Die Poetik des Geldes

Die Europäische Zentralbank zaubert Milliarden aus dem Nichts. Das ist unsere Chance.

Von Stephan Eich
Süddeutsche Zeitung 22.1.2015

Wenn sich der Rat der Europäischen Zentralbank an diesem Donnerstag wie allseits erwartet trotz langen Zögerns und harter interner Debatten mehrheitlich für den Kauf von Staatsanleihen im Euro-Raum aussprechen wird, erscheint dies angesichts der diskutierten Summen wie Zauberei, wie moderne Alchemie. Doch die Alchemie hat System. Statt die Fiktionalität des Geldes zu verteufeln, sollten wir sie als faszinierenden Teil unserer Moderne verstehen.

Seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems Anfang der Siebziger leben wir in einer Welt vollkommen ohne Goldbindung. Durch einen sprichwörtlichen Mausklick können Zentralbanken in dieser Welt Geld schaffen, ohne dass dieses durch Goldreserven oder andere materielle Güter gedeckt wird. Das provoziert notwendigerweise Erstaunen. Als Großbritannien 1797 zum ersten Mal reines Papiergeld ohne Goldbindung einführte, sandte dies eine ganze Generation von Denkern auf die Suche nach Antworten zu Fragen der Authentizität und Echtheit von Werten.

Auch jetzt stellen kritische Stimmen die geldpolitischen Maßnahmen der EZB infrage. Es ist verlockend, die vermeintliche Alchemie des Geldes als Wurzel des Übels zu identifizieren. Seit Beginn der Finanzkrise fordern viele, Geld an Edelmetalle zu binden, etwa durch die inzwischen abgewiesene Schweizer Goldinitiative. Andere schmieden im selben Geiste Pläne, den alten metallenen Anker durch die kalte Logik eines unveränderbaren Computeralgorithmus zu ersetzen, der, wie im Falle der elektronischen Bitcoin-Währung, Geld vollkommen der direkten menschlichen Kontrolle entziehen soll.

Beide Reaktionen sind nachvollziehbar, aber irreführend. Denn unsere politische und soziale Welt von unseren Rechtsinstitutionen bis zur politischen Gemeinschaft selbst ist vor allem auch eine Welt der produktiven Fiktionen. Wir sind umgeben von fiktiven Institutionen, die nichtsdestotrotz realer kaum sein könnten. Die Fiktionalität modernen Geldes muss uns nicht überwältigen. Sie bietet, im Gegenteil, neue Möglichkeiten, weil wir die Institution des Geldes mit unseren politischen Idealen abgleichen können.

Schon 1797 reagierten die meisten Beobachter auf die Aufhebung der Goldbindung mit Panik und Schwarzmalerei. Doch als die erwartete Katastrophe ausblieb, wurde die poetische Kraft des neuen Geldes zunehmend sichtbar. Auf einmal war Geld nicht mehr bloß ein Haufen glänzendes Metall, sondern ein sprachähnliches Medium, das auf menschlicher Übereinkunft beruht. Novalis erkannte diese Analogie zwischen Geld und Sprache als einer der Ersten, als er von der „Poetisierung der Finanzwissenschaften“ sprach. Wie Jean-Claude Trichet, Mario Draghis Vorgänger an der Spitze der Europäischen Zentralbank, einmal überspitzt anmerkte, hat modernes Geld mehr mit Dichtung gemein, als wir oft annehmen.

Aber mit dem Aufstieg dieses sogenannten Fiatgeldes wurde auch das Zeitalter der Zentralbanken eingeläutet. Unter dem Goldstandard des 19. und 20. Jahrhunderts und dann unter Bretton Woods zwischen 1945 und 1973 war der Einfluss der Zentralbanken noch sehr begrenzt. Erst Richard Nixons Entscheidung, den Dollar vom Gold zu lösen, eröffnete ungeahnte neue Spielräume. Und diese wurden von vielen Zentralbanken – allen voran der Bundesbank – konsequent genutzt. Inflation oder eben Geldwertstabilität, beides waren Entscheidungen. In der schönen neuen Welt nach Bretton Woods stellte sich die fundamentale Frage nach der Regierbarkeit des demokratischen Kapitalismus aufs Neue: Wie kann eine Demokratie einen stabilen Wertanker bewahren, wenn die Institutionen, die dies ermöglichen sollen, selber demokratisch legitimiert sein sollen?

Eine Antwort auf diese Frage liegt in der Entpolitisierung wirtschaftlicher Institutionen. Unabhängige Zentralbanken verfolgen Inflationsziele und werden ansonsten vom politischen Prozess abgeschirmt. Ausgehend unter anderem von der Bundesbank wurde so im Laufe der Neunzigerjahre über faszinierende Umwege nahezu die gesamte OECD neu ausgerichtet. Das Resultat war eine leise Revolution.

Angesichts der Überfrachtung des politischen Systems in den Siebzigerjahren war die bewusste Entpolitisierung ökonomischer Institutionen ein durchaus nachvollziehbarer Zug. Die Finanz- und Euro-Krise stellt die vermeintlichen Vorteile dieser Lösung zunehmend infrage. Krisen rufen nach politischem Handeln. In Krisen wird sichtbar, was in ruhigeren Zeiten leicht verborgen bleibt. Geld ist nie nur ein ökonomisches Tauschmittel, sondern auch immer eine politische Institution.

Schon in der griechischen Antike, in der die Erfindungen der Philosophie und der Demokratie mit den allerersten Münzprägungen zusammenfielen, war die Verbindung zwischen Geld und Politik ein grundlegender Bestandteil politischen Handelns und Denkens. Im griechischen Wort für das neue Münzgeld lässt sich die politische Dimension gut ablesen: „nomisma“ stand für eine durch kollektive Anerkennung legitimierte Institution, die ähnlich dem Recht dem Gemeinwohl der politischen Gemeinschaft verpflichtet war. Aristoteles beschreibt Geld in diesem Sinne in der Nikomachischen Ethik sogar als unabdingbares Bindeglied zwischen den Bürgern einer politischen Gemeinschaft, in der Geld als Medium der Gerechtigkeit Überschuss und Mangel misst. Heutzutage kann uns diese politische Tradition des Geldes daran erinnern, dass selbst die Entpolitisierung des Geldes in den letzten 30 Jahren nicht als Selbstzweck missverstanden werden darf.

In Europa war die Lösung der entpolitisierten unabhängigen Zentralbank schon damals von einem Paradox geprägt. Der intellektuelle Sieg der Bundesbanker im Ausland verstärkte den Druck zur Errichtung einer europäischen Währungsunion. Diese sollte den enormen Schwankungen an den internationalen Währungsmärkten besser standhalten, brachte aber auch einen Bedeutungsverlust für die Bundesbank mit sich. In der EZB ist dieser Widerspruch institutionalisiert. Heute pochen Bundesbanker auf die politische Unabhängigkeit der EZB, versuchen aber gleichzeitig, direkt oder indirekt Einfluss auf ihre Entscheidungen zu nehmen. Das paradoxe Resultat ist, dass die Europäische Zentralbank ihre Unabhängigkeit durch die deutschen Unabhängigkeitsverfechter bedroht sieht.

Selbstverständlich muss man kritische Fragen zu den Heilsversprechen groß angelegter Staatsanleihenkäufe stellen. Doch statt sich in Ängste vor einer Flut billigen Geldes oder dem Unbehagen gegenüber Draghis vermeintlichem Vabanquespiel zu fliehen, bietet die Geldpolitik der EZB eine intellektuelle Einladung, sich mit der Politik und Fiktionalität des Geldes auseinanderzusetzen. Die erhabene Macht moderner Geldpolitik ist zweifelsohne überwältigend. Aber die rückbezügliche Logik modernen Geldes ist auch ein Kernmerkmal unserer Moderne. Erst wenn wir uns der poetischen Kraft unseres politischen und wirtschaftlichen Handelns bewusst werden, sind wir in der Lage, Geldpolitik in einen besseren Einklang mit unseren politischen Idealen zu bringen.

Der Autor arbeitet am Department of Political Science der Yale University.