Alles auf Pump

Seit beinahe 40 Jahren kann der Kapitalismus nur noch durch kreditfinanzierte Massennachfrage und rapide Staatsverschuldung überleben.

von Tomasz Konicz

Bei kaum einem anderen Themenkomplex herrscht innerhalb der Linken solch eine strömungsübergreifende Übereinstimmung wie bei der Einschätzung der gegenwärtigen Krise der Euro-Zone. Die meisten Betrachtungen rücken die Handelsüberschüsse Deutschlands gegenüber der südlichen Peripherie dieser Währungszone mehr oder minder stark in das Zentrum ihrer Argumentation. Die Exportoffensiven des ehemaligen »Exportweltmeisters« Deutschland, der erst 2009 von China auf Platz zwei verwiesen wurde, konzentrierten sich seit der Euro-Einführung zuvorderst auf den Euro-Raum, der den wichtigsten Absatzmarkt der BRD bildet. Durch die Gemeinschaftswährung wurde den wirtschaftlich unterlegenen südeuropäischen Volkswirtschaften die Möglichkeit genommen, mittels einer Währungsabwertung die Konkurrenzfähigkeit zur deutschen Industrie zumindest ansatzweise wieder herzustellen. Um sich diese Dimension noch einmal zu verdeutlichen: 2008 sollen sich laut Dierk Hirschel, dem Chefökonomen des DGB, die Exportüberschüsse der BRD allein gegenüber der Euro-Zone auf rund 100 Milliarden Euro belaufen haben!

Basis der Exportweltmeisterschaft

Die Überschüsse der deutschen Exportindustrie bilden aber die Defizite der importierenden süd­europäischen Länder. Die unter Druck geratenen südlichen Volkswirtschaften der Euro-Zone müssen ja für die bundesdeutschen Waren aufkommen, die ihre Märkte überschwemmen. Dieses geschieht über private oder staatliche Defizitbildung – also durch Verschuldung. In Griechenland, Spanien und Portugal bildete sich folglich seit Jahren eine Defizitkonjunktur heraus, bei der diese Schuldenaufnahme zusätzliche Nachfrage erzeugte und letztlich die Konjunktur – bis vor kurzem jedenfalls – befeuerte. Es ist hierbei auch relativ unerheblich, ob diese kreditgenerierte Nachfrage im Rahmen der Defizitkonjunktur durch Staatsausgaben (Griechenland) oder durch den privaten Sektor (Immobilienblase in ­Spanien) hervorgerufen wird; in beiden Fällen belebte diese Defizitbildung die Wirtschaft und schuf auch Absatzmärkte für die deutsche Export­industrie.

Dabei waren es nicht zuletzt deutsche Finanz­institute, die diese Defizitkonjunkturen vermittels großzügiger Kreditvergabe erzeugten. Deutsche Banken halten beispielsweise in Griechenland Forderungen in Höhe von 43 Milliarden US-Dollar. In Portugal sind es 47 Milliarden und in Spanien sogar 240 Milliarden Dollar. Hier erst schließt sich der Kreis der besagten südeuropäischen Defizitkonjunkturen zu einem Defizitkreislauf. Die ökonomisch überlegenen Volkswirtschaften des nördlichen Zentrums der Euro-Zone – allen voran die BRD – können nicht nur enorme Handelsüberschüsse mit Südeuropa erwirtschaften, ihre Finanzsektoren profitieren noch zusätzlich von der Kreditvergabe an den griechischen Staat oder an spanische Unternehmen, Hypothekennehmer und Konsumenten. Während von Deutschland aus die Warenströme in den Süden der Euro-Zone fließen, strömen in die Gegenrichtung griechische, spanische und portugiesische Wertpapiere in die Banktresore deutscher Finanzinstitute – seien es Staatsanleihen, Hypothekenverbriefungen oder Konsumentenkredite.

Weitgehender Konsens herrscht innerhalb der Linken auch bei der Ursachenforschung für diese erdrückende ökonomische Überlegenheit der deutschen Exportindustrie in der EU, die zumeist mit den Pauperisierungsschüben in der BRD in Zusammenhang gebracht wird: Die äußerst erfolgreiche Exportoffensive der deutschen Industrie wurde hauptsächlich durch eine miserable Lohnentwicklung in der Bundesrepublik ermöglicht. Sie ist die zentrale Ursache für Deutschlands Exportweltmeisterschaft. Der Druck auf die Löhne und Gehälter wurde u.a. durch Abschreckung und Disziplinierung im Rahmen von Hartz IV erreicht. Die Maßnahmen zur Senkung des Preises der »Ware Arbeitskraft« haben einen durchschlagenden Erfolg erzielt: Zwischen 1997 und 2007 stieg das Heer der im Niedriglohnsektor schuftenden Lohnabhängigen von zirka 4,3 Millionen auf 6,5 Millionen. Nach den Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sind die »Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer« zwischen 2000 und 2008 in Deutschland inflationsbereinigt um neun Prozent gesunken. Kein anderes EU-Land hat laut DIW in diesem Zeitraum einen derartigen Einbruch des Lohnniveaus verbucht. Hieraus ergab sich eine sehr vorteilhafte Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland – also des Anteils der Löhne an den Kosten einer Ware. Während diese im Euro-Raum zwischen 1998 und 2007 nahezu konstant blieben, sanken sie in der Bundesrepublik deutlich – zeitweise um bis zu zehn Prozent. Deutsche Waren sind auf dem Weltmarkt deshalb so konkurrenzfähig, weil sie bei hoher Produktivität von – in Relation zu anderen Industriestaaten – gering bezahlten Arbeitskräften produziert werden.

Das deutsche Kapital kann also seine aggressive Expansionsstrategie durch eine erfolgreiche Intensivierung des Klassenkampfes von oben innerhalb der BRD verwirklichen. Die »Exportweltmeisterschaft« Deutschlands wird also durch eine fallende Lohnquote, durch ein stagnierendes Lohnniveau, durch einen expandierenden Niedriglohnsektor, durch Mehrarbeit und die allgemeine Hetze gegen »faule Arbeitslose« erkauft. Die Lohnabhängigen in der BRD mußten sich die Weltmeisterschaft der deutschen Exportindustrie durch beständiges Gürtel-enger-schnallen vom Munde absparen.

Weltweite Defizitkreisläufe

Eher selten wird hingegen innerhalb der Linken die Tatsache thematisiert, daß das kapitalistische Weltsystem bis zum Krisenausbruch von zahlreichen, beständig an Umfang zunehmenden Defizitkreisläufen gekennzeichnet war. Der »südeuropäische« Defizitkreislauf in der Euro-Zone ist ja keineswegs einzigartig oder gar der größte seiner Art. Auch in Osteuropa blühte beispielsweise bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine Defizitkonjunktur. Westliche Banken, die eine dominierende Stellung auf den osteuropäischen Finanzmärkten einnehmen, haben sich mit insgesamt 1500 Milliarden US-Dollar (1250 Milliarden Euro) zwischen Baltikum und Schwarzem Meer engagiert. Diese riesigen Kreditbeträge fungierten ebenfalls als eine Art Brennstoff, der den Konjunkturmotor in Osteuropa am Laufen hielt und die Leistungsbilanzdefizite etlicher osteuropäischer Volkswirtschaften in den zweistelligen Prozentbereich (Baltikum, Rumänien, Ukraine) trieb. Auch Osteuropa fungierte kurz vor Krisenausbruch als ein lukrativer Absatzmarkt für die deutsche Exportindustrie, während zugleich die Schuldenberge der Osteuropäer bei westlichen Kreditinstituten wuchsen.

Der Aufprall in der Rezession fiel bekanntlich in Osteuropa umso härter aus. Griechenland war also bei weitem nicht das erste Opfer dieser Krise der Staatsfinanzen. Schon bei Krisenausbruch mußten etliche Länder Osteuropas durch Interventionen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vor dem Staatsbankrott bewahrt werden – inklusive brutalster Austeritätsprogramme. Dabei ist die Tendenz erkennbar, daß sich der Krisenprozeß von der Peripherie ins Zentrum des kapitalistischen Weltsystems frißt. Die Einschläge kommen sozusagen immer näher. Mit Griechenland – bald wohl auch mit Spanien und Portugal – befand sich erstmals ein Land der Euro-Zone am Rande des Staatsbankrotts.

Die »Mutter aller Defizitkreisläufe« stellt sicherlich der zwischen den sich immer weiter verschuldenden USA und der Volksrepublik China dar. Ähnlich wie Griechenland oder Spanien bildeten die USA ein Handelsdefizit aus, das aber eine gigantische Dimension erreicht: Auf dem Höhepunkt ihrer Defizitkonjunktur zwischen 2006 und 2008 verzeichneten die Vereinigten Staaten ein Handelsdefizit von nahezu 900 Milliarden US-Dollar jährlich! Die Staatsschulden haben 2010 die 13-Billionen-Dollar-Grenze überschritten; die Gesamtschulden des Landes beliefen sich Ende 2009 auf über 52 Billionen Dollar. Die USA gleichen also einem schwarzen Loch der Weltwirtschaft, das bisher durch sein Handelsdefizit einen Großteil der Überschußproduktion der Welt aufnahm und somit stabilisierend auf das gesamte kapitalistische Weltsystem wirkte.

Hauptursache: Finanzkapital

Auch dieses als Perpetuum mobile des globalen Kapitalismus fungierende US-Handelsdefizit wurde – und wird immer noch – durch Kreditaufnahme finanziert. In den Vereinigten Staaten erreichte die Gesamtverschuldung (Staat, private Wirtschaft, Konsumenten) im März 2008 mehr als 350 Prozent des Bruttosozialprodukts. Inzwischen dürften die Vereinigten Staaten mit zirka 400 Prozent ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung in der Kreide stehen. Festzuhalten bleibt: Aufgrund der Größe ihrer Volkswirtschaft spielt die exzessive Defizitkonjunktur in den USA weltweit eine zentrale Rolle. Die Vereinigten Staaten sind die wichtigste globale Konjunkturlokomotive der vergangenen Jahre.

Auf dem Grund dieser historisch beispiellosen Verschuldungsorgie der Vereinigten Staaten baut sich ein enormes globales Krisenpotential auf, wie unlängst auch der Krisenprophet Nouriel Roubini bemerkte: »Heute machen sich die Märkte Sorgen um Griechenland, aber Griechenland ist nur die Spitze des Eisbergs, der Kanarienvogel in der Kohlenmine, eines von zahlreichen fiskalischen Problemen. (…) Schließlich werden auch die fiskalischen Probleme der USA in den Vordergrund rücken. (…) Das Risiko, daß in den nächsten zwei oder drei Jahren in den USA etwas Ernstes passiert, ist erheblich.«

Die USA dienten aufgrund der exzessiven Verschuldungsdynamik der letzten Jahre als globaler Konjunkturmotor, doch kann im allgemeinen eine breite Tendenz zur Schuldenbildung in nahezu allen entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften konstatiert werden. Etliche Industrie­nationen – wie Japan, Großbritannien, Spanien, Frankreich – weisen inzwischen eine Gesamtverschuldung von mehr als dem Dreifachen ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung aus. Im Endeffekt ist es egal, ob der Staat, die private Wirtschaft oder die Konsumenten sich verschulden: Gemeinhin stimuliert diese kreditgenerierte Nachfrage die Konjunktur und führt zu weiterem Wirtschaftswachstum. Ob nun der US-amerikanische Staat neue Marschflugkörper ordert, in Spanien zu Spekulationszwecken neue Ferienhäuser gebaut oder in Osteuropa Konsumentenkredite vergeben werden: All diese Aktionen generieren Nachfrage und beleben die entsprechenden Industriezweige.

Die relativ gute globale Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahrzehnte wurde größtenteils gerade durch diese Verschuldungsprozesse ermöglicht. Diese Defizitkonjunkturen wurden aber hauptsächlich durch das Finanzkapital organisiert. Die Ausweitung dieser kreditfinanzierten Massennachfrage ging einher mit der Expansion des Finanzsektors in etlichen Industriestaaten. Diese Nachfrage wurde erst von den Banken generiert, für welche die Kreditvergabe die wichtigste »Ware« darstellt. Die Ausweitung der Verschuldung kommt für die Finanzinstitute einer Expansion ihrer Märkte gleich. Die wildwuchernden Finanzmärkte ließen somit nicht nur etliche Spekulationsblasen aufsteigen, sondern seit den 80er Jahren vermittels exzessiver Kreditvergabe ihre eigenen Märkte expandieren. Nach den Ursachen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise befragt, benannte auch der Nobelpreisträger Paul Krugman die ausartende Kreditvergabe als den wichtigsten Faktor: »Nun, ich wußte zwar, daß wir in Amerika gewaltige Probleme haben, etwa auf dem Immobilienmarkt mit seinen Billionenverlusten. Doch dann wurde klar, daß es sich um eine globale Kreditblase handelte, von den USA bis nach Europa.« Die Wirtschaftskrise tritt somit vor allem als eine Schuldenkrise in Erscheinung.

Staat übernimmt Defizit

Was passierte, als dieser schuldenfinanzierte Turmbau zu Babel auf den Finanzmärkten zusammenbrach? Sobald die Finanzmärkte nach der Pleite von Lehman Brothers in Schockstarre übergingen und global die Kreditvergabe einbrach, wandelte sich die Finanzkrise in eine Wirtschaftskrise. Der Zusammenbruch des kreditfinanzierten Schneeballsystems ließ die Nachfrage einbrechen, die Industrieproduktion kollabierte, und dies hatte folglich auch die ersten massenhaften Entlassungen von Arbeitskräften zur Folge. Die Industrieproduktion in der Euro-Zone brach 2009 zeitweise um bis zu 20 Prozent im Jahresvergleich ein.

Die Reaktion der kapitalistischen Krisenpolitik auf diesen Einbruch bestand zumeist in einer Verstaatlichung dieser Defizitkonjunktur, indem die meisten Industrieländer enorme Konjunkturpakete auflegten. Billionen Dollar und Euro wurden überdies in die »Stabilisierung der Finanzmärkte« gepumpt. Die staatlichen Konjunkturprogramme erreichen auf globaler Ebene tatsächlich enorme Dimensionen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) beziffert den weltweiten Umfang der staatlichen Hilfen auf rund drei Billionen US-Dollar. Dieser gigantische staatliche Nachfrageschub entspricht laut IfW etwa 4,7 Prozent des Welteinkommens. Gerade dieser Prozeß der Verstaatlichung ließ die gegenwärtige Krise der Staatsfinanzen eskalieren. Diese staatlichen Konjunkturprogramme können ja nicht in alle Ewigkeit fortgesetzt werden. Die 4,7 Prozent des Welteinkommens umfassenden Konjunkturpakete entsprechen auch einer staatlichen Verschuldung von 4,7 Prozent des Welteinkommens. Hinzu müssen noch die teilweise weitaus höheren Kosten zur Stabilisierung des Weltfinanzsystems addiert werden, die im Gefolge der Finanzkrise auf die Steuerzahler zukommen.

Die Krise durchlief bislang einen spezifischen Formwandel. Ihre Entwicklung, die sich zuerst als eine Krise der Finanzmärkte äußerte, um später in einen beispiellosen Wirtschaftseinbruch überzugehen, scheint nun zu einer Krise der Staatsfinanzen mutiert zu sein. Die Ursachen für diesen Formwandel der Wirtschaftskrise dürften aufgrund der obigen Ausführungen nun klar sein: »Vater Staat« sprang mit seinen Konjunkturprogrammen schlicht in die Bresche, als die durch die Finanzmärkte organisierte Defizitkonjunktur zusammenbrach. Die Umrisse der globalen Handelsstruktur dürften sich nun ebenfalls abzeichnen, die tatsächlich von Defizitkreisläufen gekennzeichnet war. Exportorientierte Volkswirtschaften führen ihre Produktionsüberschüsse in sich immer weiter verschuldende Zielländer aus. Dieser Zyklus nahm bis zum Krisenausbruch an Intensität zu – in den USA, Südeuropa, Großbritannien oder Osteuropa. Hierbei handelte es sich – vor allem im Fall der USA – um einen langfristigen, jahrzehntelangen Prozeß. Wie dargelegt, funktionierten diese Defizitkreisläufe nur aufgrund einer stetig zunehmenden Verschuldung in den Ländern, welche die Überschüsse der exportorientierten Volkswirtschaften aufnahmen.

40 Jahre Dauerkrise

Die Preisfrage, die in linken Zusammenhängen aber äußerst selten gestellt wird, lautet nun: Wieso kann sich das kapitalistische Wirtschaftssystem ohne Verschuldung nicht mehr reproduzieren? Wieso nahmen die besagten Defizitkreisläufe bis Krisenausbruch an Umfang und Dynamik beständig zu? Sobald die – private oder staatliche – schuldengenerierte Nachfrage wegbricht, setzt ja seit Krisenausbruch eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen. Der Kapitalismus scheint nur noch »auf Pump« zu funktionieren. Die klügeren Exponenten der herrschenden Klasse tragen diesem Umstand zumindest implizit auch Rechnung. So forderte Lawrence Summers, derzeit als Wirtschaftsberater von Barack Obama tätig, den US-Kongreß auf, einem weiteren Konjunkturpaket zuzustimmen, das diesmal einen Umfang von 200 Milliarden US-Dollar haben soll. »Die Anfrage des Weißen Hauses ist ein taktisches Eingeständnis, daß die Ökonomie bereits an Auftrieb verliert und später im Jahr stagnieren könnte«, da die stimulierenden Effekte des ersten Konjunkturpaketes von 800 Milliarden US-Dollar bereits »verblassen«, kommentierte der britische Telegraph.

Seit wann ist es eigentlich so, daß staatliche oder private Schuldenmacherei die Reproduktion des kapitalistischen Systems gewährleisten müssen? Der rasante Anstieg der Schuldenquote in den Vereinigten Staaten setzte zeitgleich mit der Epoche des finanzmarktgetriebenen Neoliberalismus in den 80er Jahren ein. Dieser konnte sich nur deswegen global durchsetzen, weil er einen scheinbaren Ausweg aus der fundamentalen Wirtschaftskrise – der sogenannten Stagflation – in den 70er Jahren zu bieten schien. Mit zunehmender Inflation, rasch ansteigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Wirtschaftswachstum endete in den frühen 70er Jahren das Goldene Zeitalter des Kapitalismus, in dem seit Ende des Zweiten Weltkrieges in nahezu allen Industrienationen hohe Wachstumsraten und nahezu Vollbeschäftigung erreicht werden konnten.

Diese Krise der 70er Jahre hatte ihre Ursachen in der Erschöpfung der damals vorherrschenden Wirtschaftsstruktur, die auf massenhafter und hocheffizienter Anwendung von Arbeitskraft in der Industrie (Taylor-System) und dem Fahrzeugbau als ökonomischem Leitsektor beruhte. Zum einen erfuhren die neuen – größtenteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen – Märkte erstmals eine gewisse Sättigung, so daß die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmen sich verschärfte. Andererseits führte beständig zunehmende Automatisierung in der Produktion erstmals dazu, daß neue Produktionszweige nicht mehr die durch Rationalisierung überflüssig gewordenen Arbeitskräfte wieder aufnehmen konnten. Neben besagter Stagflation setzte folglich in den 70ern der kapitalistische GAU ein, als die Profitrate massiv einbrach. Bekanntlich bildet nicht die Befriedigung von Bedürfnissen den letzten Zweck der kapitalistischen Wirtschaftsweise, sondern eine möglichst hohe Verwertung des investierten Kapitals. Solange die Erwirtschaftung von Profiten auf einem hohen Niveau verbleibt, reproduziert sich das System auch bei zunehmender Verelendung oder steigender Massenarbeitslosigkeit stabil.

Über den Kapitalismus hinaus

Erst aufgrund der in den USA fallenden Profitrate konnte sich der Neoliberalismus durchsetzen – und dies tat er, weil er schlicht das Problem durch eine Stagnation des Lohnniveaus löste. Seit den 70er Jahren stagnieren die realen Löhne in den USA, was maßgeblich zur Erholung der Profitrate ab den 80er Jahren beitrug. Für gewöhnlich würde dies ja bedeuten, daß hierdurch eine Überproduktionskrise ausgelöst würde: Die Arbeiter wurden aufgrund konkurrenzvermittelter Innovationen in den Produktionsabläufen immer produktiver, aber zugleich haben sie nicht mehr Geld zur Verfügung, um die immer größer werdende Menge an Waren zu konsumieren, die sie selbst produzieren. Trotz stagnierender Löhne, höherer Produktivität und erneut steigender Profitraten fand genau dies nicht statt.

Des Rätsels Lösung findet sich in den Finanzmärkten und der schuldenfinanzierten Defizitkonjunktur, die sie befeuerten. Die potentielle Überproduktionskrise, die aufgrund der steigenden Produktivität bei stagnierenden Löhnen eigentlich ausbrechen müßte, wurde einfach durch eine ausartende Verschuldung vertagt – bis 2007. Nach dieser langen Inkubationszeit von 40 Jahren gerät nun dieser dekadenlange Krisenprozeß seit zirka drei Jahren in ein manifestes ­Stadium. Je länger dieses globale schuldenfinanzierte Schneeballsystem aufrechterhalten wurde, desto stärker bildete sich die systemische, latente Überproduktionskrise aus.

Letzten Endes ist der Kapitalismus schlicht zu produktiv für sich selbst geworden. Dieses System stößt an eine innere Schranke seiner Entwicklung. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führt dazu, daß immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können. Neue Industriezweige wie die Mikroelektronik und die Informationstechnik beschleunigten diese Tendenz noch weiter. Diese neuen Technologien schufen weitaus weniger Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert wurden.

Die kapitalistischen Volkswirtschaften ent­wickelten sich folglich in zwei verschiedene Richtungen, um dieser systemischen Überproduk­tionskrise zu begegnen: Sie verschuldeten sich, um die besagte Defizitkonjunktur auszubilden, wie Griechenland, Spanien oder die USA. Oder sie versuchen, die Widersprüche der spätkapitalistischen Produktionsweise zu »exportieren«, wie es Deutschland, China (gegenüber den USA), Südkorea oder Japan machen. Doch selbst der ehemalige »Exportweltmeister« Deutschland durchlebte erhebliche Deindustrialisierungsschübe. Bezeichnend ist auch die Tendenz zur ökonomischen Stagnation, die sich in den letzten Jahrzehnten in allen Industrieländern verfestigt hat, die keine Defizitkonjunktur ausgebildet haben.

Es ist somit dieser objektive Krisenprozeß der kapitalistischen Warenproduktion, der die Klassenwidersprüche in den einzelnen kapitalistischen Staaten zuspitzt. Die neoliberale Offensive gegen die sozialen Errungenschaften der Lohnabhängigen – die bisher in der BRD in der Hartz-Gesetzgebung gipfelte – resultierte gerade aus diesem Krisenprozeß. Die Intensivierung der Ausbeutung der »Ware Arbeitskraft« und der Export der Widersprüche der kapitalistischen Warenproduktion bildeten die Antwort des deutschen Kapitals auf die Krise.

Die Antwort der Linken, der Lohnabhängigen und Marginalisierten auf diesen sich radikalisierenden Krisenprozeß – und die Krisenoffensive des Kapitals – kann vernünftigerweise nur möglichst radikal ausfallen: Sie muß das Problem an der Wurzel fassen. Es gilt, unter bewußtem Bruch der kapitalistischen Zwangslogik die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und eine breite Diskussion über Wege zu einer alternativen Gesellschaftsformation zu initiieren, in der eben diese Grundbedürfnisse befriedigt werden und in der Kapitalakkumulation und Privateigentum an Produktionsmitteln nur noch schlechte Erinnerungen an eine finstere, barbarische Vorzeit der Menschheit sein würden. Das Räsonieren über Finanzmarktregulierungen und Konjunkturprogramme – die ohnehin nur die Defizitkonjunktur in staatlicher Regie bis zum Staatsbankrott fortführen – können wir getrost der CDU und SPD überlassen.

aus: Junge Welt, 12. Juni 2010

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