Wir Teilzeitidioten

Streifzüge 44/2008

von Lorenz Glatz

Drei Jahrzehnte sind Rekord. So lange hat der Glaube und die Hoffnung durchgehalten, die deregulierte und liberalisierte Geldschöpfung mit Bankkrediten und Börsenspekulation werde irgendwann reale Wirtschaft werden, doch noch einmal Substanz bekommen. Nicht dass es keinen neuen Technologieschub mehr gäbe, bloß haben die Mikrochips von Anfang an durch dreißig Jahre mehr Arbeit eingespart, als durch neue Anwendungen noch zu schaffen war. Auch das ist Rekord. Glaube und Hoffnung stürzen ab, d. h. die Börsen und die Banken. Der Staat muss die Schulden übernehmen oder das Finanzsystem kollabiert und nichts geht mehr, der Kapitalismus jedenfalls nicht. Weltweit werden Staatsbillionen ins Roulette gesetzt, die Staatsschuld schießt nach oben, alle schreien nach Regulierung.

Hier waren wir schon vor dreißig Jahren, als just liberalisiert und privatisiert werden musste, damit die angeblich von Regulierung und Staatsschuld strangulierte Wirtschaft wieder wachse. Es geht so und so nicht, aus demselben Grund – siehe oben. Die Erde und die Menschen sind endlich und könnten gut damit leben, nur das Kapital muss immer wachsen, um sich zu erhalten – und lässt uns nicht leben, wenn es das nicht kann. Unnötig, überflüssig, aber sehr wirklich.

Daher muss die Staatsschuld für die Rettung der Banken und die anrollenden „Konjunkturpakete“ und Verstaatlichungen zum nächsten Bubble aufgeblasen werden, verheerender als alle anderen. Wir werden ihn zwar nie bezahlen können, wir werden aber zahlen müssen mit Steuern, Gebühren und dem Entfall sozialer Leistungen. Und alles ohne Aussicht, dass das Grundproblem sich löst.

Zusätzlich und zugleich kommt unsere famose Lebens- und Wirtschaftsweise nicht nur metaphysisch-finanziell, sondern auch ganz diesseitig-materiell bei den Ressourcen des Planeten an historisch letzte Grenzen. Mit Peak Oil, ja „Peak Everything“ wird das heute und in naher Zukunft schlagend. Der allumfassende Zwang, das Leben für die Geldvermehrung hinzugeben, hat schon weite Strecken Land und Meer verpestet, plündert die Natur aus bis zur Neige und hat eine Klimakatastrophe auf den Weg gebracht, weltweit werden Milliarden Menschen körperlich, geistig und seelisch ruiniert, und all das wird das Leben auf der Erde auch weit über eine Beseitigung des Kapitalismus hinaus noch schädigen.

Kassandra kann sich bestätigt fühlen. Bleibt ihr nur noch, den eigenen Untergang zu prophezeien? Das ist nicht ausgemacht. Auf dem breiten „Highway to Hell“ (AC/DC ziemlich biblisch) platzen jetzt Illusionen, herrschen Unsicherheit und Ratlosigkeit, droht Panik auszubrechen. Die Zurichtung der Menschen bekommt hier und da Sprünge. Ein „window of possibility“ geht einen Spalt breit auf, ein anderes Leben wird ein wenig denkbar. Hölle und (gutes) Leben sind Alternativen am selben Ort. Die „breite und weite Straße, die ins Verderben führt“ (ganz biblisch), gehört demontiert, so weit möglich auch recycelt.

Ein Ich aus dem Prokrustes-Bett

Aber auf etwas anderes als auf Geld, Arbeit, Recht, Staat und dergleichen sind wir nicht vorbereitet. Die herrschende Gesellschaft dominiert uns nicht bloß äußerlich, sondern steckt tief in uns. Ein paar hundert Jahre Kapitalismus und gut zehnmal so lange Erfahrung mit Herrschaft und Unterdrückung formen vom Mutterleib an unser Verhältnis zu Mitmensch und Natur und damit zu uns selber. Die Moderne hat die Vorstellung vom souveränen, vernünftigen, freien Ich entwickelt, das seines Glückes Schmied sei. Bloß ist dieses Ich das Ergebnis der Nacht im Prokrustes-Bett von Wert und Verwertung. Gestreckt und verstümmelt nach falschen Maßen kommt es mit sich selbst und der Welt nicht zurecht. Verkrüppelt und indolent, menschlich isoliert und sachlich global verstrickt, grundsätzlich misstrauisch, bedroht von allem, worauf es verzichten und was es ins Unbewusste verdrängen muss, und gepeitscht von den introjizierten Normen der Herrschaft ist das nunmehr selbstbeherrschte Ich „nicht Herr im eigenen Haus“ (Freud). Und überhaupt ist zweifelhaft, wieweit nicht auch das „eigene Haus“ eine Wahnvorstellung ist; denn unser Dasein, unsere Selbstwahrnehmung, unser Wohl und Wehe hängt eng an, ja besteht aus den Beziehungen, die wir zueinander haben, und unser (Un-)Glück ist das gemeinsame kulturelle Schicksal unserer Triebwünsche (Marcuse).

Schon klar, dass das keine Weltsicht für Checker ist, die sich im Komparativ des Immer-noch-besser-als einigermaßen eingerichtet und ihre „Blütenträume“ abgeschrieben haben. Schwerlich auch eine für Intellektuelle, die den Konnex ihres souveränen Denkens mit ihrem „beschädigten Leben“ als störend auszuklammern trachten.

Das zunehmende seelische Massenelend, die Gewaltphantasien und -ausbrüche allerorten, aber auch unser aller Momente, in denen wir hinter die „Matrix“ blicken, zeigen, wie schwer wir mit dem zurechtkommen, was unsere Zivilisation aus Menschen gemacht hat, und wie aussichtslos das Individuum den Verhältnissen auch noch im Denken ausgeliefert scheint. Indem das Kapital uns Stück um Stück weiter als Dinge vergesellschaftet, „spiegeln private Verwirrungen heute in viel unmittelbarerer Weise die Verwirrung des Ganzen wider, und die Heilung persönlicher Störungen hängt viel direkter als ehedem von der Heilung der Gesamtstörung ab“ (Marcuse). Das „beschädigte Leben“ ist zu einer konkret-allgemeinen Bestimmung des Menschseins geworden. Und diese Beschädigung besteht in der Unterdrückung, Nichtbefriedigung und Deformierung unserer Bedürfnisse und Wünsche im Interesse der Herrschaft. Einer seit Jahrtausenden zunehmend rationalisierten und unpersönlich gewordenen Herrschaft.

Es ist sehr zweifelhaft, dass dieses Elend mit den Methoden un-, ja übersinnlicher Vernunft, die doch selbst eine Konstruktion genau dieser Verhältnisse ist, beseitigt werden kann. Die Figur der „sozialen Bewegung“, an welche die erhoffte Besserung gern ausgelagert wird, bleibt da notgedrungen eine Blackbox, mit der die Vernunft sich mittels Aufklärung Dreidimensionalität und Sinnlichkeit verschaffen soll. Die heraufziehende fundamentale Krise unserer Lebensweise wird ungeheure Angst auslösen, desto mehr, je weniger sie mit dem seelischen „Normalbetrieb“ zu handhaben ist. Die vorgezeichnete Aktiv-Lösung für die Stabilität der Verdrängung und Beherrschung der Angst ist Aggression gegen „Schuldige“, die gegen vernünftiges Denken nicht bloß weitgehend resistent ist, sondern häufig dieses in ihren Dienst nimmt. Die Wahn-Geschichte der Neuzeit ist auch in ihren intellektuellen Erzeugnissen davon (blut)durchtränkt. Noch dazu, wo auch die Vernunft der seelischen Not der Denker nie wirklich entkommt, wenn diese – wie meist – verdrängt und verleugnet wird.

Wir können auch anders…

Unserer Lebensangst ist ins Auge zu sehen, wenn sie überwunden werden soll. Das setzt außer Wissen Hoffnung und Erinnerung voraus. Hoffnung, dass wir einen Zusammenhang unter uns herstellen, geeignete Methoden entwickeln können, um die Ansprüche der Herrschaft an konkreten aktuellen Punkten zu unterlaufen und ihnen schlussendlich Paroli zu bieten. Und Erinnerung daran, dass wir auch anders, besser leben können als nach den Vorgaben der Verwertung. Im Grund setzt schon die Hoffnung die Erinnerung voraus. Wenn es keine Erfahrung mehr gäbe, dass wir nicht bloß sachlich rechnend oder ausgerastet, sondern auch uneigennützig, freundschaftlich und einfach zum schönen Selbstzweck miteinander umgehen können, gäbe es auch keine Hoffnung mehr, je die herrschenden Zwänge zu brechen. Und das für deren Auflösung benötigte Wissen besteht keineswegs nur in der Erkenntnis und Benennung der inneren Struktur und Wirkungsweise der Wertbewegung. Es besteht ganz wesentlich in der kundigen Praxis der „Heilung“ jener Gesamt- und individuellen Störung der Menschen, die zugleich das Werk und die Grundlage der Herrschaft in den zwischenmenschlichen Beziehungen ist – und deren Gegenbild das „gute Leben“ ist, das es sozusagen ex negativo zu entwickeln gilt.

Hobbes hat Freundschaft nur als Kampfbund gegen Dritte für möglich gehalten, in dem gegenseitige Furcht jede Zuneigung überwiege. Tatsächlich ist solche „Kooperation für Konkurrenz“ für herrschaftsförmiges und damit auch aktuell kapitalistisches Leben konstitutiv und in ihren gegensätzlichen Anforderungen an uns nicht nur ein strenges Gebot, sondern auch immens pathogen.

Und doch schafft die Konstitution des von Hobbes geleugneten animal sociale – mit seiner eingeborenen menschlichen Verbundenheit – immer wieder eine emotionale wie intellektuelle Distanz zu den ihm abträglichen Verhältnissen, die es verdinglichen und der Verwertung unterwerfen. Aus dieser Verbundenheit ergibt sich auch immer wieder und bisher unausrottbar widerständige „Kooperation statt Konkurrenz“, ein Zusammenwirken um seiner selbst willen. Auch die Kritik der herrschenden Verhältnisse macht nur Sinn, weil sie von der sinnlichen Erfahrung anderer, wenn auch notwendig fragmentierter und isolierter menschlicher Beziehungen motiviert ist. Platonische Kritik im Reiche der Ideen, die auf „soziale Bewegung“ als ein Anderes warten muss wie die biblischen Jungfrauen mit ihren Öllichtern auf den Bräutigam in dunkler Nacht, wird dem nicht gerecht. Intellektuelle Kritik und aufständische Menschlichkeit stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung und Abhängigkeit, müssen von einander wissen, können nur miteinander vorankommen.

… aber leicht tun wir uns nicht

Wie tief die Knechtschaft der Menschheit sich in der Sprache ausdrückt, zeigt übrigens auch die Verwendung von „persönlich“ als Gegensatz zu „sachlich“. Person ist das lateinische Wort für Maske, Rolle und dokumentiert die Herrschaftsvorstellung, dass dem Individuum auferlegt ist, welchen Platz es unter den Mitmenschen auszufüllen hat. Die Freiheit der Moderne besteht dann darin, dass nicht mehr Gott und die Obrigkeit die Rollen zuteilt, sondern diese im Welttheater des Werts in freier Prügelei zu erringen und zu verteidigen sind. Kein Zufall, dass wenigstens im Englischen Theater auch Kriegsschauplatz heißt.

Es ist zu befürchten, dass einer so trainierten Menschheit angesichts der doppelten Krise der Wertvergesellschaftung die der Konkurrenz sowieso innewohnende Lösung zuzumuten ist: polizeiliche, militärische und „irreguläre“ Brachialgewalt. Auf ökonomischer und politischer Ebene sind die Weichen im Grunde schon gestellt. Den Norden führen die Geleise zum brutalen Ausbau der metropolitanen Festungen gegen die verelendeten Massen des Südens, zu ungeheurer Verstärkung der Überwachung, Repression und sozialen Segregation im Inneren und zu militärischer Sicherung der Ressourcenströme von Süden nach Norden. Samt der zugehörigen weiteren Brutalisierung der Mentalitäten und Diskurse. Und dies alles im Ambiente weiter zunehmender Ressourcenknappheit und ökologischer Katastrophen.

Dagegen, dass es so kommt, spricht nur, dass wir auch anders können. In Krisen gibt es nicht nur Panik und ein „Rette sich, wer kann“, sondern wenn die Herrschaft schwächelt, zeigt sich auch weit mehr als sonst, dass unsereins doch auch noch miteinander kann. Weil es dringend nötig ist, weil es uns gut tut und uns nahe liegt. Wie weit wir damit kommen, entscheidet sich allerdings nicht nur vor Ort, sondern weitgehend schon vorher: daran, wie groß und kompetent unser theoretisches und sinnliches Wissen nicht nur über die Gesellschaft im Allgemeinen, sondern auch über uns selber ist und wie viel an gemeinsamer Handlungsfähigkeit wir daraus entwickeln können. Negativ formuliert: Es hängt davon ab, wie weit wir die Verdrängungen und Verdrehungen, in die uns unsere Lebensweise seit langem festbannt und uns gegeneinander stellt, miteinander diagnostizieren und „therapieren“ können – allein sind wir da chancenlos. Andernfalls werden jene unser Denken weiter schwächen bis wirkungslos machen – und wir werden es uns vermutlich nicht einmal selber eingestehen.

Es gibt drei Weisen, in denen sich Widerstand gegen die sprunghaft steigenden Zumutungen artikuliert. Intellektuelle Kritik, von der dieser Text vor allem handelt und ein Teil sein will, lebensweltliche Ausbruchsversuche aus dem „Mainstream“ in verschiedenster Art und Tragweite und praktische Aktion und Organisierung. Die Art, in der diese Vorgangsweisen intern und miteinander prozessieren, ist schwer gezeichnet und geschädigt von Konkurrenz in allen ihren Facetten. Das ist für Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, in gewissem Grade unvermeidlich. Schlimm daran aber ist vor allem, dass die Konkurrenz immer als Frage von Richtig oder Falsch daherkommt, als die Blöd- oder Bosheit der anderen und eigenes Rechthaben. Das souveräne Ich lässt grüßen – und die Ignoranz der eigenen Blackbox Seele gegenüber. In sorgsamem Umgang miteinander von allgemeiner Teilzeitidiotie auszugehen, wäre keineswegs ein die Differenzen verwischender, sondern ein durchaus realistischer Ansatz, der die Angst vor einander abbauen, Gemeinsames und Trennendes, Brauchbares, Nutzloses und Schädliches und vor allem, was denn zu einem gutem Leben für uns gehöre, leichter und klarer herausbringen und gemeinsam Neues zu Tage fördern könnte, wo die nach Rechthaben Gierenden es nie für möglich gehalten hätten. Vor allem Vorgangsweisen, welche die Marginalie Widerstand in eine Kraft verwandeln könnten.

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