von Ortwin Rosner
„Immer wenn ein Mensch stirbt, stirbt ein Bewusstsein. Man muss sich das einmal vor Augen halten.“ – Diese Bemerkung kam aus dem Munde eines Geschichtslehrers, der uns (eine österreichische Schulklasse Anfang der 80er-Jahre) gerade vom Ersten Weltkrieg erzählt hatte und uns mit diesen Worten den Schrecken des Krieges überhaupt ausmalte, das grausame Schicksal der jungen gefallenen Soldaten. Woher er den Gedanken hatte, ob er ihn seinerseits irgendwo aufgeschnappt hatte oder ob er ihn im Laufe seiner Rede spontan aus seiner eigenen Seele gehoben hatte, das weiß ich nicht. Ist es denn überhaupt ein sonderlich origineller Gedanke, könnte man fragen, ist diese Aussage im Grunde nicht trivial? Warum soll man sich das „vor Augen halten“?
Doch wie es mit scheinbar trivialen Aussagen oft so ist, es hängt von dem Blick ab, welchen man darauf wirft, ob sie einem banal vorkommen oder ob nicht doch eine tiefe, fast unergründliche Weisheit aus ihnen spricht. Der Satz „Alle Menschen sind sterblich“ etwa scheint einerseits bloß eine Selbstverständlichkeit auszudrücken und gar nichts Besonderes zu besagen, nichts, was nicht jeder weiß. Sich bewusst zu machen, was er bedeutet, in seiner ganzen Tragweite, ist andererseits jedoch eine wahre Herausforderung. Hier beginnt die Philosophie. Und hier beginnt auch die Moral.1 Und hier beginnt daher auch der Widerstand gegen den Krieg und das organisierte Töten. Eins nämlich spiegelt sich in unserem Verständnis von Krieg und Frieden zuallererst wider: Unser Verhältnis zu Leben und Tod.
Denn das Morden beginnt viel früher. Es beginnt, noch ehe der Krieg selbst begonnen hat. Es ist ein geistiges Verbrechen, was dem Krieg zugrunde liegt, die physischen Taten sind nur eine Folgeerscheinung. Der Krieg steckt in unserer Zivilisation. Im Morden des Krieges drückt sich eine schrankenlos gewordene instrumentelle Vernunft aus, eine die ganze Erde bis in den letzten Winkel beherrschende Zweck-Mittel-Rationalität, ein Utilitarismus, der alle Dinge zusehends auf ihren bloßen Warencharakter reduziert, es aber nicht mehr in Betracht zieht, dass eine Existenz einen Wert bloß für sich selbst haben könnte. Es handelt sich um eine Art Moral, die gleichzeitig eine völlige Unmoral darstellt, denn sie besagt, dass dieser oder jener bestimmte Zweck – worin immer er auch konkret bestehen mag – die entsetzlichsten Mittel und Wege heiligt, und zwar, und darin liegt das eigentliche Verbrechen, so sehr heiligt, dass er in letzter Konsequenz sogar mehr wiegt als das, was uns doch im Grunde das Allerheiligste sein sollte: das Leben; sodass wir bereit sind, es zu beschädigen und auszulöschen, damit wir an unser Ziel gelangen.
Die geistigen Grundlagen des Krieges
Diese obskure Ethik, die, so behaupte ich, unsere moderne Welt beherrscht und die im Krieg bloß kulminiert, spiegelt nicht Ehrfurcht vor dem Leben wider, sondern das glatte Gegenteil davon: eine tiefe Verachtung für das Leben. Als Ethik des Krieges verhöhnt sie die, die sie in den Tod schickt, gerade dann am allermeisten, wenn sie ihnen scheinbar die Ehre erweist, indem sie sie als „Helden“ feiert. Ist dies doch lediglich eine gehobene Ausdrucksweise dafür, dass sie deren Existenz auf ein bloßes Mittel zur Erreichung eines vorgegebenen Zwecks reduziert, das heißt, sie als eigenständige Lebewesen negiert und zum Objekt erniedrigt. Man schüttelt heutzutage den Kopf über die Kultur der Azteken, welche glaubten, es wäre notwendig, ab und zu einem gefangenen Krieger, einem Sklaven, einer Frau oder einem wehrlosen Kind das Herz herauszuschneiden, damit die Sonne nicht aus ihrer Bahn falle. Man nimmt dies als Beweis für die Primitivität, Grausamkeit und geistige Rückständigkeit dieses Volkes. Aber bewegt man sich weniger in grausamen mythisch-archaischen Denkformen, wenn man jahrelang systematisch Friedensverhandlungen verhindert und dadurch schätzungsweise eine halbe Million ukrainische Soldaten auf dem Schlachtfeld sterben lässt, weil, wie es heißt, andernfalls der Westen unterginge und daher nur ein Sieg über Russland in Betracht käme – und das, obwohl, wie man ganz genau wissen müsste, dieser gar nicht möglich ist?
Der Krieg jedoch ist die Eskalation von etwas, was immer schon da ist. Lange bevor der Krieg anfängt, ist er bereits da gewesen, hat er sich in unserer Kultur vorbereitet, in Form einer maßlosen Unterwerfung und Ausbeutung alles Lebendigen, wie es selbstverständlicher Alltag in unserer Gesellschaft geworden ist. Dies nimmt Gestalt an in einem rein nur mehr auf Instrumentalisierung, Effizienz und Profiterwerb ausgerichteten Umgang mit den Dingen, denen wir keine davon eigenständige, unabhängige und darüberhinausgehende Bestimmung mehr zugestehen, darin, wie wir allmählich den letzten Rest von unberührter Wildnis auf dem Planeten beseitigen und die ganze Welt – inklusive der auf ihr existierenden Fauna und Flora – als bloße Material- und Energieressource für die Erzeugung von Gegenständen unserer künstlichen Produktlandschaften betrachten. Die fanatische Unterwerfung des gesamten Daseins unter die Axiomatik von finanziellem Gewinn, Konsum, gesellschaftlichem Erfolg und technologischem Fortschritt findet im Krieg nur ihre logische Vollendung, indem in ihm diese Maschinerie auf ihre eigentliche Essenz reduziert wird: auf die Unterwerfung des Lebens unter den Tod.2
Denn was der Mensch der Natur antut, das tut auch der Mensch dem Menschen an. In Gegenseitigkeit, aber auch jeder Einzelne sich selbst. Etwas von diesem Zusammenhang hat man in den 80er-Jahren gewusst, als die deutsche Linke noch die „Dialektik der Aufklärung“ zum Leitstern hatte und als die Grünen gerade dabei waren, die Friedens- und die Ökologiebewegung miteinander zu verknüpfen.3
Unser Alltag ist bereits mordend, sonst könnte nicht aus ihm der Krieg entstehen, sonst wäre uns das Morden fremd. Vieles muss schließlich in einer Kultur vorausgesetzt und bereits gegeben sein, damit ihre Mitglieder in den Krieg ziehen oder andere dorthin schicken können, damit sie an seinen Segen glauben, damit sie bereit sind, dieses oder jenes Ziel so wichtig zu nehmen, dass sie sagen: Das ist uns all die Toten, Verwundeten, all die Leichen und all die Leiden wert, dafür lohnt es sich, ganze Städte und weite Zonen unseres Planeten in Trümmer zu legen. Man muss vor allem in einem Übung erlangt haben: In einer bestimmten unbeirrbaren Art des technokratischen Denkens, in einer bestimmten Art des Rechnens insbesondere. Der amerikanischen Politikerin Madeleine Albright, die später auch US-Außenministerin wurde, ist 1996 diese Wahrheit herausgerutscht, als sie bei einem Fernsehauftritt zu den Auswirkungen der drakonischen Wirtschaftssanktionen gegen den Irak befragt wurde. Eine halbe Million irakischer Kinder seien an den Folgen der US-Sanktionen gestorben, ob sie denke, dass es diesen Preis wert sei, wurde sie gefragt. Und es entfuhr ihr die Antwort: „Es ist den Preis wert!“4 Eine Antwort, die sie später als einen „Fehler“ betrachtete (die Antwort wohlgemerkt; nicht etwa die Tat), aber eine unverhofft ehrliche Antwort, denn sie brachte damit den Tauschhandel des Krieges (und ein jeder Krieg ist letztlich solch ein Tauschhandel!) lapidar auf den Punkt: Das erreichte Ziel zählt mehr als Menschenleben, zählt auch mehr als das Leben von 500.000 Kindern.
Diese sind nicht mehr als nebensächliche Faktoren in einer kühlen Kosten-Nutzen-Rechnung. Wir hingegen aber, als Menschen, welche nicht bloß wie Computer und Maschinen funktionieren, sondern eigenständig denkende Vernunftwesen sein wollen, wir sollten uns die Frage stellen, ob „es“ (was auch immer damit gemeint ist) selbst nur das Leben eines einzigen Kindes wert gewesen sein kann und ob die Medienvertreterin, die hier die Frage an Albright gestellt hat, sollte sie sie ernst gemeint haben, nicht schon dadurch, dass sie darin überhaupt die Möglichkeit einer Aufrechnung in Betracht gezogen hat, gegen alles verstoßen hat, was in der abendländischen moralphilosophischen Tradition seit Immanuel Kant als Grundprinzip gilt. Niemals darf man, so sagt Kant, den anderen Menschen als bloßes Mittel zur Erlangung eines Zwecks ansehen.5
Bewusstseinsindustrie
Im Krieg spielt sich das schlimmste Versagen der Menschheit ab. Diese zu Beginn des 21. Jahrhunderts in die Hinterzimmer unseres Bewusstseins verdrängte Einsicht spiegelt sich in den großen pazifistischen Texten der Vergangenheit seit der „Klage des Friedens“ des Erasmus von Rotterdam6 und Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ genauso wider wie in den Stellungnahmen und Aktionen vieler, welche sich im Laufe des 20. Jahrhunderts auf die Spuren von Henry David Thoreau und Mahatma Gandhi begeben haben, sich für das Recht auf Wehrdienstverweigerung engagiert und den gewaltfreien zivilen Ungehorsam gepredigt haben. So banal kann die eingangs vorgelegte Aussage unseres Geschichtslehrers aus den 80er-Jahren dabei übrigens doch nicht gewesen sein, drückt sich schließlich darin ein inzwischen verloren gegangener spezifischer humanistischer Geist auf eine solche Weise aus, dass heutzutage nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass ihr Sinn allgemein verständlich wäre, während damals seine intuitive Erfassbarkeit grundsätzlich vorausgesetzt werden konnte. Jedenfalls steht der darin enthaltene Appell quer zum engen Inventar an Stehsätzen und Phrasen, welche heute den öffentlichen Diskurs maßgeblich bestimmen, und die Chance, dass in der Gegenwart ein Lehrer oder eine Lehrerin dergleichen ausspricht, mutet eher gering an. Der Fokus unseres Bewusstseins liegt heute, im Jahr 2025, entschieden ganz woanders als in den 60er-, 70er- und auch noch 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts.
Es wäre eine interessante Frage, inwieweit dabei die Beeinflussung durch die Medien eine Rolle spielt, denn schließlich sind es sie, die maßgeblich bestimmen, was wir in unserem Bewusstsein tragen, und das, was aus Fernsehen und Radio kommt sowie in den Zeitungen steht, unterscheidet sich heutzutage grundlegend von dem geistigen Material, mit dem wir damals gefüttert wurden, ganz abgesehen davon, dass wir es mittlerweile auch mit dem Internet zu tun haben. Hinzu kommen massive Umwälzungen des Bildungssystems, oder um es deutlicher zu sagen: ein drastischer Verlust an Bildung und insbesondere an der mittlerweile gar nicht mehr sonderlich erwünschten Fähigkeit, eigenständig zu reflektieren, ein Umstand, der zur fortwährenden Wiederholung vorgegebener Sprach-, Denk- und Gefühlsmuster führt, gekoppelt mit einem gleichzeitigen Überfluss an jederzeit elektronisch abrufbaren Informationen. Das, was man einmal „Humanismus“ genannt hat, ist im Schwinden begriffen, und das, was wir früher einmal „Bildung“ genannt haben, wurde dementsprechend durch etwas ersetzt, was ich „Bewusstseinsindustrie“ nennen möchte.
Die Entwicklung hin zum bellizistischen Bewusstsein war jedenfalls schleichend, es war nicht plötzlich, mit einem Schlag, im Februar 2022 vorhanden, die Veränderung vollzog sich vielmehr allmählich. Das öffentliche Bewusstsein hat sich langsam wie beharrlich während der vergangenen Jahrzehnte um 180 Grad gedreht. Denn es ist ein weiter Weg von der allgemeinen pazifistischen Grundstimmung der 70er- und 80er-Jahre über die Gutheißung des NATO-Angriffs auf Rest-Jugoslawien im Frühjahr 1999 und den von 9/11 ausgelösten weltweit geführten War on Terror der USA bis zu dem Punkt, an dem wir inzwischen angelangt sind und an dem Friedensdemonstranten von führenden Meinungsmachern so ohne weiteres beispielsweise als „Lumpenpazifisten“ bezeichnet werden und eine einst allgemein hochverehrte Persönlichkeit wie Gandhi plötzlich als „Knalltüte“ tituliert wird.7
Man darf allerdings nicht, dies sei eingeschoben, den Fehler machen zu glauben, diese allmähliche Veränderung der von den Medien erzeugten öffentlichen Bewusstseinslandschaft habe sich gleichsam von selbst ereignet. Die zunehmende Einflussnahme politischer Machtapparate auf journalistische Inhalte via Nachrichten- und PR-Agenturen und sogar auf Hollywood-Produktionen, die Vernetzung des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) mit der Kulturindustrie und Medieneliten ist wohldokumentiert und von solcher Bedeutsamkeit, dass manche es mittlerweile vorziehen, vom „Militärisch-Industriell-Kommunikativen Komplex“ (MIKK) zu sprechen.8 Was wir heute in der Zeitung lesen, wurde gestern möglicherweise von der AP (die in New York ansässige Associated Press gehört neben der britischen Reuters und der französischen AFP – Agence France Press – zu den drei den globalen Nachrichtenmarkt beherrschenden Agenturen) in Umlauf gesetzt, und diese musste dabei höchstwahrscheinlich den von den US-amerikanischen Regierungsbehörden vorgegebenen Narrativen folgen.9 Dass man dabei zuerst an den einzelnen kleinen namenlosen ukrainischen oder russischen Soldaten denkt und darum an eine Beendigung des Krieges, kommt dabei nicht mehr vor, sondern nur all das, was ihn legitimiert.
Das millionenfache Aztekenopfer
„Immer wenn ein Mensch stirbt, stirbt ein Bewusstsein. Man muss sich das einmal vor Augen halten.“
Kommen wir auf diesen Satz meines Geschichtslehrers wieder zurück. Die Unmöglichkeit, sich das vor Augen zu halten, wenn es sich nicht um einen einzigen Menschen, sondern, wie im Krieg, um hunderttausende oder Millionen Tote handelt, und ihrer überhaupt auf angemessene Weise zu gedenken, bildete den wesentlichen Angelpunkt der Anti-Kriegs-Betrachtungen des Philosophen Günther Anders: „Und versuche einer einmal, das Bild von Millionen heraufzubeschwören. Von Millionen von Toten.“10
Albright bejaht die Frage, ob „es“ (was auch immer) das wert gewesen sei, nämlich das Leben einer halben Million Kinder zu opfern. Eine halbe Million, eine Zahl, die von der Interviewerin einfach so dahingesagt wird, eben nur eine Zahl, abstrakt, wie Zahlen nun einmal abstrakt sind – was Technokraten allerdings nicht daran hindert zu glauben, mit ihnen ließe sich die Wirklichkeit objektiv darstellen, während sie tatsächlich die grausame Wirklichkeit eher verdecken als zeigen.
Mit Zahlen hat Anders sich nicht zufriedengegeben.11 Ende der 50er-Jahre hat er das Atomopfer-Hospital in Hiroshima besucht, sich die verstümmelten und dem Tode geweihten Kranken leibhaftig angesehen und mit Betroffenheit ihren Erzählungen und Berichten gelauscht, um wenigstens halbwegs eine Vorstellung vom Grauen zu erhalten, und er hat darüber geschrieben, um die Erinnerung daran wachzuhalten. Etwas, woran der für den Atombombenabwurf oberste Verantwortliche, US-Präsident Harry Truman, kein Interesse hatte, der stattdessen aus ferner Distanz verlautbarte, er empfinde keine „pangs of conscience“ – ihn plage nicht das schlechte Gewissen.12 Ein Bruder Albrights im Geiste, welche gleichfalls nicht auf die Idee gekommen wäre, in den Irak zu reisen, um die Opfer ihrer Politik und deren Hinterbliebene persönlich aufzusuchen und dabei vielleicht gar so etwas wie Reue zu empfinden. „Es“ (was auch immer) war auch ihm ein paar hunderttausend Menschenleben wert, die in diesem Fall sogar mit einem Schlag vernichtet worden sind.
Auf der Rückreise aus Japan, so berichtet Anders,13 sitzt neben ihm im Flugzeug ein Mann, der ihm nachdrücklich erklärt, warum das alles notwendig sei: Der atomare Schrecken, die Bedrohung. Der Mann rechtfertigt dies alles mit einem Argument, das uns Heutigen nach wie vor bekannt vorkommen könnte: Es gehe um die Verteidigung der „freien Welt“. Sie müsse gegen die Bedrohung durch den Totalitarismus geschützt werden – und da sei der Tod nicht das Schrecklichste.14 Dies also wäre demnach jenes ominöse „Es“, das alle diese Preise wert sein sollte, all die Toten und Verstümmelten. Dies wäre also jener über allem Übrigen stehende Zweck, dem wir das Aztekenopfer zu bringen hätten und der alle Mittel heiligen solle, mehr wert als das Leben.
Anders erwidert seinem Gegenüber, „daß es absurd ist, die Freiheit dadurch retten zu wollen, daß man die eine Spielart des Totalitarismus gegen die andere mobilisiert“15. Wäre jedoch nicht gegen Albright etwas Ähnliches einzuwenden? Ist es denn nicht totalitaristisch, wenn man glaubt, es sei in Ordnung, eine halbe Million Kinder zu opfern für das Erreichen seiner politischen Ziele? Und ist es denn nicht totalitaristisch, wenn man ein Land wie die Ukraine für die Verteidigung westlicher Werte in den Untergang schickt und jeden, der Einspruch dagegen erhebt, als „Putinversteher“ brandmarkt – wenn man also die Freiheit gerade dadurch verteidigt, dass man den Menschen die Freiheit (und darüber hinaus auch gleich noch ihr Leben) nimmt?
Das Maschinenherz
Sowohl der Theologe und Mediziner Albert Schweitzer – welcher den meinem Aufsatz den Titel gebenden Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben entworfen und ihn als einzig taugliche Grundlage einer wahren Ethik angesehen hat16 – als auch Günther Anders haben in der Maschine, das heißt in unserem Verhältnis zur Technik, einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der moralischen Probleme der modernen Kriegsführung gesehen.17 Die Fernwirkung der modernen Waffen sei es, die es bewirke, dass unser Gewissen nicht beunruhigt werde, wenn wir töten, verstümmeln und verletzen, denn wir seien mit dem Leiden und Sterben des anderen Menschen nicht unmittelbar konfrontiert.18 Eine anschauliche Bestätigung erfuhr diese These jüngst durch die Schilderung des britischen Königssohns Harry, welcher ohne Anzeichen von Reue davon berichtete, als Soldat in Afghanistan von seinem Kampfhubschrauber aus 25 Menschen umgebracht zu haben. Der Grund dafür, dass er dies so einfach, ohne widerstrebende innere Regung, tun konnte: Sie seien für ihn bloße „Schachfiguren“ gewesen. „Du kannst niemandem wehtun, wenn du sie als Menschen siehst“, erklärt er diesen Umstand. Und ohnehin habe er sie bloß als bad guys wahrgenommen, die er zu eliminieren habe, bevor sie good guys ermorden.19
Diese Sichtweise sei ihm während seiner militärischen Ausbildung beigebracht worden, legt er weiters dar. Anschaulicher als durch die Aussagen Harrys kann man wohl nicht vor Augen geführt bekommen, wie Kriegspropaganda und militärische Erziehung funktionieren: nämlich indem sie den Gegner entmenschlichen und zum bloßen Objekt, zu einem Gegenstand oder Ding herabsetzen. Erschütternd ist es allerdings allemal, dass der Prinz nicht einmal in der Rückschau, aus einer zeitlichen Distanz von ungefähr doch immerhin zehn Jahren, in der Lage zu sein scheint, darüber ein wenig tiefergehend zu reflektieren und die geistigen Prinzipien, denen er im Krieg gefolgt ist, infrage zu stellen. Das kann er vielleicht aber gar nicht: Denn dann müsste er sich plötzlich eingestehen, dass er ein Massenmörder ist.
Die Gegenfigur zu Harry stellt Claude Eatherly20 dar – eine tragische Gestalt, die, anders als der Regenbogenpresse-Prinz, inzwischen aus unserem kollektiven Gedächtnis getilgt worden ist, und das nicht grundlos: Sie will gar nicht zu unseren hübschen Erzählungen des glorreichen Westens passen. Eatherly war ein junger US-Pilot, als er den Befehl bekam, sich am ersten militärischen Einsatz einer Atombombe zu beteiligen, der über der japanischen Stadt Hiroshima am 6. August 1945 stattfand. Das Ergebnis kennen wir: Durch einen einzigen Knopfdruck wurden mit einem Schlag ungefähr 200.000 Menschenleben vernichtet. Eatherly warf die Bombe zwar nicht selbst ab, aber er kommandierte das Führungsflugzeug und gab das entscheidende Signal für den Abwurf. Anders als beim Mitglied der britischen Königsfamilie begann in seinem Fall jedoch danach das Gewissen zu arbeiten: Er verstand, dass er nun ein Massenmörder war.
Und er zerbrach daran beinahe. Und – bekam Schwierigkeiten mit der Gesellschaft: Denn die US-Politik brauchte ihre Helden. Einen Soldaten aber, der, anstatt sich als Held zu fühlen, in aller Öffentlichkeit seine Tat bitter bereute, den konnte sie nicht gebrauchen.21 Als Eatherly die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen wollte, dass hier ein Verbrechen geschehen war, steckte man ihn für viele Jahre in eine psychiatrische Anstalt. Manches an seinem Schicksal erinnert an den Fall Julian Assange. Das ist das, was passiert, wenn einer wirklich ein Gewissen hat.
Was ist aber mit den anderen, mit der Mehrheit der Soldaten, mit denen, die keines zu haben scheinen? Was mit jenen politischen Machthabern, die keines zu haben scheinen?
Albert Schweitzer gibt in seinen Schriften die Erzählung von der Begegnung eines Schülers des Konfuzius mit einem Gärtner wieder, der, anstatt sich seine beschwerliche Arbeit dadurch zu erleichtern, dass er sich das Prinzip des Ziehbrunnens zunutze macht, lieber jedes Mal persönlich hinunter zum Wasser steigt und es selbst hinaufträgt. „Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz; wer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren“22, legt der Gärtner dem Schüler des Konfuzius dar und begründet so seine Weigerung.
Albright, Truman, Prinz Harry, die Soldaten, die heutigen Politiker … sie sind solche Wesen mit Maschinenherz. Sie sitzen an und in Maschinen und bedienen sie. Andere Menschen, denen sie befehlen und mit denen sie umgehen, sind für sie ebenfalls bloß Gerätschaften, nicht mehr. Das heißt: Sie verwenden sie so, wie sie sie für ihre Zwecke brauchen. Und das hat sie am Ende selbst zu Maschinen werden lassen.
Krieg als Arbeit und der Tod als Ware
Denn zum einen gibt es einen weiteren Einwand gegen die Argumentation einer Albright oder auch des Sitznachbarn von Günther Anders im Flugzeug, einen Einwand, den wir noch gar nicht erwähnt haben: Nämlich den, dass sie – und das gilt auch für alle heutigen Politiker und Meinungsmacher, welche Aufrüstung und Krieg befürworten –, wenn sie von einem „Preis“ sprechen, der es wert wäre, bezahlt zu werden, oder wenn sie von „Opfern“ sprechen, die wir alle bringen müssten, dabei übergehen, dass doch nicht sie selbst es sind, die diesen Preis bezahlen, sondern dass es immer andere sind, die ihn für sie bezahlen.23
Eine halbe Million irakische Kinder sind ums Leben gekommen, einer Albright selbst hingegen ist nicht nur kein Leid geschehen, sie war überhaupt nie in Gefahr. Mehr als eine halbe Million Ukrainer sind gefallen, jenen Politikern und Alphajournalisten, die den Krieg von ihrem Schreibtisch aus dirigiert und ihn für „notwendig“ erklärt haben, sind fernab jeder Bedrohung. Für den Tod der Kinder im Gazastreifen gilt natürlich das Gleiche. Nicht die Entscheidungsträger, sondern sie sind das Opfer, das gebracht werden muss, der „Preis“, der gezahlt werden muss – für „es“ (was auch immer). Damit die Sonne nicht aus ihrer Bahn fällt. Das Aztekenopfer.
Das Opfer, wir haben es schon erwähnt, wird dabei dargebracht nach einer Logik des Tausches, eines Tauschhandels, es ist der „Preis“, den etwas kostet, das man haben will, oder ein Ziel „wert“ ist, das man erreichen will. Was heißt das aber? Es bedeutet, dass der moderne Krieg nicht nur seinen äußeren Zwecken nach (etwa, weil er um wirtschaftliche Ressourcen geführt werden würde) mit dem kapitalistischen System in Komplizenschaft stünde, sondern dass er seiner innersten Logik nach, seiner mentalen Struktur und Denkweise, ja seiner bloßen Möglichkeit nach, zutiefst in den geistigen Prinzipien der Marktwirtschaft verwurzelt ist: Er wird abgewickelt wie der Austausch von zwei Waren. Der Machthaber sagt: Ich gebe das Leben dieser oder jener Leute, dafür erhalte ich das und das.
Auch von dieser Seite erweist sich also, wie tief der Krieg in unserer Zivilisation verwurzelt ist, er ist nichts, was sich zufällig in ihr ereignet, er ist auf das Engste mit ihren geistigen Grundlagen verwoben. Natürlich wird der Machthaber dabei vermeiden, sich selbst zum Opfer zu machen. Er setzt den Preis fest, den andere bezahlen müssen. Er stellt dieses Opfer als unvermeidlich hin. Er blendet die einzelnen konkreten Menschenschicksale aus und reduziert die Leben, die dabei ausgelöscht werden, auf „Schachfiguren“ und Ähnliches, dehumanisiert sie.
Dies ist die eine Seite der Medaille. Wie Günther Anders zusammen mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk hervorhebt, wie auch die Aussagen Albert Schweitzers implizieren, kommen in diesem Transformationsprozess jedoch auch nicht die Machthaber beziehungsweise diejenigen, welche aus sicherer Entfernung den Knopf drücken, die ausführenden Soldaten, die Hubschrauberpiloten, welche wie Prinz Harry ihre Geschosse auf tief unter ihnen befindliche wehrlose Personen abfeuern, ohne Schaden davon. Nicht nur mit den Opfern, sondern auch mit den Tätern richtet der Krieg etwas an. Er verändert auch sie. Das Aztekenherz, das geopfert wird, ist am Ende ihr eigenes. Sie bezahlen, indem sie ihr eigenes Herz in ein Maschinenherz verwandeln, indem sie selbst sich in Maschinen verwandeln. Es geht nur mehr darum, dass sie im System wie ein Arbeiter im Betrieb zu funktionieren haben, sie vollführen mit anderen Worten das Morden, das sie bewerkstelligen, wie einen Arbeitsschritt, welchen sie auf dem ihnen zugewiesenen Arbeitsplatz zu erledigen haben, wie einen bloßen „Job“ unter vielen.24
Denn im kapitalistischen System ist alles, was man auf der Welt tut, ein „Job“ – selbst das Töten. Mit anderen Worten: Selbst der Tod ist nur eine Ware, die produziert wird, eine unter vielen Waren, die hergestellt werden. Oder, wie es Günther Anders formuliert, der Krieg besteht heutzutage in einer „maschinellen Produktion von Leichen“25. Er weist darauf hin, dass sogar der Soldat Claude Eatherly, bei dem sich nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima so sehr das Gewissen geregt hat, dennoch jenen Ausdruck – „Job“ – dermaßen verinnerlicht hat, dass er auch im Nachhinein noch davon Gebrauch macht, nicht nur, wenn er von seiner inzwischen selbst von ihm verabscheuten Tat erzählt, sondern sogar dann noch, wenn er von seinem pazifistischen Engagement spricht. Anders legt dar, dass es sich um einen verharmlosenden Begriff handelt, dessen Gebrauch eigentlich „die Mobilisierung des eigenen Gewissens und die Übernahme von Verantwortung überflüssig [macht]“26. Man reduziert sich dadurch selbst zu einem bloßen „Schräubchen im Apparat“27, man leistet einen Akt der „Selbstverdinglichung“28, löscht seine eigene Persönlichkeit aus, dehumanisiert sich selbst.29
Robert Jungk führt (in seiner Einleitung zum Briefwechsel von Günther Anders mit Claude Eatherly) auf prophetische Weise aus, wie eine solche Kriegsmaschinerie aufgrund ihrer „geistigen Rückwirkung“30daran ist, nicht nur das Land der Opfer, sondern auch die Gesellschaft der Täter – er spricht hier in erster Linie von den Vereinigten Staaten – zu verändern: Es „brechen die Grundlagen unserer moralischen und politischen Existenz zusammen. […]“, denn die modernen Kriegsmethoden (aus seiner Zeit heraus denkt R. J. dabei hauptsächlich an die Atomdrohung, als heutiger Leser muss man hier also einiges ummünzen; man könnte etwa an die üblich gewordenen Drohnenmorde denken) „höhlen die Demokratie aus […], sie bewirken eine allgemeine Brutalisierung der Waffenträger, die stets zum Letzten fähig und entschlossen sein müssen. Sie zerstören den inneren Glauben der atomgerüsteten Länder an ihre eigene Menschlichkeit und Sittlichkeit.“31
Ist es nicht dieser moralische Zerfall, welchen wir heutzutage sehen, wenn wir die westliche Welt betrachten?
Die modernen Aztekenpriester
Jungk vertritt die Auffassung, jene „geistige Rückwirkung“ habe die Besitzer der modernen Kriegsmaschinerien – heute sprechen wir von den „Eliten“ oder den Angehörigen des „Establishments“ – „im wörtlichsten Sinne des Wortes verrückt gemacht“, und er meint, es handle sich dabei um „eine Verrücktheit, die umso gefährlicher ist, als ihre Vertreter vernünftig zu sprechen scheinen“.32
Eine Barbarei, welche immer schon in unserer Zivilisation verborgen ist, eine völlige Irrationalität, welche im Mantel der Rationalität daherkommt: Das ist die Kehrseite jener absoluten Instrumentalisierung der Gegenstände der Welt durch den Menschen, mit der wir es heutzutage zu tun haben und die uns bereits in der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verfassten Schrift „Dialektik der Aufklärung“33 der beiden Sozialphilosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begegnet: Der moderne Mensch reduziere die Dinge zum bloßen Mittel für seine Zwecke, aber dadurch instrumentalisiere er sich selbst, mache er sich selbst zum bloßen Instrument, Mittel, tue er sich selbst Gewalt an, töte etwas in sich selbst, in einem Akt der inneren Selbstaufopferung lösche er vielleicht das aus, was das Leben überhaupt erst lebenswert mache, das eigentlich Lebendige, sodass am Ende instrumentelle Vernunft mythische Gewalt (= die Logik des altertümlichen Opferrituals) im neuen Gewand des rationalen Tauschakts reproduziere – das ist eine der zentralen Thesen des Buches. Nicht nur der am Opferaltar Liegende, in dessen Brust der Aztekenpriester mit dem Messer hineinschneidet, erleidet also etwas, sondern auch der Priester selbst richtet in diesem Augenblick etwas mit sich an, auch er opfert etwas in sich, macht sich zum Ding, anstatt eine selbstständige, freie Persönlichkeit mit einem eigenen Gewissen zu sein, er unterwirft sich einer Maschinerie und lässt sich auf einen vorgeblich göttlichen Tauschhandel ein, vernichtet aber tatsächlich das Heiligste, das Leben. Um „es“ (was auch immer) zu erhalten. Die modernen Aztekenpriester sind wir: „[…] wir Heutigen bestehen aus zahllosen virtuellen Claudes, denen dasselbe zustoßen könnte, was Claude zugestoßen ist: nämlich als Apparatstück zum Mitverbrecher zu werden“34, warnt Günther Anders.
Aber glaubten wir nicht, weiter zu sein als die Vertreter einer altertümlichen Kultur, welche vermutlich unseren Begriff des Individuums und damit den der eigenen, freien Gewissensentscheidung noch gar nicht kannte? Ja, vielleicht waren wir das zwischendurch, in Ansätzen, aber unser humanistischer Fortschritt hat mit unserem technischen schlussendlich nicht Schritt gehalten. Eine Diskrepanz, die Günther Anders und Albert Schweitzer immer wieder betonen: Wir haben das technische Potential, um x-mal den Planeten zu vernichten – aber wir können uns nicht vorstellen, was das eigentlich heißt.35 Wir halten uns den untergegangenen Kulturen alter Völker für so überlegen, weil wir über Technik und Wissenschaft verfügen – aber unsere Seele und unseren Geist haben wir verkümmern lassen. Und gerade für die Entwicklung des gesellschaftlichen Diskurses der vergangenen Jahrzehnte, ungefähr seit den 80er-Jahren, gilt dies meines Erachtens ganz besonders, noch viel mehr als für den Zeitraum, in dem Anders, Jungk und Schweitzer gelebt haben. Der Kriegsdiskurs, mit dem wir es aktuell zu tun haben, ist nur das Resultat dieser negativen Entwicklung, welche schon seit längerem zu beobachten war. Wieder werden wir auf den Punkt geführt: Es ist ein geistiges Problem, mit dem wir es zu tun haben, ein Problem, das tief in unserer Kultur steckt, viel tiefer, als wir glauben, und darum in unserem sogenannten Alltagsleben verwurzelt ist. Der Ukraine-Krieg, die Vernichtung von Leben im Gaza-Streifen und viele andere Kriege, welche auf dem Erdball toben und vielleicht weniger unsere Aufmerksamkeit erregen, aber auch geschehen, sind vielleicht nur der drastischste Ausdruck dieses einen Problems.
Die falsche Ethik des Utilitarismus
Wenn ich sage, dass es sich um ein „geistiges“ Problem handelt, so stellt dies keinen Widerspruch dazu dar, dass es sich auch um ein materielles Problem handelt, sofern man darunter nicht bloß die Materie meint, wie sie ein Physiker versteht, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Zusammenlebens, wie sie Überformungen unserer natürlichen Bedürfnisse darstellen, um ein Problem unserer Wirtschaft also, oder um es weiter zu fassen: überhaupt unseres Umgangs mit den Dingen und mit uns selbst.
„Ein Wirtschaftssystem wie das unsere kann Frieden nicht wollen“36, sagt der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann und zielt dabei auf den Umstand ab, dass im Raum der Wirtschaft immer schon Krieg herrscht, schon lange bevor sich das abspielt, was wir üblicherweise als Krieg bezeichnen – eine „Welt der permanenten Konkurrenz“.
„Die Definition der Demokratie selbst widerspricht der Spezialisierung und der Arbeitsteilung“37, konstatiert wiederum Günther Anders und meint damit den schon genannten Umstand, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft der Einzelne nur mehr ein „Schräubchen im Apparat“ ist, das bloß den Auftrag ausführt, der ihm erteilt wurde, ohne sich für die Folgen seiner Taten verantwortlich zu fühlen. Was im Extremfall dazu führt, dass einer seinen „Job“, also sein Geschäft, sogar darin sieht, Menschen umzubringen, und das auch gehorsam tut, nur deswegen, weil es ihm anbefohlen wurde, ohne dass er dabei eine Gewissensregung verspürt. Es geht also um die unserem Wirtschafts- und Arbeitssystem innewohnende Erosion politisch-moralischen Bewusstseins.
Darüber hinaus ist zu sehen, dass sich ein Menschentyp durchgesetzt hat, für den eine große unhinterfragte Prämisse über allem steht: nämlich die, dass die Welt ihm gehöre und dass es nur darum gehe, möglichst viele Stücke davon in einem – wenn nötig auch militärischen – Wettkampf gegen andere an sich zu reißen.
Der im Kontext des Umweltschutzes seit den 80er-Jahren oft zu hörende Satz, wir hätten „die Erde von unseren Kindern nur geborgt“,38macht es im Übrigen um nichts besser. Nur dadurch, dass der absolute Besitzanspruch der Menschen auf die Welt in die nächste Generation verlagert wird, ist er um nichts weniger problematisch.
Die fraglos vorausgesetzte Reduktion der Gegenstände und Lebewesen der Welt darauf, nur mehr Objekte des einen oder anderen Interesses zu sein, führt dazu, dass man zurzeit auch gerade in Kreisen, welche gegen den Krieg sind, oft davon spricht, man müsse die „Interessen der anderen Seite“ (gemeint ist Russland) berücksichtigen. Das hat im derzeitigen Kontext zwar eine gewisse Berechtigung. Trotzdem beginnt der wirkliche Pazifismus erst dort, wo es nicht bloß um „Zwecke“ und „Interessen“ geht, mit anderen Worten um Macht, sondern um eine grundsätzlich andere Ethik.39 Ähnlich verhält es sich mit dem beispielsweise von der deutschen Politikerin Sahra Wagenknecht40 immer wieder vertretenen Standpunkt, Deutschland solle mehr auf seine „eigenen“ – nationalen – Interessen schauen, anstatt die Interessen der USA zu vertreten. Hieße das aber, wenn man also für die Interessen Deutschlands zu Felde zöge, wäre für Wagenknecht der Krieg plötzlich in Ordnung?41
Darum hat auch die Formel des „Interessenausgleichs“ ihre Grenzen. Eine Ethik, der es nur um die „Interessen“ geht – gleich welche, und handelte es sich um scheinbar noch so edle Ziele, und sind es nicht einmal die eigenen, sondern sogar die eines anderen –, läuft am Ende unweigerlich darauf hinaus, dass der Zweck die Mittel heiligt. Dann zieht man zwar nicht für sich selbst, sondern vorgeblich für die Solidarität mit den Ukrainern oder für die Interessen irgendeines anderen Volkes in den Krieg, verrichtet aber trotzdem weiterhin sein zerstörerisches Handwerk. Dann geschieht am Ende wieder genau das, was wir oben beschrieben haben: Das „Es“ (was auch immer) wird mehr wert als alles andere, mehr als das Leben einer halben Million Kinder. Man mündet früher oder später unweigerlich in die Logik des modernen Aztekenopfers ein. Und es kommt zu Perversionen jener Art, mit der wir es heutzutage zu tun haben: dass man beispielsweise Freiheit und Demokratie gerade im Namen des Kampfes für „Freiheit“ und „Demokratie“ abschafft.
Die utilitaristische Warenform als heutiger Zustand des Geistes
Eine tiefe Ahnung davon durchweht das Werk Kants, welcher sehr genau gewusst hat, dass das Reich der Moral und die Sphäre der Zwecke zwei ganz unterschiedliche Dinge sind und dass man jenes dieser nicht unterwerfen darf. Er hat darum die Unterscheidung zwischen dem moralischen Politiker und dem politischen Moralisten eingeführt. Beide beziehen sich auf die Moral, aber auf völlig unterschiedliche Weise. Die beiden sind so ziemlich das Gegenteil voneinander, indem der politische Moralist eigentlich unmoralisch ist, das heißt, er instrumentalisiert die Moral nur, um seine Zwecke zu erreichen. Er ordnet also die moralischen Grundsätze dem Zweck unter oder „spannt“, wie Kant es ausdrückt, „die Pferde hinter den Wagen“42.
Es ist offensichtlich, welcher Typus heute die absolute Oberhand hat. Kant war freilich weit davon entfernt, die Orwell’schen Praktiken der Propaganda vorauszusehen, mit denen wir es mittlerweile zu tun haben. Aber auch Günther Anders hat sich nur am Rande mit dem Phänomen der Propaganda beschäftigt, und ich habe sogar den Eindruck, er hat ihm zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.43
Was aber ist Propaganda überhaupt? Auch hier gilt, ähnlich wie für den Krieg, dass man sich im Irrtum befindet, wenn man sie für ein peripheres Phänomen hält, welches gleichsam zufällig zu unserer Kultur hinzukommt, als etwas ihr Äußerliches. Tatsächlich handelt es sich bei ihr um ein geistiges Prinzip, das zutiefst in unserer Gesellschaft verankert ist. Propaganda ist der heutige Zustand des Geistes.
Propaganda ist nun im Kern nichts anderes, als der Versuch, genau jene Lücke zwischen der Moralität und den Interessen zu schließen, von welcher wir soeben gesprochen haben, indem sie das an den eigenen Interessen orientierte Handeln anderen gegenüber als moralisch ausgibt.44 Sie bedeutet aber noch mehr: nämlich dass die utilitaristische Warenform, die Verdinglichung, auch auf unsere geistige Tätigkeit übergreift.
Wir empören uns zu Recht über Propaganda. Aber ist sie nicht die Konsequenz dessen, dass wir die Dinge nur als Ware betrachten? Auch die Sprache, das Denken, Reflexion, Information, Wissen und überhaupt alles, was man als sogenannte „Meinungsbildung“ bezeichnet, sowie die damit verbundenen Emotionen und Gefühlszustände sind somit zu Waren geworden, und selbst die Moral ist bloß noch eine Ware.45 Die ganze Welt ist Werbung geworden, könnten wir frei nach Adorno sagen,46 aber das heißt auch, und das kommt bei ihm meines Wissens nicht vor, dass selbst die Ethik nur mehr eine Abteilung der Werbeindustrie ist. Dies alles ist jedoch ein Resultat davon, dass Medien, PR- und Nachrichtenagenturen sowie Werbeunternehmen den gesamten öffentlichen Diskurs mittlerweile fabrikmäßig herstellen.
All die Verrücktheiten, mit denen wir es heutzutage zu tun haben, haben hierin ihre Wurzel. Wir wundern uns über absurde Slogans wie etwa die Behauptung, dass Waffen Frieden und Impfungen die Freiheit brächten, oder darüber, dass gerade diejenigen, die sich zurzeit selbst faschistoid verhalten, andere als „Nazis“ bezeichnen, ja, wir befinden uns jeden Tag inmitten eines Wusts von bei näherem Nachdenken sinnlosen oder widersinnigen und einander auch widersprechenden Verlautbarungen. Aber ist das nicht das logische Resultat davon, dass wir mit dem Weihnachtsmann Werbung für Coca-Cola machen – ein Umstand, der um nichts weniger absurd ist, den wir aber schon hinzunehmen gewohnt sind?
Dies ist das Ergebnis dessen, dass wir nicht nur die materiellen Gegenstände, sondern auch Geistiges, Begriffe, nur mehr als Versatzstücke gebrauchen, als Maschinenteile – als „Wunschmaschinen“, wie sie die beiden postmodernen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari beschrieben haben47 –, welche wir zusammenschalten und auseinanderreißen, wie es uns gefällt, ohne uns mehr um ihren Sinn zu bekümmern. Denn für uns zählt nicht mehr, was die Worte bedeuten, und schon gar nicht ihr tieferer Gehalt, sondern nur mehr, dass sie funktionieren, ihr bloßer Effekt, ihre Wirksamkeit. Die Folge davon ist, dass wir es im öffentlichen Diskurs mit einer tiefgreifenden Erosion begrifflichen Denkens zu tun haben.
Schlussfolgerung: Den Krieg mit den Dingen der Welt beenden
Vielleicht seitdem beim Menschen die Intelligenz erwacht ist, befindet er sich im permanenten Krieg mit den Dingen. Sie sich zu unterwerfen und nutzbar zu machen, ist sein oberstes Ziel. Die Ideen moderner Technik unterscheiden sich hier nicht grundlegend von den altertümlichen Ritualen der Magie, mögen sie auch ungleich effizienter sein. Ursprünglich zum bloßen Zweck des Selbsterhalts gedacht, später zur Erreichung der einen oder anderen Annehmlichkeit im Leben nützlich, verwandelten sie sich allmählich zu Instrumenten immer totaler werdender Herrschaft und Gewalt über alles auf dem Planeten, was es auf ihm nur gibt, über alles, was auf ihm kreucht und fleucht – und auch des Menschen über den Menschen.48
Sogar an die Eroberung und Unterwerfung des Weltraums denkt man mittlerweile: Man will den leeren, öden, toten Mars besiedeln – während man, und das ist das eigentlich Absurde, gleichzeitig die fruchtbare, lebendige Erde zerstört. Auch hier setzt sich die Warenform durch, denn nun wird die gesamte Erde wie eine aufgebrauchte Ware behandelt, welche durch eine neue ersetzt werden könnte, und auch hier tauscht man das Leben für den Tod ein und glaubt, dabei etwas zu gewinnen. Das „Es“ (was auch immer).
Und nicht nur die Dinge des äußeren Universums, auch sich selbst lässt der technokratische Mensch dabei niemals in Ruhe, immer unzufrieden mit sich selbst kann er sich selbst nie sein lassen, wie er ist, kann er nicht anhalten, führt einen fortwährenden Krieg gegen sich selbst. Sein Traum ist es, sich selbst wortwörtlich in einen Roboter oder Computer zu verwandeln. In den Zielen des „Transhumanismus“ erfährt die Selbstvergegenständlichung des Menschen ohne Zweifel einen Höhepunkt. Damit arbeitet der Mensch, wie ja schon der Name sagt, an seiner Selbstauslöschung. Sein Allerinnerstes steht nun zum Tausch, das Wesen des Menschen selbst. Man tauscht nicht mehr nur den alten Menschen gegen den neuen Menschen, den Übermenschen, nein, man regeneriert ihn jetzt mithilfe von Ersatzteilen,49 der lebendige Mensch als solches wird Segment für Segment gegen die angeblich besser funktionierende, durchgeplante Maschine eingetauscht, und dadurch zu einer Ware. Der Transhumanist bringt sich selbst zum Opfer dar. Das Menschsein an sich steht damit vor seiner Aufhebung. Während man aber auf der einen Seite den Menschen dafür fast schon so etwas wie das ewige Leben oder die „Abschaffung des Todes“50 verspricht, bastelt man auf der anderen Seite, ebenfalls auf Basis modernster Technologien, gleichzeitig an den perfekten Tötungs- und Kriegsmaschinen51 – bereitet also parallel dazu ihre Ermordung vor.
Wozu das alles?, könnte man fragen. Und wird nie eine richtige Antwort erhalten.
Denn das Reich der allherrschenden Zwecke ist das Reich der absoluten Sinnlosigkeit. Es macht sich selbst absurd, es handelt sich um eine Maschinerie, die nur mehr fortwährend im Kreis läuft, damit sie läuft, ohne dass sie sich um ihre dabei ständig auftretenden Widersprüche noch kümmern muss und ohne dass darin so etwas wie die Sinnfrage überhaupt noch zu stellen möglich ist.52 Der einzige Sinn der Erweiterung der Ausübung von Macht liegt nur mehr in der Erweiterung der Machtausübung selbst, und der einzige Sinn des Erfolgs ist der Erfolg selbst. Das, was eigentlich nur Mittel zum Zweck sein sollte, hat sich inzwischen selbst zum Zweck gesetzt, zum Selbstzweck, zur leeren Maschine, die immer laufen und wachsen muss. Man darf niemals ruhen, niemals die Dinge in Ruhe lassen und niemals sich selbst.
Der Krieg zwischen uns Menschen herrscht, weil unser Verhältnis zu den Dingen überhaupt ein kriegerisches ist. Wollen wir die Kriege beenden, so muss zuerst unser Verhältnis zu den Dingen und damit zu uns selbst ein grundlegend anderes werden.
1Vielleicht hat diesen grundlegenden Zusammenhang zwischen der Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Anderen und der Idee von Moral keine Philosophie so deutlich ausgedrückt wie die von Emmanuel Lévinas.
2Man vergleiche dazu etwa folgende Passage in Günther Anders‘ 1964 verfasstem Text „Die Toten. Rede über die drei Weltkriege“, in der er darlegt, dass das Ziel der kapitalistischen Produktionsweise letztlich immer die Zerstörung sein muss: „Die kapitalistische Produktion ist — das weiß jedes Kind — darauf angewiesen, ihre Erzeugnisse abzustoßen. Sie hat dafür zu sorgen, daß diese verkauft und verbraucht, kurz liquidiert werden. Liquidation, also der Ruin ihrer Produkte, ist das Ziel jeder Produktion. Wenn dieses Ziel nicht erreicht wird, wenn sich eine Menge unliquidierter Erzeugnisse aufstapelt, dann ist die Weiterproduktion, und damit auch der Profit, gefährdet.“ G.A.: Hiroshima ist überall. – München (1982) S. 369. Was nichts anderes bedeutet, als dass unserem Wirtschaftskreislauf als Ganzes immer schon eine selbstzerstörerische Tendenz, letztlich der Tod, innewohnt.
3Auffällig ist, dass bereits antike Philosophen und Dichter (Pythagoras, Plutarch, Ovid) in der Jagd sowie im Schlachten und Essen von Tieren eine Ursache für den moralischen Verfall der Menschheit beziehungsweise eine Vorstufe von Krieg und Grausamkeit gesehen haben. Der Renaissance-Humanist Erasmus von Rotterdam schließt sich dieser Argumentation an: „Nachdem sie [die frühen Menschen] durch diese Proben im Töten geübt waren, konnte es im Zorn geschehen, daß ein Mensch einen Menschen mit einem Stock, Stein oder der Faust angriff. Wenn nämlich, kämpften sie damals noch mit diesen Waffen, vermute ich, und schon durch das Töten des Viehs lernten sie, daß man auch einen Menschen mit geringster Mühe vernichten könnte. […] Er [Pythagoras] sah das Zukünftige, daß wer gewohnt wäre, ohne Veranlassung das Blut des harmlosen Viehs zu vergießen, ebenso, vom Zorn erregt und durch ein Unrecht herausgefordert, sich nicht davor hüten würde, einen Menschen zu beseitigen.“ E. v. R.: „Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen“. Übers., kommentiert u. hrsg. von Brigitte Hannemann. – (München 1987.) S. 49/51. Sehr zur Lektüre sind die entsprechenden Seiten 105-106 von Hannemanns Kommentar zu empfehlen. Man beachte übrigens die Wortgleichheit: „Schlachten“ (Tiere) —> „Schlacht“ (Krieg unter Menschen). Die dem Tiermord kritisch gegenüber stehende philosophische Tradition, welche seit der Antike existiert, ist natürlich aktueller denn je in den heutigen Zeiten der Massentierhaltung. Deren Auswüchse sind das augenscheinlichste Symbol für das herrschende Verhältnis des Menschen zum Leben und überhaupt zu allen Dingen auf dem Planeten. Schätzungen zufolge werden pro Jahr allein in Deutschland ungefähr 800 Millionen Tiere zu Nahrungsmittelzwecken getötet: https://veganivore.de/anzahl-schlachtungen/
4Wortwörtlich antwortet Albright: „We think, the price is worth it.“ — „Wir denken, der Preis ist es wert.“: https://www.youtube.com/watch?v=xYXK7uh93Uo; abgerufen am 6.12.2014.
5Die klassische Formulierung dieses ethischen Grundsatzes findet sich in Kants Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ I. K.: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg von Wilhelm Weischedel. – (Frankfurt a.M.1974) (= I. K. Werkausgabe VII) (= stw 56) S. 61. Albert Schweitzer formuliert denselben Gedanken nur in anderen Worten, wenn er davon spricht, „daß nie ein Mensch als Menschending den Verhältnissen geopfert werden soll.“ A. S.: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. Hsrg. von Hans Walter Bähr. – München (6.Aufl 1991) (= BsR 255) S. 52
6Lesetipp: https://seniora.org/wunsch-nach-frieden/der-wunsch-nach-frieden/du-hast-grosse-lust-auf-krieg
7Vgl. hierzu: https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ukraine-krieg-der-deutsche-lumpen-pazifismus-kolumne-a-77ea2788-e80f-4a51-838f-591843da8356
8Vgl. Jörg Becker: Die Rolle von PR-Agenturen in Kriegen. — In: FriedensForum 3/2024 S. 40-42. (Das „Männlich“, das er noch zusätzlich voranstellt, kann man hier allerdings meiner Ansicht nach getrost streichen: Spätestens seit dem Erscheinen von Figuren wie den deutschen Politikerinnen Annalena Baerbock und Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf der Bildfläche sollte jene Spielform des Feminismus, die den Krieg als „männlich“ tituliert und damit selbst sexistisch argumentiert, eigentlich ausgedient haben.) Auch lesenswert im selben Heft ist der Aufsatz „Medien als Vierte Gewalt“ von Sabine Schiffer (S. 44-46) sowie von derselben Autorin: Das Narrativ von den Guten und den Bösen. — In: Hannes Hofbauer u. Stefan Kraft (Hrsg): Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert. – (Wien 2023.) S. 223-236. Besonders kann ich aber zur Einführung in das Thema folgende Bücher empfehlen: Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. – (München 1996) (= dtv 30531); Jörg Becker u. Mira Beham: Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. 2. Auflage. – (Baden-Baden 2008); Jens Wernicke: Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung. – (Frankfurt a.M. 2017.) Wer einen raschen, einfach lesbaren Überblick über die westliche Kriegspropaganda der vergangenen Jahrzehnte erhalten will, dem ist mit diesem EMMA-Artikel gedient: https://www.emma.de/artikel/so-verlor-ich-den-glauben-die-etablierten-medien-340467
9Vgl. Lügen die Medien S. 163
10Hiroshima S. 365
11Immer wieder bekundet G.A. seine Abscheu vor bloß statistischen Betrachtungen. Er spricht von der „Verwandlung von Ereignissen in tabellarische Daten“ und fügt hinzu: „Das adrette und verläßliche Gesicht der statistischen Aufstellung macht die rauchenden Trümmer hygienisch und desinfiziert die radioverseuchten Kadaver.“ (Hiroshima S. 135) An anderer Stelle empört er sich über die anscheinend damals in Militärstrategenkreisen angewandte Praxis, in ihren Vernichtungsprognosen hundert Millionen Tote mittels einer Sprachregelung einfach in „hundert megacorpses“ umzubenennen, so wie man von Tonnen von Heringen spricht. (Vgl. Hiroshima S. 368)
12Vgl. Hiroshima S. 22 und S. 211
13Vgl. Hiroshima S. 152-173
14Man erinnert sich vielleicht an den alten Slogan der McCarthy-Zeit: Better dead than red (dt. Version: Besser tot als rot). In G. As Tagebuchaufzeichnung des Gesprächs mit dem Antikommunisten kehrt er in Form einer „Fallen-Frage“ (so nennt G.A. sie) wieder: „Rather red than dead?“ (Vgl. Hiroshima. S. 165). Wie wir wissen, ist die Furcht vor dem Kommunismus heutzutage durch die Angst vor der „Gefahr von rechts“ ersetzt worden. Das Schema bleibt das gleiche.
15Hiroshima S. 166
16Hörtipp: https://www.youtube.com/watch?v=nNkDP93E5JI
17Schon bei Kant klingt jedoch diese Problematik an, schon bei ihm gibt es eine Warnung vor dem Maschinenmenschentum. Dahingehend sieht er in der Institution des „stehenden Heeres“ eine Bedrohung, die abgeschafft gehört: „[…] wozu kommt, daß zum Töten oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt.“ I. K.: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Hrsg. von Rudolf Malter. – (Stuttgart 2024) (= RUB 14382) S. 8.
18Vgl. dazu auch die folgende Aussage von Eugen Drewermann: „Sähen wir, was man uns befiehlt zu tun, wir würden es nicht tun.“ Er gibt den Bericht eines Bomber-Piloten der Royal Air Force im zweiten Weltkrieg wieder: „Es lag unter uns wie ein schwarzes Band aus Samt, bestickt mit Perlen. Aber wir wussten, dass das, was wir dort unten anrichten, schlimmer ist als Dantes Inferno. Aber wir sahen ja nur Brände, wir sahen ja keine Menschen. Sonst hätten wir das nicht tun können.“ (E. D.: Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden. — In: Kriegsfolgen S. 161/162.)
19Vgl. https://taz.de/Prinz-Harry-ueber-Tod-von-Taliban/!5904740/
20Vgl. hierzu: G.A.: Off limits für das Gewissen. Der Briefwechsel zwischen dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Günther Anders (1959-1961). Mit einem Vorwort von Bertrand Russell und einer Einleitung von Robert Jungk. — In: Hiroshima S. 191-360. G.A. selbst setzt Eatherly in Kontrast zum zur Reue unfähigen SS-Mann Adolf Eichmann, der sich bis zuletzt auf die Position zurückzog, ihn treffe keine persönliche Schuld an seinen Taten, weil er nur Befehlen gehorcht habe. (Vgl. Hiroshima S. 345-347)
21Eine Aussage von Claude Eathlery selbst dazu: „Die Wahrheit ist, daß die Gesellschaft die Tatsache meiner Schuld einfach nicht annehmen kann, ohne damit gleichzeitig ihre eigene viel tiefere Schuld anzuerkennen.“ (Hiroshima S. 244)
22Ehrfurcht S. 49/50.
23Warum G.A. diesen Einwand nicht formuliert, liegt auf der Hand: In seiner Gedankenwelt geht es um die Gefahr der Auslöschung der gesamten Menschheit durch einen Atomkrieg. Darum ist sein Einwand an dieser Stelle ein anderer: nämlich dass somit gar keine Zwecke denkbar sind, für die so ein Krieg überhaupt geführt werden könnte. (Gegenüber dem oben bereits erwähnten Antikommunisten im Flugzeug drückt er diesen Gedanken in Form eines Einspruchs gegen die Behauptung aus, „daß es überhaupt Ziele geben könnte, die der gleichen Größenordnung angehören wie das ‚totale Mittel‘. […] weil die Verwendung des Mittels die Möglichkeiten weiterer Zielsetzungen überhaupt auslöschen würde“ Hiroshima S. 167) In diesem Bild würde freilich auch eine Albright den „Preis“ bezahlen, weil darin am Ende niemand entkäme. Obwohl die Gefahr eines solchen Atomkriegs näher ist als je zuvor, wird sie im aktuellen öffentlichen Diskurs gleichzeitig auch weniger ernst genommen denn je zuvor, und es gehen deswegen heutzutage auch weit weniger Menschen auf die Straße, als in den 80er-Jahren für Abrüstung demonstriert haben. Eine Merkwürdigkeit. In jenen Kreisen ranghoher Militärstrategen wiederum, die über die Gefahr eines drohenden nuklearen Gefechts durchaus Bescheid wissen, will man an seine totalen Folgen nicht glauben und überlegt, wie man auch danach an der Macht bleiben könnte: https://www.telepolis.de/features/Im-Fall-eines-Atomkrieges-USA-wollen-auch-danach-Weltmacht-bleiben-10175072.html. Wenn wir aber, wie G.A., davon ausgehen, dass ein Atomkrieg mit der Auslöschung der gesamten Menschheit gleichzusetzen wäre, dann können wir seinen Gedankengang in unseren eigenen im nächsten Abschnitt ausgeführten Gedankengang des in unserer Welt universal gewordenen Tauschakts folgendermaßen übersetzen: Wenn die Welt einmal als Ganzes zur Ware, zum Tauschobjekt, gemacht und damit der Vernichtung preisgegeben worden ist wie jedes andere Tauschopfer auch, wogegen könnte sie man dabei denn tauschen? Nichts anderes bleibt dafür mehr über. Offenkundig ist es widersinnig und absurd, an einen solchen Tausch auch nur zu denken.
24„Nochmals, der Fall Eatherly ist nicht überholt, er ist vielmehr Inbegriff und Verkörperung des Gewissens in einer Welt, deren Millionen damit eingelullt werden, daß man ihnen weismacht und sie auch selber glauben, die Folgen ihrer Handlungen seien nicht ihre Sache — sie handelten nicht, sondern ‚arbeiteten‘ nur, und ihre Arbeit, ganz gleich, was sie bezwecke, welche Ziele sie verfolge und welche unmittelbaren oder mittelbaren Ergebnisse sie habe, stinke nicht, ‚non olet‘. Eatherly hat dieser Versuchung widerstanden […]“ (Hiroshima S. 359)
25Hiroshima S. 365
26Hiroshima S. 296 Fußnote 4.
27Hiroshima S. 346. Es gibt ähnliche Gedankengänge bei A.S., der jedoch von einem Konflikt zwischen „überpersönlicher“ und „persönlicher“ Verantwortung spricht. Für ihn ist es keine Frage, auf welcher von beiden Seiten die wahre Ethik steht; und er warnt davor, „seiner überpersönlichen Verantwortung etwas von seiner Menschlichkeit [zu] opfern“ (Ehrfurcht S. 41). „Zu sehr handeln wir, von dem Kleinsten an, der im kleinsten Betrieb etwas ist, bis zum politischen Machthaber hinauf, der Krieg und Frieden in der Hand hält, als Menschen, die es ohne Anstrengung fertigbringen, gegebenen Falles nicht mehr Menschen, sondern nur noch Vollstrecker allgemeiner Interessen zu sein.“ (Ehrfurcht S. 44/45)
28G.A. gebraucht diesen speziellen Ausdruck, falls ich ihn nicht übersehen habe, nicht unmittelbar in den Hiroshima-Schriften (wiewohl ich in der 1982 verfassten Einleitung die Aussage finde, dass „[d]ie Großtechnik uns Menschen verdinglicht“ Hiroshima S. XXXII), dafür handelt es sich aber um einen zentral diskutierten Begriff des Kapitels „Über prometheische Scham“ im ersten Band seiner „Antiquiertheit“: G.A.: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. – (München 1992.) (= B&R 319) S. 21-95. Die eigentliche Pointe für Anders besteht dort freilich nicht im altbekannten (wiewohl heutzutage in Vergessenheit geratenen) Befund der „Verdinglichung“ des Menschen, sondern darin, dass dieser, auf einer höheren Ebene, „seine eigene Verdinglichung bejaht, bzw, sein Nichtverdinglichtsein als Manko verwirft“, also eine Scham verspüre, die „Scham, kein Ding zu sein“ (Antiquiertheit S. 30).
29„Alle sind wir mehr oder weniger in Gefahr, Menschendinge statt Persönlichkeiten zu werden“, formuliert es A.S. (Ehrfurcht S. 50).
30Hiroshima. S. 199.
31Hiroshima S. 196
32Hiroshima S. 199
33M. H. u. Th. W. A.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. – (Frankfurt a. M. Mai 1991) (= Fischer Wissenschaft 7404)
34Hiroshima S. XVIII
35A.S. formuliert es beispielsweise so: „Alle Fortschritte des Wissens und Könnens wirken sich zuletzt verhängnisvoll aus, wenn wir nicht durch entsprechenden Fortschritt unsere Geistigkeit Gewalt über sie behalten. Durch die Macht, die wir über die Kräfte der Natur gewinnen, bekommen wir auch in unheimlicher Weise als Menschen über Menschen Gewalt. Mit dem Besitz von hundert Maschinen ist für einen Menschen oder eine Genossenschaft die Herrschaft über alle, die diese Maschinen bedienen, gegeben. Durch eine neue Erfindung wird es möglich, daß ein Mensch mit einer Bewegung nicht mehr hundert, sondern zehntausend Menschen tötet.“ (Ehrfurcht S. 54)
36Kriegsfolgen S. 166
37Hiroshima S. 360
38https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/plakat-wir-haben-die-erde-von-unseren-kindern-nur-geborgt.html
39Angedeutet ist eine solch grundlegend andere Ethik vielleicht in Michael Endes Theaterstück „Das Gauklermärchen“, etwa dort, wo der der Clown Jojo zur Spinne Angramain folgende Sätze sagt: „Die Liebe, sagst du, gibt es nicht, / Nicht Freiheit, noch das schöpferische Spiel? / Wen wundert es, daß Angramain so spricht, / Die nur sich selbst als Zweck erkennt und Ziel! / Denn dem allein sind diese drei gegeben, / Der es vermag, ganz absichtslos zu handeln.“ M.E.: Das Gauklermärchen. Ein Spiel in sieben Bildern sowie einem Vor- und Nachspiel. – (München 1995; 6. Aufl.) (= dtv 10903) S. 98/99. Das Entscheidende an diesen Zeilen ist die Absage an die Zweck-Mittel-Rationalität. Das heißt natürlich noch nicht, dass das freie ästhetische Spiel, welches der Neo-Romantiker hier im Sinne hat, für sich allein ein ausreichendes Fundament einer Ethik darstellte. Jedoch liefert es ein Modell dafür, welches Schweitzers Idee der grundlegenden „Ehrfurcht vor dem Leben“ nahekommt. In diesen Kontext kann man auch Adornos Aussage einfügen, die „Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Gestalt“ beruhe „auf der Verfolgung des je eigenen Interesses gegen die Interessen aller anderen“ (Th. W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz — In: Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg v Gerd Kadelbach. – (Frankfurt 2017 26. Aufl) (= st 11) S. 88-104, S. 101). Und er fügt hinzu: „Jeder Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt, weil jeder zuwenig lieben kann. […] Das Schweigen unter dem Terror war nur dessen Konsequenz.“ Als Gegenmittel hält freilich auch Adorno keine fertige Ethik bereit, sondern lediglich ein widerständiges Moment; es handelt sich dabei nicht um Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“, auch nicht um Endes Glauben an das befreiende „schöpferische Spiel“, sondern um einen anti-kollektivistischen Impuls: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“. (S. 93)
40Vgl. hierzu: https://www.youtube.com/watch?v=42_GuXIjlWs
41Aus demselben Grund ist es problematisch, wenn der einzige Einwand, den man gegen die Sanktionen gegen Russland vorzubringen hat, darin besteht, dass sie „unserer Wirtschaft“ und „unserer Industrie“ schaden: https://x.com/SWagenknecht/status/1572505280130478080. Aus all diesen Argumenten spricht keine wirkliche Ethik, sondern die immer gleiche Logik der instrumentellen Vernunft, mit der man alles und jedes rechtfertigen kann, wenn es nur einem selbst nützlich erscheint, und darum ist ihre Wendung gegen den Krieg zufällig und nicht prinzipiell. In Rechnung zu ziehen ist natürlich, dass es sich hier möglicherweise um strategische Aussagen Wagenknechts handelt, welche dazu dienen sollen, die Menschen für den Frieden zu gewinnen, indem man sie bei ihrem Egoismus packt. Hier befindet man sich auch weniger in Gefahr, als Freund des Feindes gebrandmarkt zu werden.
42Zum ewigen Frieden S. 57. Ähnliche, vielleicht von seiner Kant-Lektüre gespeiste, Gedankengänge findet man bei A.S., welcher vor dem Glauben warnt, „das Ethische durch das Zweckmäßige außer Kraft setzen zu dürfen“ (Ehrfurcht S. 42).
43Obwohl er beispielsweise von „Meinungsfabriken“ (Hiroshima S. 372) spricht. Jörg Becker meint gar: „Eine kritische Linke hat in ihren ökonomischen Analysen des Kapitalismus stets die ihn tragende Rolle von Werbung und Medien ausgeblendet“ (FriedensForum 3/2024 S. 42), — ein Urteil, das sicher zu pauschal ist, und er selbst nennt darauf hin gleich Gegenbeispiele. In der Tendenz aber deckt sich das mit meinen Beobachtungen. Allerdings muss man hinzufügen, dass diese Unterschätzung der Mechanismen von PR, Medien und Werbung, kurz von Propaganda, sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal der linken Tradition ist, sondern dass sie grundsätzlich einmal die Angehörigen aller politischen Lager betrifft. Sonst hätte sie ja nicht funktionieren können. Neuerdings kann man von einer solchen allgemeinen Unterschätzung wohl nicht mehr sprechen, dafür gilt der Grundsatz: Propaganda verbreitet nur die andere Seite, wir nicht. Bzw.: Auf Propaganda reinzufallen, so dumm sind nur andere, ich selbst aber bin immun dagegen.
44Das hat schon Erasmus erkannt: „Alsdann bemänteln wir unsere Krankheit mit ehrenvollen Titeln. Ich trachte nach dem Reichtum der Türken und spanne die Verteidigung der Religion vor. Ich diene der Ehrsucht, folge dem Zorn, wilde und zügellose Leidenschaft reißt mich fort, und ich gebe als Grund einen gebrochenen Vertrag, ein verletztes Freundschaftsbündnis, das Übergehen ich weiß nicht welches von den Punkten eines Verlobungstrakts oder etwas ähnliches an.“ („Süß scheint der Krieg den Unerfahrenen“ S. 82)
45Es handelt sich um das, was ich oben als „Bewusstseinsindustrie“ bezeichnet habe. Deren Grundlagen sind aber älter und tiefer in unserer Kultur verwurzelt, als es den ersten Anschein hat; nämlich in einem rigiden Nützlichkeitsdenken, das, anfangs bloß für das Bürgertum und dann insbesondere auch für das Kleinbürgertum charakteristisch, inzwischen total geworden ist und die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Seinem Ausdruck begegnete ich schon als Gymnasiast in Gestalt von Leuten, welche mir erklärten, Latein brauche man nur als Pfarrer, oder mich belehrten, mit Homer könne man kein Haus erbauen. Der Umbau der Universitäten von Stätten umfassender Bildung, in denen die Kenntnis der geistigen Traditionen des Abendlandes am Leben gehalten wurde, zu Stätten der den Anforderungen der Wirtschaft gefügigen Ausbildungsorganen bzw. deren Ersetzung durch Fachhochschulen sind ein jüngeres Symptom davon. Das Ziel ist nicht mehr die Bildung als Wert an und für sich, denn auch sie ist nur mehr ein Tauschobjekt, etwas, von dem man sich eigentlich etwas anderes erwartet: nämlich die Karriere. Bedenklich zumal, wie sehr diese Entwicklung sogar die sogenannten — falls überhaupt noch vorhandenen — Geisteswissenschaften erfasst hat: Als ich mich vor ein paar Jahren darüber erstaunt zeigte, dass ein Soziologie-Absolvent nicht einmal wusste, wer oder was Tolstoi gewesen war, entwaffnete er mich mit der ganz einfachen Erwiderung: „Wozu braucht man das?“
46Ich bin mir nicht sicher, ob er das irgendwo wörtlich so gesagt hat, aber ich denke, dass man das als eine Quintessenz seiner verschiedenen Schriften über die „Kulturindustrie“ ansehen kann.
47G. D. u. F. G.: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übersetzt von Bernd Schwibs. – (Frankfurt a.M. 8.Aufl. 1997) (=stw 224)
48„Andererseits steckt im gegenwärtigen Verhältnis zur Technik etwas Übertriebenes, Irrationales, Pathogenes. Das hängt zusammen mit dem ‚technologischen Schleier‘. Die Menschen sind geneigt, die Technik für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen Wesens zu halten und darüber zu vergessen, dass sie der verlängerte Arm des Menschen ist. Die Mittel — und Technik ist ein Inbegriff von Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch — werden fetischisiert, weil die Zwecke — ein menschenwürdiges Leben — verdeckt und vom allgemeinen Bewußtsein der Menschen abgeschnitten sind. […] Keineswegs weiß man bestimmt, […], wo die Schwelle ist zwischen einem rationalen Verhältnis zu ihr und jener Überbewertung, die schließlich dazu führt, daß einer, der ein Zugsystem ausklügelt, das die Opfer möglichst schnell und reibungslos nach Auschwitz bringt, darüber vergißt, was in Auschwitz mit ihnen geschieht.“ (Erziehung nach Auschwitz S. 99/100)
49Vgl. dazu: https://www.infosperber.ch/gesundheit/medizin/hirntoten-menschen-tierorgane-transplantiert/
50So der treffende Titel eines Thrillers, der das Thema aufgreift: https://bastei-luebbe.de/Buecher/Krimis-Thriller/Die-Abschaffung-des-Todes/9783757700515
51 Vgl. dazu: https://www.infosperber.ch/gesellschaft/trump-kam-mit-hilfe-von-transhumanisten-an-die-macht/
52 Aber auch auf dieses Problem hat die Marktwirtschaft bereits eine Antwort gefunden. Für alle, die in in ihrem Leben keinen Sinn mehr finden, beginnt sich sogar die Verwandlung des Selbstmords in einen Industriezweig, in eine Ware, abzuzeichnen: https://www.swissinfo.ch/ger/wissen-technik/suizidkapsel-hofft-in-der-schweiz-fuss-zu-fassen/47156258