei es, daß das konstante Kapital gigantisch anwächst und immer geringere Massen von lebender Arbeit kommandiert. Ab einer gewissen Quantität dieser Entwicklung muß sie in Qualität umschlagen, ein Prozeß den Marx unter anderem in den Grundrissen sehr plastisch und anschaulich darstellt: "Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper (…). Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne. (…) Damit bricht die auf Tauschwert ruhnde Produktion zusammen (…). " (Grundrisse 592f. , Hervorhebung von mir) Ich sehe in diesem, von mir bewußt zitierten Abschnitt nur einen Versuch, die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise zu erfassen, nicht mehr. Marxens Wert- und Kapitaltheorie liegt keineswegs in fertiger, in sich geschlossener Gestalt vor, sondern muß — teilweise gegen die Thesen von Marx — (re)konstruiert werden. Wie dem auch sei — ich kann in vielen Argumenten der "Krisis"-Gruppe nur eine Paraphrasierung jener Aussagen sehen, mit denen Marx den tendenziellen Fall der Profitrate zu begründen versucht. Im Gegensatz zu Lenins Imperialismustheorie ("Fäulnis der Produktivkräfte") geht die "Krisis"-Theorie nicht von einer Stockung der Produktivkräfte aus, sondern — ebenso wie Marx — von ihrer rasanten Entwicklung. Die darauf aufbauende Zusammenbruchsthese läßt sich in zwei Schritte zerlegen. Zum einen wird behauptet, daß immer größere Kapitale immer weniger lebendige Arbeit einsaugen können. Das Verhältnis von konstantem zum variablen Kapital verschiebt sich ständig zugunsten des konstanten Kapitals. Durch die permanent steigende organische Zusammensetzung werden ständig Arbeiter durch die Maschine verdrängt. In einem zweiten Schritt wird behauptet, daß die so freigesetzten Arbeitskräfte weder durch neue Produktionszweige noch durch die ständig wachsenden Kapitale beschäftigt werden können. Wenn ich also die Argumente richtig verstehe, laufen sie darauf hinaus, daß c, das konstante Kapital offensichtlich unendlich wachsen muß, gleichzeitig benötigen die immer größeren Kapitale, gerade weil ihr Wachstum durch die Erhöhung der Produktivität der Arbeit stimuliert ist, immer weniger lebendige Arbeit, um in Bewegung gesetzt zu werden. Dieser Mechanismus ist freilich nicht viel anderes als das berühmte "Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate".

Gilt das "Gesetz von tendenziellen Fall der Profitrate"?

Zu Lebzeiten Marxens fiel die Profitrate kontinuierlich. So gesehen sind seine Thesen ein Versuch, auf die Erklärungen von Ricardo und Smith zu reagieren. Ein solcher ständiger Fall scheint sich für das 20. Jahrhundert nicht mehr nachweisen zu lassen. Joseph Gillman hat in den fünfziger und sechziger Jahren eine Studie über die amerikanische Industrie der Jahre 1848 bis 1939 durchgeführt und kommt zu folgendem Schluß: "Die Ergebnisse zeigen, daß die historischen Statistiken der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg diese Theorie von Marx voll zu stützen scheinen, während sie sich nach dem Krieg im allgemeinen im Gegensatz zu den Erwartungen von Marx verhielten. "1 Man kann nun einwenden, daß die Ungültigkeit des "Falls der Profitrate" an sehr spezifischem Material untersucht und daß von einer bestimmten Epoche der Wirtschaftsentwicklung in den USA noch keine allgemeinen Schlüsse gezogen werden können. Michael Heinrich hingegen argumentiert auf derselben Abstraktionshöhe wie Marx im "Kapital". Er kommt zum Schluß, daß das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate nicht aufrecht erhalten werden kann. Dieses Gesetz ist das Resultat zweier, entgegengesetzt wirkender Tendenzen, der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals einerseits (d. h. der Anteil an konstantem Kapital vergrößert sich auf Kosten des variablen) und einer ebenfalls steigenden Mehrwertrate (d. h. der Anteil der unbezahlten Arbeitszeit steigt auf Kosten der bezahlten). Eine steigende organische Zusammensetzung läßt die Profitrate sinken, die steigende Mehrwertrate jedoch steigen. "Soll nun gezeigt werden, daß die Profitrate eine Tendenz zum Fallen hat, müßte nachgewiesen werden, daß zumindest langfristig die Wertzusammensetzung schneller steigt als die Mehrwertrate. "2 Gerade diese Annahme wird von Marx nur behauptet, nicht jedoch als notwendig nachgewiesen. Geradezu verkehrt stellt sich das sogenannte Gesetz des tendenziellen Falls dar, wenn eine , von Marx selbst im ersten Band des Kapitals entwickelte Voraussetzung, mit in Betracht gezogen wird. Lebendige Arbeitskraft wird nur dann durch tote Arbeit, also konstantes Kapital ersetzt, wenn die Summe von Arbeitslohn und konstantem Kapital sinkt, also der Kostpreis, der empirisch in der Buchhaltung aufscheint, sich verringert. Anders gesagt: Investitionen in Maschinen werden in der Regel nur dann getätigt, wenn sich der Kapitaleinsatz für die Produktion eines bestimmten Gutes vermindert. ("In der Regel", denn es gibt Güter, die nur durch eine bestimmte Technologie hergestellt werden können, Güter also, bei denen sich die Alternative, viele Arbeiter, wenig Maschinen, oder wenig Arbeiter, viele Maschinen gar nicht stellt. Dieses Faktum kann jedoch nicht als Argument für den tendenziellen Fall benutzt werden, sondern spricht sogar dagegen. Denn es ist a priori nicht ausgemacht, daß die Produktion eines technologisch neuen Produkts mit einem extrem hohen Anteil an konstantem Kapital beginnen muß. Gerade Computeranlagen zeigen einen scheinbar unaufhaltsamen stetigen Wertverfall, das heißt, bestehende Anlagen entwerten sich binnen Jahren, ja Monaten rapide. Das bedeutet: schon in kürzester Zeit sinkt die Wertübertragung auf Null. )

Die Investition muß sich also lohnen. Präzise ausgedrückt, die Erhöhung des konstanten Kapitals muß kleiner sein als die Minderung des variablen Kapitals. Es gilt also: Dc < Dv. 3 Heinrich geht in seiner Beweisführung von einer gegebenen Profitrate aus, nimmt eine Erhöhung der organischen Zusammensetzung unter der Bedingung Dc < Dv an und drückt schlußendlich die neue Profitrate mathematisch durch die Variablen der ursprünglichen Profitrate aus. Die einzelnen Schritte der Berechnung möchte ich hier nicht ausführen, Interessierte können sie anhand seines Buches nachrechnen. Das vielleicht erstaunliche Resultat: "Auf der von Marx gewählten Abstraktionsebene läßt sich demnach nicht nur kein tendenzieller Fall der Profitrate begründen, sondern sogar ein tendenzielles Steigen. "4 So verwunderlich ist das Resultat allerdings nicht; steigende Produktivität bedeutet schlicht, daß der Wert des konstanten Kapitals ebenso sinkt wie der Wert der zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Lebensmittel. Aus dem gewählten Beispiel darf jedoch nicht gefolgert werden, daß quasi umgekehrt die Profitrate nie und nimmer sinken kann, es kann nur geschlossen werden, daß die Rede vom tendenziellen Fall in der, vor allem durch die Bearbeitung des III. Bandes durch Engels suggerierten apodiktischen Gesetzmäßigkeit, zu verabschieden ist.

Was folgt jedoch aus dem Resultat, das "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate" existiere nicht? Die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit kann zur Verdrängung der lebendigen Arbeit aus der Produktion, muß jedoch nicht dazu führen. Es dürfte klar sein, daß die Debatte auf der Ebene der Wertzusammensetzung geführt werden muß, nicht auf der Ebene der sinnlichen Erscheinung. Zu sagen, früher bedienten zehn Arbeiter eine Maschine, heute ein Arbeiter zehn Maschinen, ist kein schlagendes Argument. Denn es ist die Frage, ob diese Entwicklung bedeutet, daß sich der Wert der Maschinerie (abstrakt gesprochen, des konstanten Kapitals) verzehnfacht, der Wert der Arbeitslöhne (das variable, wertschöpfende Kapital) auf ein Zehntel reduziert haben muß.

Produktivkraft und Gesellschaft

Zumindest in dem bereits 1986 geschriebenen Artikel "Die Krise des Tauschwerts" verwendet Kurz eine zweite Ebene der Argumentation, die die Wertzusammensetzung weitgehend unberücksichtigt läßt. Der Autor geht darin von der Überlegung aus, daß die Bedingungen für die Produktivität der Arbeit immer mehr außerhalb des eigentlichen Kapitalverhältnisses "erarbeitet" werden. Die Entwicklung der Wissenschaft, der Ausbau der Infrastruktur, die Erstellung neuer Kommunikations- und Informationssysteme; all das wirkt einerseits indirekt auf die Produktivität der Arbeit, andererseits wird sie in gesellschaftlichen Sphären produziert, die außerhalb des eigentlichen kapitalistischen Verwertungszusammenhangs stehen. "Zweifellos handelt es sich hier um gesellschaftliche Produktivkräfte, die in Bewegung gesetzt werden, und alle darin eingeschlossenen Arbeiten sind in stofflicher Hinsicht indirekt produktiv. Aber gleichzeitig stehen diese Arbeiten von vornherein ihrer Natur nach außerhalb des Wertgesetzes, sie können gar nicht die Form vergegenständlichter abstrakter Arbeit in der Fetischgestalt des Werts annehmen, weil sie eben als unmittelbar gesellschaftliche in alle Produkte gleichermaßen und gleichzeitig eingehen, somit gar nicht als Moment eines Austauschprozesses getrennter Einheiten erscheinen können. "5 Ein Beispiel dafür wäre etwa Bildung und Wissenschaft. Es existieren Elemente der Zivilisation, die nicht als Waren produziert werden, aber indirekt in die Produktivkraft der Arbeit eingehen. Dieses Faktum ist selbstverständlich, und wird etwa von Marx bereits im ersten Abschnitt des Kapitals betont. "Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderem durch den Durchschnittsgrad des Geschicks der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel, und durch die Naturverhältnisse. "6 Wieso der Kapitalismus zusammenbrechen muß, bloß weil die Bedingungen für die Produktivkraft der Arbeit außerhalb des eigentlichen Kapitalverhältnisses stehen, ist mir völlig uneinsichtig. 7 Es dürfte auch Marx bewußt gewesen sein, daß sich etwa die Naturwissenschaften außerhalb des Verwertungsprozesses entwickeln. Er betont an einer Stelle sogar ausdrücklich, daß die Resultate der wissenschaftlichen Forschung dem Kapital kostenlos zugute kommen. Wieso dies eine systematische Schranke des Kapitals markieren soll, bleibt völlig unklar. Aus der Tatsache, daß Arbeit in bestimmten wesentlichen Sphären der Gesellschaft nicht oder nur teilweise zum Objekt der kapitalistischen Produktionsweise gemacht werden kann, auf die notwendige Endkrise zu schließen, halte ich für unzulässig.

Abgesehen von der prinzipiellen Ebene, spricht auch die aktuelle Entwicklung gegen Kurz. Seine These, gewisse Arbeiten stünden "von Natur aus" außerhalb des Wertgesetzes, ist mehr als fragwürdig. Auch Universitäten können als kapitalistische Unternehmen geführt werden, siehe USA. Die gegenwärtig rollende Welle der Privatisierung und Entstaatlichung ist doch genau der Versuch, gesellschaftliche Bereiche in die Warenproduktion einzubinden, die es bis dato nicht waren. Historisch vollzieht sich genau das Gegenteil der Kurzschen Behauptungen. Immer mehr, immer abstraktere Bereiche des menschlichen Lebens werden in die Warenproduktion einbezogen. 8

Gibt es empirische Belege?

Welches sind nun eigentlich die empirischen Belege, die für die Endkrise des Werts vorgebracht werden? Genau genommen sind es alle Krisenphänomene die weltweit existieren, die als Beleg für die Endkrise zitiert werden, ohne daß der Endzeitcharakter ausgewiesen wird. Nehmen wir ein Stichwort: Asienkrise. Eine Krise zweifellos, aber kann man die Behauptung aufstellen, Länder wie Indonesien, Südkorea usw. hätten sich strukturell vom kapitalistischen Weltsystem abgekoppelt und würden fortan in wildem Bandenwesen und einer undefinierbaren nachkapitalistischen Ökonomie verharren? Stichwort Osteuropa, ein Sechstel der Welt für den Kapitalismus verloren? Das kann doch angesichts der ökonomischen Entwicklung von Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien usw. nicht ernsthaft behauptet werden. China und Indien, Länder, in denen immerhin ein Drittel der Menschheit lebt, werden sicherheitshalber gar nicht erwähnt. Daß es massive Krisen gibt, Rückschläge für die kapitalistische Akkumulation, und daß so manche Seifenblase vom schnellen Geld zerplatzt ist, soll nicht geleugnet werden. Aber das bloße Beschwören dieser Krisen mit blumiger Rhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das angebliche Verschwinden dieser Regionen von der Landkarte des Kapitalismus (leider) sehr realitätsfremd anmutet. Sicher: gewisse Regionen scheinen auf absehbare Zeit von Gott und Kapital verlassen, doch die Endgültigkeit, die ja behauptet werden muß, scheint mir nirgends plausibel argumentiert. Auch im ständigen Beschwören des fiktiven Kapitals sehe ich kein Argument für das Ende des Kapitalismus. Selbst wenn der schon lange prognostizierte Börsenkrach eintritt, was dann? Führt die dann stattfindende Kapitalvernichtung statt zur Endkrise nicht im Gegenteil zu einer erneuten Stabilität des Kapitalismus? Denn ein Börsenkrach würde krisenhaft den Schein korrigieren, daß Kapital akkumulieren kann, ohne mit lebendiger Arbeit in Berührung zu kommen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Existenz und Wachstum des fiktiven Kapitals sehr kurzschlüssig darauf zurückgeführt werden, daß dieses Kapital eben keine Möglichkeit hat, lebendige Arbeit zu beschäftigen. Genau diese These gälte es zu beweisen. Daß Kapital deswegen in Termingeschäfte mit Schweinebäuchen investiert werden muß, weil es Arbeitskraft nicht mehr profitabel beschäftigen kann, müßte erst einmal gezeigt werden. Mir erscheint es so, als ob die "Krisis"-Gruppe diese Annahme dogmatisch voraussetzt, um die Existenz des aufgeblähten Spekulationskapitals als empirischen Beleg für die Behauptung zu nehmen, das Kapital müsse in diese Sphäre flüchten, weil es als reales Kapital keine Möglichkeit der Verwertung hätte.

Jenseits des abstrakten Werts

Der strikte Ultraobjektivismus der Zusammenbruchsthese muß notwendig zu einer vollständigen Entkopplung von objektiver Kapitalentwicklung und den Bedingungen und Perspektiven des Widerstands führen. Statt die Wechselwirkung zwischen Entwicklung des Kapitalismus und sozialer Revolte zu untersuchen, werden beide Bereiche strikt getrennt. Die dürftigen und unhistorischen Aussagen der "Krisis"-Gruppe zu antikapitalistischen Bewegungen sind kein Zufall, und können sicher nicht auf intellektuelles Unvermögen oder dergleichen zurückgeführt werden. Sie entspringen der These, daß die historische Perspektive des Kapitalismus, der Zusammenbruch, quasi wie ein Naturgesetz abläuft. Wenn das so ist, dann reduziert sich die praktische Konsequenz auf die Vermittlung dieser Erkenntnis.

Ich sehe aber auch die Möglichkeit, am Begriff der Krise anzuknüpfen, obwohl ich die Zusammenbruchsthese strikt zurückweise. Auch wenn ich nicht meine, die kapitalistische Produktionsweise würde von selbst in sich zusammenfallen, so liegt in diesem Krisenbegriff die Möglichkeit, über die Grenzen des abstrakten Werts und deren historische Dynamik nachzudenken. Ich möchte das von mir jetzt Gemeinte an einer Gegenposition verdeutlichen. Wenn man, anknüpfend an Sohn-Rethels Begriff der "gesellschaftlichen Synthesis", den abstrakten Wert als den alleinigen Modus der Vergesellschaftung auffaßt, kann Gesellschaft nur noch als repressive Totalität konzipiert werden. Man könnte dies die systemtheoretische Transformation des Marxismus nennen. Alle Elemente der Gesellschaft sind kompatibel mit dem abstrakten Wert, ja noch mehr, vermittelt über den Begriff der reellen Subsumtion werden sie als das ausschließliche Produkt der Bewegung des abstrakten Werts begriffen. 9 Die Gesellschaft ist mit sich identisch, das heißt, sie ist mit dem abstrakten Wert identisch.

Nun wäre es tatsächlich ein Fehler, die Dominanz des abstrakten Werts ausschließlich auf jene Bereiche einzugrenzen, die tatsächlich Element der Bewegung des Kapitals sind. Also zu behaupten, sowohl stoffliche Elemente wie jene Individuen, die nicht via Arbeitslohn als Momente des Kapitals fungieren, stünden jenseits des abstrakten Werts. Kapitalismus bedeutet nicht, daß alles in Ökonomie aufgeht, sondern daß die Ökonomie eine geschichtlich einmalige Dominanz über die Gesellschaft und ihre Elemente ausüben kann. Um das etwas praktisch und anschaulich werden zu lassen, ein Beispiel: Arbeitslose sind zwar nicht unmittelbar in die Wertproduktion eingespannt, aber ihre gesamte soziale Existenz ist auf diesen Zweck ausgerichtet, und dazu werden sie auch zugerichtet. Andererseits, und hier kann ich dem "Krisis"-Konzept zustimmen, kann sich die Dominanz des abstrakten Werts nicht ausschließlich imaginär durchsetzen. Die Wertproduktion muß auch praktisch durchgesetzt sein, also Mensch und Natur müssen tatsächlich als Elemente der Wertproduktion dienen. Einen virtuellen Kapitalismus, der keine sachlichen Elemente und vor allem keine Menschen mehr subsumiert, kann es nicht geben. Aber diejenigen Individuen, die aus dem Verwertungsprozeß herausfallen, leben deshalb nicht in einem unschuldigen Niemandsland. Genau an diesem Punkt setzt für mich Politik ein. Im Herzen der kapitalistischen Akkumulation herrscht tatsächlich repressive Totalität, insofern hat auch diese Theorie einen wahren Kern. Aber in dem Maße, wie die von der "Krisis" prognostizierte praktische Dominanz des Werts schwindet, wie "Räume" freigegeben werden müssen, entsteht zumindest die Möglichkeit für antikapitalistische, praktische Politik. Wer nun verneinend den Kopf schüttelt, dem möchte ich zu bedenken geben, daß — zumindest in einem Artikel aus 1994 — Robert Kurz haargenau diese Position vertritt. Er bezieht sich darin positiv auf Ansätze, autonome soziale Formen zu entwickeln und schlußfolgert: "Denn autonome, nicht-warenförmige Tätigkeiten können ja nicht im luftleeren Raum stattfinden. Dazu bedarf es Ressourcen: Land, Gebäude, Büros, Werkstätten, Gärten, Produktions- und Kommunikationsmittel usw. Diese müssen Staat und Markt abverlangt werden. Solche Forderungen werden umso plausibler, je weniger das warenproduzierende System die Ressourcen sinnvoll verwalten kann, und je mehr intakte und lebenswichtige Mittel weltweit brachliegen, bloß weil sie dem Rentabilitätsfetisch nicht genügen. Für einen solchen "Einstieg in den Ausstieg" aus der Geldlogik könnte neben sachlichen Ressourcen paradoxerweise sogar auch wieder Geld vom Staat gefordert werden; und zwar für Investitionen, die dem Start in autonome Tätigkeiten dienen (das wäre etwas grundsätzlich anderes als ein Subventionsmodell). Die westdeutsche Bewegung für autonome Kommunikationszentren in den siebziger Jahren und die Hausbesetzerbewegung in den achtziger Jahren waren Vorläufer solcher Konflikte. Eine elementare Frage wird dabei zunehmend diejenige von Grund und Boden sein. Das Ziel kann nur heißen, die Erde von jeder Kauf- und Verkaufbarkeit auszuschließen, das heißt, sie als Grundlage allen Lebens vom Geld zu entkoppeln. "10 Kurz schließt, und das ist sehr bemerkenswert, zumindest in dieser Arbeit, den politisch erzwungenen Werttransfer vom kapitalistischen in einen autonomen Sektor nicht aus, im Gegenteil, er erscheint ihm offensichtlich als ernstzunehmendes Projekt. Anders gesagt, er stellt in diesem Artikel die Frage, wie der soziale Widerstand entwickelt und gefördert werden kann, welche politischen Forderungen zu erheben sind, damit gesellschaftliche Elemente entstehen können, die der Verwertungslogik (zumindest partiell) entzogen werden. Ich hätte dazu einen Vorschlag…11

    Karl Reitter ist Lektor am Institut für Philosophie an der Universität Wien.

Anmerkungen

    1 Joseph M. Gillman, Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, Frankfurt am Main 1969, S. 5.

    2 Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, 2. Auflage, Münster 1999, S. 331.

    3 c + v bilden den Kostpreis, also jene Summe, die in die Produktion zu investieren ist. Investitionen (Rationalisierungen) werden in der Regel nur dann vorgenommen, wenn sie den Kostpreis senken, wenn also das zu investierende Kapital zur Produktion der selben Gütermenge sinkt. Die Einsparung an Arbeitslöhnen (Dv) muß also größer sein, als die Mehrausgaben für Maschinerie usw. (Dc) Mathematisch läßt sich diese Bedingung durch folgende Ungleichung ausdrücken: Dc < Dv.

    4 Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, 2. Auflage, Münster 1999, S. 339f.

    5 Robert Kurz, Die Krise des Tauschwerts, „Marxistische Kritik“ Nr. 1, März 1986, S. 16.

    6 Karl Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 54.

    7 Der Ausdruck "Produktivkräfte" ist eigentlich irreführend. Es gibt nur Faktoren, die die Produktivkraft der Arbeit bestimmen; nur diese auf die Arbeit einwirkenden Faktoren können Produktivkräfte genannt werden.

    8 Daß es sich bei "Waren" auch um nicht gegenständliche Dienstleistungen handeln kann, dürft wohl selbstverständlich sein.

    9 Stefan Breuer hat, zumindest eine Zeit lang, diese Auffassung vertreten.

    10 Robert Kurz, Gibt es ein Leben nach der Marktwirtschaft? Überlegungen zur Transformation des warenproduzierenden Systems (2. Teil), „Neues Deutschland“, 18. /19. 6. 1994.

    11 http: //mailbox. univie. ac. at/~reittek6/ grundeinkommen. htm/i>

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