Upload ins Jenseits

von Barbara Eder

Rezension zu: Max Franz Johann Schnetker (2019): Transhumanistische Mythologie. Rechte Utopien einer technologischen Erlösung durch künstliche Intelligenz, Münster: Unrast, 2019

Einen Versuch war’s wert: Als Nick Srnicek und Alex Williams vor knapp zehn Jahren Die Zukunft erfinden: Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit vorlegten, wollten sie die technologischen Möglichkeiten der Gegenwart in den Dienst des Fortschritts stellen. In ihrem Manifest entwerfen sie das Panorama eines „Luxury Automated Communism“ – eine Welt, in der Maschinen die gesellschaftlich notwendige Arbeit übernehmen und freie Zeit nicht bloß verlängert, sondern radikal ausgeweitet wird. An die Stelle von Reparaturarbeiten am Bestehenden tritt ein emanzipatorisches Ziel: „disposable time“ für alle – Zeit, die nicht verwertet werden muss, sondern infolge der maschinellen Arbeitsübernahme freigesetzt wird und vergemeinschaftet werden kann.

Srniceks und Williams Traum von einer linksakkelerationistisch gewendeten Vollautomatisierung, die sich bislang nicht einmal auf Betriebssystemebene hat realisieren lassen, sollte das linksradikale Projekt aus seiner Stagnation herausführen. Zurück in die Zukunft hieß, sich die Vermögen von Plattformen und Online-Marktplätzen anzueignen – und damit zurückzuerobern, was Amazon, Google & Co uns genommen haben: Steuerung, Planung und technische Infrastruktur. Die Algorithmen der Tech-Giganten ließen sich Open-Source-basiert weiterentwickeln – und die Weichen für eine sozialistische Zukunft ohne Arbeit schienen einen momentlang gestellt. Doch selbst am Horizont der utopischen Naherwartung bleibt die politische Ökonomie der Maschinerie unter der Herrschaft des Kapitals paradox: Trotz des zunehmenden Einsatzes von Automatisierungstechnologien verzeichnet Industriearbeit in weiten Teilen der Welt ein Wachstum. Die auf Tauschwert beruhende Produktion kollabiert infolgedessen nicht einfach, stattdessen erreicht die Vernutzung in und durch sie eine neue Dimension.

Mit Die Zukunft erfinden liegt ein Entwurf vor, der sich des gegenwärtigen techno-utopischen Überschusses bemächtigt – und damit nicht zufällig an die Machbarkeitsrhetorik der Socialist Calculation Debate der 1920er Jahre erinnert. Die technologischen Produktionsmittel von gestern, allesamt Kinder des Kalten Krieges, lassen sich jedoch nicht ohne Bruch in gemeinschaftliches Eigentum überführen. Mit den ersten Digitalisierungsoffensiven im vergangenen Jahrhundert hat die schleichende Mobilmachung von Nutzerdaten begonnen, heute gehören sie globalen Technologiekonzernen und der Big-Data-Branche, welche damit ihre KI-Anwendungen speist. In den Geräten, die unsere Online-Kommunikation strukturieren, steckt mehr als bloß Hard- und Software. Die Strategen des Silicon Valley haben ihren Produkten den Stempel der Herrschaft eingeprägt und sie als soziale Technologien maskiert – ausgerichtet auf Wettbewerb, Effizienz und Selbstoptimierung.

In Transhumanistische Mythologie. Rechte Utopien einer technologischen Erlösung durch künstliche Intelligenzgeht Max Schnetker der Ideologie hinter den Apparaten auf den Grund. Ihre prononciertesten Vertreter heißen nicht Nick Srnicek oder Aaron John Bastani, sondern Elon Musk und Peter Thiel. Für Letztere sind posthumanistische Ideen keine spekulativen Spielereien, sondern ernstzunehmende Glaubenssysteme im politischen Kampf um Hegemonie. Als Anhänger des Transhumanismus gehen sie davon aus, dass maschinelle Intelligenz sich kontinuierlich selbst verbessern und den Menschen demnächst übertreffen würde. Demnach nimmt der KI-Millionär und Technologieunternehmer Ray Kurzweil auch an, dass das exponentielle Wachstum an Daten zu einer schieren „Intelligenzexplosion“ führen müsse. Denkmodellen wie diesen begegnet Schnetker mit dem Begriffsbesteck des Ideologiekritikers. Er nimmt die sogenannte „Computational Metapher“ (CM) genauer in den Blick – und damit auch die Vorstellung, dass menschliches Bewusstsein nichts anderes als ein informationsverarbeitender Apparat sei. Analogien wie diese erweisen sich keineswegs als neu: Mal wurde der Mensch eine Dampfmaschine gedacht, mal als Uhrwerk – und heute eben als Computer; in der Ableitung selbst liegt jedoch schon der kategoriale Fehler begraben.

Der Longtermismus ist Bestandteil des Glaubenssystems der sogenannten „Effektiven Altruismus“-Bewegung. Ihre Vertreter:innen gehen davon aus, dass ethisches Handeln sich an den Interessen zukünftiger Generationen zu orientieren habe. Dahinter steht nicht etwa die Annahme, dass vorausschauende Planung Leben retten und Ressourcen schonen könnte, sondern die Präsupposition, dass das langfristige Überleben von Teilen der Spezies wichtiger sei als die Lösung gegenwärtiger Krisen. Eine „fehlgeleitete Superintelligenz“ könnte in ferner Zukunft größeren Schaden anrichten als die Verelendung ganzer Erdteile, so die geteilte Annahme. Überzeugte Transhumanisten halten es demnach auch für sinnvoller, Milliarden in KI-Sicherheit zu investieren anstatt in die Armutsbekämpfung – eine Abwägung, die nicht ohne utilitaristische Implikationen auskommt. Die „größtmögliche Zahl“ bezieht sich in diesem Fall nicht auf alle Menschen auf diesem Planeten, sondern auf die künftige Vermehrung der Eliten.

In Kapitel 5 seines Buches fächert Schnetker mögliche Parallelen zwischen Protestantismus und Longtermismus auf und bezeichnet letzteren auch als technokratische Variante des Calvinismus: Enthaltsamkeit, Effizienz und Zukunftsorientierung, einst religiös begründet, gelten innerhalb dieser Glaubenslehre als Tugenden und kehren als Pflicht zur Askese in die Gegenwart zurück. Der neue Jenseitsglaube heißt Superintelligenz, das Seelenheil besteht im finalen Upload. Und wie einst die Prädestinierten, so wähnen sich auch die heutigen Tech-Eliten – von William MacAskill bis Nick Bostrom – als auserwählt. Infolge der Verbindung von scheinbarer Wissenschaftlichkeit und spekulativer Eschatologie wirkt ihre Glaubenslehre metaphysisch und opak; zugleich immunisiert sie sich gegen jedwede Form der Kritik, indem sie ihre Prämissen als technologische Notwendigkeit ausgibt.

Schnetker gelingt es, die im Silicon Valley aus der Taufe gehobene Gemengelage aus Philosophie, Technikglaube und politischer Machtabsicherung zu durchleuchten, ohne in Alarmismus zu verfallen. Seine Kritik ist theoriegeleitet, pointiert und im besten Sinne aufklärerisch. Besonders brisant wirkt sie angesichts der neuen Herrschaftsallianzen in den USA: Peter Thiel, ein wichtiger Financier transhumanistischer Forschung, steht evangelikalen Kreisen nahe; Donald Trumps Vizepräsident J. D. Vance wurde protestantisch sozialisiert und ist später zum Katholizismus konvertiert. Mit Elon Musk sitzt einer der vehementesten Verfechter des Transhumanismus an den Schalthebeln der Macht. Der Glaube an eine höhere Ordnung, an den Triumph der Zukunft über die Gegenwart, verbindet sich in ihrem Denken mit der Rechtfertigung sozialer Exklusion. In Zeiten wie diesen ist Transhumanistische Mythologie eine notwendige ideologiekritische Intervention. Wer verstehen will, warum das von den Propheten des Longtermismus mantrahaft wiederholte Versprechen von der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft weit entfernt ist, sollte es lesen.

image_print