Ist es schon zu spät?

Krise des Kapitalismus – Teil 1

Kann ein katastrophaler Zusammenbruch der Eurozone noch abgewendet werden – und was müsste dahingehend unternommen werden?

von Tomasz Konicz

Teil 2
Teil 3
Teil 4

Teil 5

Wer mal in Zeitungsspalten gepresste Panik studieren möchte, dem sei gegenwärtig die Lektüre all der unzähligen Wirtschaftsartikel und Kommentare in der Auslandspresse empfohlen, in denen die Bundesregierung aufgefordert wird, endlich ihre Blockadehaltung bei der Einleitung kreditfinanzierter Konjunkturmaßnahmen aufzugeben. Ein Überblick gefällig?

Der populäre nachfrageorientierte US-Ökonom und Nobelkreisträger Paul Krugman gestand seiner zahlreichen Leserschaft in der New York Times, dass er inzwischen Angst vor der Haltung der deutschen Politik in der Krise habe. „Mein Gott“ sei alles, was man angesichts der Argumentation deutscher Regierungspolitiker ausrufen könne, die immer noch der Ansicht seien, die Krise sei durch „finanzpolitische Unverantwortlichkeit“ ausgelöst worden, so der offenbar erschütterte Krugman. Mit ihrem Beharren, weiterhin Sparpakete und Strukturreformen in den wirtschaftlich kollabierenden europäischen Krisenländern durchzusetzen, böten Deutschlands Politiker ein „furchterregendes Bild“ einer immer weiter voranschreitenden ideologischen Verblendung. Während der Euro auf einen kritischen Scheideweg zusteuere, lebten die Verantwortlichen in Berlin in einem – so Krugman wörtlich – „Wolkenkuckucksheim.“ Wenn Deutschlands Politelite „dermaßen von der Realität entkoppelt ist, welche Chance hat Europa?“ – so die resignative abschließende Frage Krugmans.

Auch die Financial Times (FT) ist der Ansicht, dass inzwischen Panik eine rationale Reaktion auf die sich verschärfende Krisendynamik darstelle. Er habe bis vor Kurzem nicht verstanden, wie die Depression der 1930er ausgelöst wurde, schrieb der FT-Kolumnist Martin Wolf. Nun sei ihm dies anhand der Krisenpolitik in der Eurozone klar geworden:

Alles, was man braucht, sind fragile Ökonomien, ein rigides geldpolitisches Regime, eine intensive Debatte über das, was getan werden muss, die verbreitete Meinung, dass Leiden gut sei, kurzsichtige Politiker, die Unfähigkeit zur Kooperation und das Scheitern bei dem Versuch, den Gang der Ereignisse zu antizipieren.

Die Politik müsste eigentlich bemüht sein, die aufkommende Panik zu vermeiden, doch daran scheitere die Eurozone gerade. Unter Bezugnahme auf die Weigerung Berlins, gemeinsame europäische Anleihen aufzulegen, warnte Wolf: „Wenn die Staaten mit guter Kreditwürdigkeit sich weigern, diejenigen zu unterstützen, die unter Druck sind, wenn die Letzteren sich nicht retten können, dann wird das System zusammenbrechen. Niemand weiß, welchen Schaden dies der Weltwirtschaft zufügen wird.“

Der Economist ruft hingegen Kanzlerin Angela Merkel auf, unverzüglich den Motor kreditfinanzierter Konjunkturprogramme anzuwerfen, da ansonsten die Weltwirtschaft unterzugehen drohe. „Außerhalb Deutschlands“ habe sich ein Konsens herausgebildet, was Berlin zur Stabilisierung der Eurozone unternehmen müsste: eine Verlagerung der Krisenpolitik von Sparprogrammen auf die Förderung „ökonomischen Wachstums“ und eine Finanzmarktunion samt Eurobonds. Dieser „Refrain“ aus Washington, Beijing und London stoße aber in Berlin wohl auch deswegen auf taube Ohren, weil Kanzlerin Merkel „den Deutschen nie erklärt hat, dass sie die Wahl haben zwischen einer abstoßenden Idee (dem Bailout für ihre unwürdigen Kollegen) und einer ruinösen Realität (dem Ende des Euro)“. Viele Deutsche würden die „Vergemeinschaftung der Schulden ablehnen, weil sie (fälschlicherweise) glauben, dass der Euro ohne diese Vergemeinschaftung überleben werde.“

Einen dramatischen Appell zur Einführung von Eurobonds richtete auch die italienische Wirtschaftszeitung „Il Sole 24 Ore“ an Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Sie werden nicht weit kommen, wenn Sie weiterhin dem Ärger der Griechen gleichgültig gegenüberstehen und vom verletzten Stolz der Spanier, von den Ängsten der Italiener und von der Pein der Franzosen Abstand nehmen.“ Deutschland könne nicht inmitten europäischer Wirtschaftsruinen prosperieren, so der Kommentar.

Die rasch anschwellenden internationalen Forderungen an Berlin, vom Spardiktat abzurücken und letztendlich wieder die Verschuldungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte zu initiieren, werden inzwischen sogar in deutschen Medien zur Kenntnis genommen, etwa von der Onlineausgabe der Welt: „Weltweit bricht die Konjunktur ein, der Euro-Zone droht der Zusammenbruch, und alle Welt zeigt auf der Suche nach einem Schuldigen mit dem Finger auf Deutschland.“

Im Teufelskreis der Sparpolitik

Tatsächlich befindet sich die Eurozone am Rande eines totalen Kollaps, der allerschwerste Verwerfungen nach sich ziehen dürfte, die sogar die Folgen der großen Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in den Schatten stellen dürften. Wir stehen in der Tat kurz vor einer Wirtschaftspanik. Berlins Krisenpolitik, die auf die europaweite Durchsetzung harter Sparmaßnahmen und neoliberaler Strukturreformen nach Vorbild der Hartz-IV-Arbeitsgesetze abzielte, ist spektakulär gescheitert. Das maßgeblich von Deutschland in Gestalt des europäischen „Fiskalpaktes“ durchgesetzte Spardiktat lässt in immer mehr Eurostaaten die Wirtschaftskrise eskalieren, die buchstäblich in den sozioökonomischen Zusammenbruch „gespart“ werden.

Die Ergebnisse der Sparpolitik sind in allen hiervon betroffenen Ländern ähnlich: Eine im Zuge der Sparmaßnahmen massiv einbrechende Binnennachfrage löst eine Rezession aus und lässt die Arbeitslosigkeit hochschnellen. Hierdurch sinken die Steuereinnahmen des Staates, der sich überdies aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit mit höheren Sozialausgaben konfrontiert sieht. Somit lässt der durch die Sparprogramme ausgelöste Wirtschaftseinbruch die Defizite im Staatshaushalt weiter ansteigen, was wiederum neue Sparprogramme notwendig macht, die eine weitere Runde in dieser ökonomischen Todesspirale auslösen.

Dieses brutale Spardiktat wurde in Griechenland bis zum Exzess getrieben, dessen Wirtschaft nach etlichen von Berlin und Brüssel oktroyieren „Sparpaketen“ inzwischen de facto zusammengebrochen ist und eine Industrieproduktion aufweist, die um 33 Prozent auf das Niveau von 1978 gefallen ist. Eine ähnliche Entwicklung – die letztendlich einer Deindustrialisierung gleichkommt – vollzieht sich nun in Spanien und Portugal. In Portugal ist die Industrieproduktion gegenüber dem Vorkrisenhoch um 26,1 Prozent eingebrochen, in Spanien sind es 28,5 Prozent. Diese Länder der südlichen Eurozone, in denen durchweg eine Jugendarbeitslosigkeit von rund 50 Prozent herrscht, erleben gerade keine „gewöhnliche“ Rezession – sie wandeln sich zu sozioökonomischen Zusammenbruchsgebieten, die so zum Teil der „Dritten Welt“ zu werden drohen. Italien wird nun ebenfalls verstärkt von ähnlichen Deindustrialisierungstendenzen erfasst. Die Industrieproduktion sank im April südlich der Alpen binnen eines Jahres um 11,9 Prozent und befindet sich somit auf dem Niveau von 1990. Die maßgeblich von Berlin durchgesetzte Sparpolitik beschleunigt somit den Zusammenbruch der Industrieproduktion in der Südperipherie der Eurozone, der dann im deutschen Krisendiskurs auch noch den Südeuropäern angekreidet und zu einer Art kulturellem Defizit umdefiniert wird.

Die Abkühlung ist aber nicht auf die Eurozone beschränkt, sondern sie erfasst in immer größerem Ausmaß die gesamte Weltwirtschaft. Betroffen hiervon sind einstmals als neue Konjunkturmotoren der Weltwirtschaft gefeierte Schwellenländer wie China, Brasilien oder Indien. Auch in den Vereinigten Staaten, wo im Vorfeld der kommenden Präsidentschaftswahlen massive Konjunkturmaßnahmen zur Anwendung gelangten, kommt die (schuldenfinanzierte) Wirtschaftserholung zum Erliegen. Dieses miese globale Umfeld lässt die Situation in der Eurozone umso labiler werden. Inzwischen dürften leichte Erschütterungen – wie die Wahl in Hellas – ausreichen, um das System vollends zu destabilisieren und in den Zusammenbruch zu führen. Erste Anzeichen hierfür bilden, neben den rasant zunehmenden Zinsdifferenzen in der Eurozone, die massiven Abhebungen von Bargeldbeständen, die insbesondere in Griechenland einen enormen Umfang erreicht haben, aber auch in anderen Südländern an Dynamik gewinnen.

Schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme sind Strohfeuer, die das System nur kurzfristig am Laufen halten können

Es ist offensichtlich, dass die deutsche Sparpolitik die Eurozone ins Desaster führt, das – vorsichtig formuliert – katastrophale sozioökonomische Folgen nach sich ziehen wird, sollten nicht schnellstmöglich die Notenpressen wieder angeworfen werden. Dennoch hält die Bundesregierung an ihrem eingeschlagenen Krisenkurs weiterhin fest, und auch in der deutschen Öffentlichkeit werden Eurobonds und sonstige europaweite Konjunkturmaßnahmen abgelehnt. Zuletzt beteuerte Merkel ihre ablehnende Haltung gegenüber jedweder Vergemeinschaftung von Schulden auf dem CDU-Wirtschaftsrat am 12. Juni. Eurobonds würden laut der Kanzlerin „absolut in die Irre“ führen. Die Bundesbank bekräftigte unlängst ebenfalls ihre Ablehnung von weiteren schuldenfinanzierten Konjunkturmaßnahmen, die als „Strohfeuer“ bezeichnet wurden. Bundesbankpräsident Jens Weidemann erklärte gegenüber der französischen Zeitung Le Monde wörtlich http://html : „Ich glaube nicht, dass man damit Erfolg haben kann, die Schuldenkrise mit noch mehr Schulden zu lösen.“

Dabei gibt die jüngste Krisengeschichte auch den deutschen Hardlinern recht. An die drei Billionen US-Dollar – das sind immerhin 3000 Milliarden – umfassten die Konjunkturmaßnahmen, die 2009 nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise global aufgelegt wurden, um einen Wirtschaftseinbruch zu verhindern. Offenbar haben diese gigantischen Aufwendungen in Höhe von nahezu fünf Prozent der damaligen Weltwirtschaftsleistung die Weltwirtschaft nur drei Jahre über Wasser gehalten, bevor sie nun erneut in den Sturzflug übergeht. Somit ist es ebenfalls klar, dass Konjunkturprogramme nur kurzfristige belebende Effekte zeitigen und im Endeffekt nichts weiter als die schuldenfinanzierten ökonomischen „Strohfeuer“ sind, von denen Weidemann sprach.

Tatsächlich befinden sich beide Fraktionen in diesen Auseinandersetzungen um die künftige Krisenpolitik ein Stück weit im Recht. Offensichtlich halten schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme das System als eine Art „Strohfeuer“ nur kurzfristig am Laufen – und genauso trifft es zu, dass Sparprogramme die betreffenden Länder in den sozioökonomischen Kollaps führen. Die einzige logische Schlussfolgerung, die aus diesen Fakten und der korrespondierenden Debatte zu ziehen ist, besteht in der Einsicht, dass der Kapitalismus offensichtlich ohne permanente Schuldenbildung nicht mehr funktionsfähig ist. Die Beteiligten auf beiden Seiten der Debatte – die deutschen Sparfanatiker wie die angelsächsischen Keynesianer – können nur deswegen nicht zu dieser Schlussfolgerung gelangen, weil sie die derzeitige Gesellschaftsordnung für ein Naturgesetz halten, das nicht hinterfragbar ist.

Letztendlich deutet dieser regelrechte Verschuldungszwang des Gesamtsystems nur darauf hin, dass der Kapitalismus als ein Gesellschaftssystem an die Grenzen seiner Entwicklungsfähigkeit stößt und gerade an einer inneren Schranke zerbricht: Der Kapitalismus erstickt an seiner Produktivität, an den ungeheuren Produktionspotenzen, die immer mehr Arbeitskräfte „überflüssig“ machen und zu den Deindustrialisierungsschüben und exorbitanten Arbeitslosenraten führen, wie sie in der südlichen Eurozone stattfinden. Der Kapitalismus ist schlicht zu produktiv für sich selbst geworden – und an diesem potenziellen stofflichen Reichtum, der nicht mehr in das enge Korsett der Warenform gepresst werden kann, geht das System zugrunde. „Wir“ haben nicht über unsere Verhältnisse gelebt, wie uns Neoliberale permanent einbläuen – im Gegenteil ist die Gesellschaft zu reich für den Kapitalismus. Auch Deutschland ist von dieser Krise betroffen, die aber hierzulande erst durchbrechen wird, sobald die deutschen Handelsüberschüsse voll einbrechen werden. Die derzeitige Krise ist im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung somit schlicht nicht lösbar. Die im diesem System sozialisierten und herrschenden Eliten aus Politik und Wirtschaft streiten sich über altertümliche Krisenstrategien, die aus der Mottenkiste vergangener Jahrhunderte entnommen wurden und absolut ungeeignet sind, um den nun manifest werdenden Zusammenbruch zu verhindern.

Veraltete Krisenstrategien

Im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Konstellation kann die Krise nur verzögert werden, indem Berlin einlenkt und weitere Konjunkturpakete mitsamt Eurobonds auflegt. Die Verschuldungsdynamik könnte so noch eine Zeit lang – vielleicht sogar ein paar Jahre – aufrechterhalten, und so das System notdürftig am Laufen gehalten werden. Insofern stehen die Chancen auf eine Abwendung der akut drohenden Verwerfungen äußerst schlecht, müsste doch die deutsche Politelite ihren Standpunkt sofort grundlegend ändern und diesen auch noch der deutschen Öffentlichkeit verkaufen, die ja ebenfalls von den Massenmedien in einem „Wolkenkuckucksheim“ gehalten wird, indem die „faulen Südländer“ für die Krise verantwortlich gemacht werden. Der Spiegel-Online-Kolumnist Wolfgang Münchau brachte diesen Prozess der enthemmten Ideologieproduktion in Deutschland, die sich nun gegen ihre Urheber in der Politik und den Massenmedien wendet, auf folgende diplomatische Formel: „Die Narrative dieser Krise sind völlig außer Kontrolle geraten, und die Politik weiß nicht, wie sie sie wieder einfängt.“

Immerhin deuten erste Rauchzeichen aus Berlin darauf hin, dass die Bundesregierung sich langsam dessen bewusst ist, was sie gerade im Begriff ist anzurichten. Das Wall Street Journal berichtete unlängst, Berlin sende derzeit „starke Signale“, dass es bereit sei, „seine Einwände gegen Euro-Bonds aufzugeben“, wenn andere Staaten bereit seien, „weitere Machtbefugnisse an Europa zu transferieren“. Neben der Kontrolle der Kreditaufnahme und den Euro-Bonds seien laut WSJ noch eine gemeinsame Finanzmarktaufsicht und Einlagensicherung, die strikte Koordinierung der nationalen Steuerpolitik, sowie eine „Stärkung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik“ im Gespräch. Somit verkommt europäische Krisenpolitik mal wieder zu einem Machtkampf, bei dem divergierende nationale Interessen in Konflikt geraten. Es stellt sich nur die Frage, ob dieser langwierige Prozess vor einem akuten Durchbruch der Krisendynamik abgeschlossen werden kann.

Ohne einen raschen Kurswechsel Berlins wird der deutsche Sparwahn hingegen unvermeidlich einen baldigen Kollaps herbeiführen, den sich angesichts der herrschenden ideologischen Verblendung selbst beinharte Kapitalismuskritiker nicht wünschen sollten. Es gibt einen buchstäblich mörderischen Unterschied zwischen einem chaotischen Zusammenbruch und einer emanzipatorischen Überwindung der gegenwärtigen Gesellschaftsunordnung, wie die jüngsten Entwicklungen im arabischen Raum illustrieren. Eine tatsächliche Überwindung der kapitalistischen Dauerkrise ist nur jenseits des Kapitalismus möglich – aber das ist etwas, was weder Frau Merkel noch Herr Weidemann für uns leisten können.

zuerst erschienen in Telepolis 15.6.2012

Im nächsten Artikel soll der Frage nachgegangen werden, wer – oder was – denn nun die Schuld an der gegenwärtigen Krise trägt.

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