Vom Denken und sich Emanzipieren

Zwei Fragmente

Streifzüge 33/2005

von Lorenz Glatz

1. Emanzipatorisches Denken im „Unreinen“

Der Mensch denkt nicht als souveräner, „über den Wassern schwebender Geist Gottes“, wie es die alte patriarchale Vorstellung meint. Er ist auch keineswegs das autonome Subjekt der Aufklärung, das durch einen Willensakt des Wagnisses seine selbstverschuldete Unmündigkeit los würde und zu einem reinen Denken finden könnte. Die Probleme mit dieser Vorstellung nehmen zu, je näher den Geistern der Gegenstand ihres Denkens liegt. Vor allem, wenn sie sich an diesem blutig reiben wie z. B. an unerträglichen gesellschaftlichen Verhältnissen. Überhaupt dann, wenn es nicht mehr um Korrekturen gehen kann, sondern eine grundlegende Umgestaltung nötig scheint. Menschliches Denken erschöpft sich eben nicht in abstrakten Kategorien. Es setzt sich auch mit schon vorhandenem Denken nicht nur in punkto Stringenz und konsequenter Verarbeitung seiner Inhalte auseinander, sondern ein Mensch bringt seine Bedürfnisse, Sehnsüchte, Frustrationen und Freuden, Rachegelüste, Ängste und Zuneigungen ein. Diese Erlebnisse eines menschlichen Atoms (griechisch für Individuum) sind vielfältige psychische Aktionen und Reaktionsbildungen eines gesellschaftlichen Wesens; denn Gesellschaft in ihrer jeweiligen historischen Zurichtung umgibt den Einzelnen nicht nur, sie ist ihm vorausgesetzt als Bedingung seiner Existenz, die als menschliche nur in ständiger Beziehung mit anderen überhaupt entstehen kann.

Diese psychischen Instanzen des Einzelnen gelten seit dem Beginn der europäischen Philosophie meist als Verunreinigungen des Denkens. Dieses habe nämlich grundsätzlich „sine ira et studio“ (ohne Ab- und Zuneigung) gegenüber seinem Gegenstand zu geschehen. Selbst Polemik setzt in der Regel solche „Objektivität“ voraus, welcher sich die Angegriffenen aus Blödheit oder bösem Willen verschließen würden.

Allerdings ist der hier wirkende patriarchale Herrengeist wohl eine verzweifelte Fiktion, denn die verpönten Empfindungen, über die er sich hinwegzusetzen meint, können großteils nicht einfach durch Absehen eliminiert werden. Vielmehr sind wir durch unsere Erlebnisse mit dieser Gesellschaft mehr oder minder traumatisiert und können diese Verletzungen nicht ausheilen, sondern bloß als unbewältigte Angst verdrängen und mit viel psychischer Kraft im Unbewussten halten. Einerseits sind jedenfalls alle Emotionen untrennbar mit dem denkenden Menschen verbunden, sie verhindern Denken oder lösen es aus, beflügeln oder hemmen es. Sie gehen jedoch nicht bloß bewusst, sondern zu einem großen Teil unbewusst (weil verdrängt und damit auch nicht reflektierbar) in Interessen ein, die unsere Erkenntnis leiten, indem sie diese in der Spur halten oder eben durch Reaktionsbildungen auf Grund verdrängter Angst vom Weg abbringen. Unsere Emotionen machen Denken sowohl in seinen Motiven als auch in seinen Ergebnissen und Auswirkungen zu einem letztlich psychosomatischen und psychosozialen Vorgang. Die Macht des Verdrängten aber verleiht ihm zugleich auch psychopathische Züge.

Bei aller Eigengesetzlichkeit von Logik und Dialektik ist also am Denken in wohl jeder Phase unvermeidlich der ganze gesellschaftliche Mensch beteiligt. Gerade Denken über Soziales muss sich daher den allgemeinen und den je eigenen individuell gesellschaftlichen „irdischen Verwicklungen“ stellen. Vermutlich kann nur durch deren Erkenntnis und Kritik hindurch eine einigermaßen durchdringende Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt, vermittelt und zur bewussten Transformation der Gesellschaft vorangetrieben werden. Das würde jedoch einen Prozess der „Psychotherapie“ der Denkenden als integrierenden Bestandteil von Gesellschaftskritik mit einschließen. Einen solchen Gedanken von sich zu weisen, lässt sich durchaus sinnvoll als eine zur Verdrängung gehörende psychische Reaktionsbildung verstehen. Wenn der „denkende Geist“ seine leiblich-gesellschaftliche Existenz als verschweißte Blackbox ignoriert, kann seine verdrängte Einbindung in die wirklichen, wirksamen Verhältnisse die geistige Erkenntnis bis zu deren Unkenntlichkeit deformieren. In der herrschenden Gesellschaftsform der Ware und des Werts bedeutet dies vor allem, dass das je individuelle Wert- und Konkurrenzsyndrom über kurz oder lang von innen her durchschlägt. Kampfhundgebaren und Leistungssport-Denken im Namen von Kritik stehen zu emanzipatorischem Denken und Handeln zumindest quer. Das Sektengezänk gerade im kritischen Theoriebetrieb ist dafür ein deutliches Beispiel.

Ferner ist bei aller Einsamkeit der Denkerinnen deren Tun stets auch insofern ein soziales Phänomen, als dafür die Tradition der Vorgänger und die Interaktion mit anderen so bestimmend ist wie die intellektuelle Tätigkeit derer, die sich gerade aktuell mit einer Thematik befassen. Dieser kollektive Charakter von Denken ist auch der Boden, auf dem die angesprochene „Psychotherapie“ möglich ist, nämlich als gemeinsames Bemühen das je individuell Verdrängte bewusst zu machen und damit zu beginnen, das Verletzende und das Verletzte zu kritisieren und zu heilen. Dieses Vorhaben hat allerdings nur eine Chance auf Umsetzung, wenn sich der kollektive Umgang recht grundlegend ändert. Dann kann nicht weiter wie auf einem Marktplatz konkurriert und gerempelt werden. Emanzipatorisches Denken kann sich vermutlich nur entfalten, wenn die Beteiligten solche Formen des Umgangs miteinander entwicklen können, die einen Vorschein auf Emanzipation, auf grundsätzliches Angenommensein, gegenseitige Hilfe und gemeinsame Bemühung bei aller Freimütigkeit der Auseinandersetzung, zulassen.

Der seiner sozialen Bindung entkleidete, somit „privatisierte“ schöpferische Geist, der von den trüben Beimengungen des Menschseins gereinigt als individueller Autor sein Werk schafft, ist dazu nicht imstande. Auch nicht, wenn sich dieser „Geist“ in einer Sekte scheinbar kollektiv inkarniert. Er ist grundsätzlich ein unsinnliches, illusionäres Spaltprodukt, trotzdem aber ist diese Konstruktion in der modernen Warenform versachlichter Konkurrenzbeziehungen ganz real. Sie ist sogar die Lebensgrundlage denkender Menschen geworden, die ihre copyrightgeschützten (nicht selten „waffenstarrenden“) Geistesprodukte im harten Wettbewerb zu Markte tragen und/oder aus ihrer (kämpferischen) Leistung die Hoffnung auf soziale Anerkennung und persönliche Zuneigung schöpfen (müssen). Was – wie auf Märkten üblich – immer die Entwertung der Zu-kurz-Gekommenen voraussetzt.

Die Schwierigkeit emanzipatorische Gedanken zu entwickeln, die eine Perspektive über die herrschende Denk- und Lebensform hinaus aufweisen können, liegt also nicht bloß in Begriffsstutzigkeit oder mangelnder Übung im Denken. Sie liegt vielmehr auch in den Schranken, in denen solches Denken angestellt wird. Ohne diese Schranken abzubauen, sind wahrscheinlich in Theorie und Praxis kaum mehr Fortschritte gegen das Wert- und Konkurrenzsystem zu machen.

2. Emanzipation kommt aus den Fragmenten

Die Warengesellschaft versachlicht die vorgefundenen sozialen Beziehungen. Nach ihrer Logik beziehen sich nicht die Menschen aufeinander, sondern ihre Produkte und bestimmte Funktionen treten in einen sachlichen Systemzusammenhang. Auch menschliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Bedürfnisse werden nur als Dinge relevant, als Werkzeuge und Objekte von Warenproduktion und -absatz, von Verwertung eingesetzten Kapitals. Die Menschen werden zu von einander isolierten Einheiten, die den sachlichen Erfordernissen der Verwertung ausgeliefert sind bzw. sich diesen hingeben.

In einer Gesellschaft vollständig versachlichter Beziehungen unter den Menschen wäre Emanzipation nicht einmal mehr denkbar, eine solche Sozietät wäre die schwarze Utopie einer maschinellen „Matrix“ von ungesellschaftlichen Humanoiden, die auf ihre Biologie reduziert wären. Der Kapitalismus ist nämlich im Grunde eine Un-, ja eine Anti-Gesellschaft. Diese muss für ihre Etablierung und weitere Entwicklung gesellschaftliche Beziehungen unter den Menschen zerstören, zugleich kann sie aber als „ungesellschaftliche“ Gesellschaft von Dingen nur existieren, weil doch immer noch persönliche Beziehungen weiter existieren. Deren vollständige Auslöschung würde zugleich die Erfüllung und die Zerstörung der Warenlogik bedeuten.

Waren schaffen sich nicht selbst und können nicht selbst zu Markte gehen, sie werden durch die Aktivität ihrer menschlichen Träger und Funktionäre produziert und in ein sachliches wertfunktionales Verhältnis gesetzt. Diese Sachlichkeit muss daher als Sachzwang die vorhandenen gesellschaftlichen Formen der Menschen entsprechend zurichten. Unfähig diese vollständig zu ersetzen, muss der Sachzwang die Reichweite ihrer Eigenlogik möglichst beschränken. Eine Warengesellschaft (als eine Gesellschaft von Waren) kann daher ihren Zusammenhang nur erhalten und entfalten, wenn sie die Formen des menschlichen Umgangs bloß in so fragmentierter Weise zulässt, dass die Teile für diese „Gesellschafts“-Ordnung instrumentalisiert werden können. Indem die Warenlogik den Gesamtzusammenhang dominiert, installiert sie die Instanzen ihrer Logik als Ersatz menschlich-gesellschaftlicher Ziele. Marx nennt diese Fetische, weil sie wie diese von den Gläubigen als eigene statt als unterschobene Ziele wahrgenommen werden. Diesem Glauben können die Menschen aber nicht leicht entgehen, weil seine Inhalte als gesellschaftliche Realität der Dominanz von Geld, Kapital, Leistung, Arbeit, Staat etc. organisiert sind.

Historisch wurde diese Anti-Gesellschaft als Geldbeschaffungsmaschine für die Feuerwaffenkriegen der frühmodernen Militärmonarchien von der Feudalgesellschaft abgespalten. Seitdem ist die Kapitallogik sozusagen als Alien daran, die menschliche Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen umzumodeln. Mythologisch-literarisch ausgedrückt könnte eins sie mit dem Nichts der „Unendlichen Geschichte“ Michael Endes vergleichen, das die Welt nach und nach verschlingt.

Bedingung der Möglichkeit dieser Abspaltung war die um Jahrtausende ältere patriarchale Spaltung der Menschen. Mit dieser wurde ein instrumentelles Herrschafts- und Weltverhältnis in die menschliche Gesellschaft implantiert. Der Mann kann sich seines Weibs, der Herr seiner Magd, seines Knechts bedienen, der Sklave ist ein sprechendes Werkzeug. Im römischen Recht ist der Unfreie zusammen mit der lebendigen und leblosen Natur grundsätzlich Gegenstand des Sachrechts. „Leben schenken“ ist nicht mehr bloß Ausdruck weiblicher Fruchtbarkeit und der Herstellung des Generationenzusammenhangs, sondern ein herrschaftlicher Akt der Ausnahme von der Tötung. Das römische Recht und der biblische Auftrag die Erde zu unterwerfen und alles Getier des Meers, der Luft und des Lands zu beherrschen zeigen in ihrer Kombination eine Gesellschaft, in der viele Menschen und die ganze Natur bereits zu Werkzeugen herrschaftlicher Freiheit und Willkür degradiert werden konnten.

Die Warengesellschaft ist eine Zuspitzung dieser Verhältnisse zur Versklavung auch der Herren und zur Instrumentalisierung ihrer Funktionen. Die neue Logik konstituiert die grundsätzlich subjektlose Herrschaft des nicht mehr persönlichen, sondern rein sachlichen Prinzips des Werts (in allen seinen Instanzen von der Ware bis zum Staat) über Mensch und Natur. Eine Herrschaft, die Massenmord (z. B. stündlich etwa 1000 Hungertote) und Weltzerstörung (z. B. jede achte Pflanzenart vom Aussterben bedroht) nicht mehr als göttlich-herrschaftliche Willkür, sondern als blinden Sachzwang exekutier(en läss)t.

Die gesellschaftlichen Formen des menschlichen Lebens haben die Sicherung und Gestaltung menschlichen Zusammenlebens zum Inhalt und nicht die sie dominierende Verwertung von Wert. Von der dem Leben fremden, ja feindlichen wert- und warenförmigen Versachlichung werden gesellschaftliche Formen vielmehr geschädigt und zerstört. Die zunehmende Versachlichung (vor allem Monetarisierung und Marktförmigkeit) treibt die menschlichen Verhältnisse an der Rand eines Dauereklats mit ihrer fetischistischen Verzweckung (vor allem mit dem Zwang, aus allem ein Geschäft zu machen). Die Ware wird als Befriedigung einerseits unerreichbar und andererseits schal, das warenförmige Bedürfnis outet sich als (selbst)zerstörerisch – von den verschiedensten Formen von Sucht, Depression und Aggression bis zu Massen(selbst)mord und Naturvernichtung.

Damit erstickt die Warengesellschaft nicht nur (selbst mitten im Luxus) die Lebensfreude, sie untergräbt damit zugleich die Voraussetzungen für ihre emanzipatorische Überwindung. Emanzipation will nämlich nicht bloß die Verzweckung und Instrumentalisierung der zunehmend isolierten Menschen überwinden und persönliche Beziehungen herstellen, die ihren Zweck in sich selber, in ihrer eigenlogischen Entfaltung haben, sondern sie muss zumindest die Fragmente persönlicher Verhältnisse auch schon als Ausgangspunkt haben. Nur deren Konflikt mit den sachlichen Formen der Verwertung bzw. dem wertförmigen Gesamtzusammenhang kann den Weg zu deren (Zer-)Störung öffnen.

In der aktuellen Situation sind auch in den Metropolen Millionen Menschen mit noch vor kurzem unvorstellbaren sozialen Zumutungen konfrontiert. Bloße Defensive hat hier die vehementeste Systemlogik gegen sich. Die Versuche, Widerstand auf der Basis systemimmanenter Vorstellungen à la „Geld ist genug da“ zu organisieren sind sichtlich zum Scheitern verurteilt. Das Leben von Menschen über die mangelnde Finanzierbarkeit zu stellen und so mit dem Herzstück des Systems im Denken und Handeln zu brechen, ist eine Grundbedingung für Erfolge. Diese Hürde scheint weniger deshalb so hoch, weil es noch so schwer zu begreifen wäre, dass dieses System für menschliche Bedürfnisse kein Sensorium hat und die Hoffnung auf die politische Systemverwaltung eine Illusion ist, als vielmehr deshalb, weil es auf Grund der Fortschritte bei der Demolierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs ungemein angstbesetzt geworden ist, Isolierung und Konkurrenz zu überwinden und sich auf Kooperation jenseits der lizensierten Pfade einzulassen. Gesellschaftskritik, die jene auch eigene psychische Verfassung nicht miterforscht, kritisiert und an sich selber bekämpft, bleibt unter dem Boden der Tatsachen.

Es braucht eine Analyse der sozialen Fragmentierung wie auch der Fragmente nicht versachlichter gesellschaftlicher Beziehungen und auch der Versuche sie in diversen Initiativen sozialer Selbsthilfe (sowohl langfristigen als auch aktuell aufflammenden), in alternativen Lebensformen, wissenschaftlicher und technischer Zusammenarbeit zusammenzufügen und auszuweiten. Dem angemessen ist nur eine kritische Debatte, die solidarische Bemühungen in gleicher Haltung reflektiert. Solche Anstrengungen könnten als flexibler und vielfältiger Widerstand gegen die Angriffe des herrschenden Systemzusammenhangs in Stellung gebracht werden, eine Perspektive im Ansatz auch praktisch erlebbar machen und der notwendigen Debatte, was denn ein besseres Leben sei, einen guten Ausgangspunkt verschaffen. Das mag die überkommene Trennung von Theorie und „gesellschaftlicher Bewegung“ unterlaufen, doch die war wohl auch bisher schon ein eher systemkonformer Zustand.

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