It isn’t Utopia.

Ein Bericht über Twinoaks nach einem Besuch im Frühjahr 2005

von Lorenz Glatz

Twin Oaks

Kommune auf einer ehemaligen Tabakfarm in Louisa County, Virginia, USA. 1967 gegründet, derzeit ca. 85 Erwachsene und 15 Kinder auf etwa 180 ha Land. Für die meisten Bedürfnisse des Lebens einschließlich Gesundheit und einigen Luxus sorgt die Gemeinschaft, für Zigaretten, Alkohol, Schokolade und ähnlich Unentbehrliches die „Allowance“, die für alle gleichen 70 Dollar im Monat. Alle arbeiten und wohnen auf dem Grundstück in „Small Living Groups“, die in sechs Wohnhäusern leben. Daneben gibt es ein Lagerhaus, Büros, Werkstätten, Scheunen und Ställe sowie eine Saunahütte. Ein Gutteil der Lebensmittel stammt aus eigener Produktion, einiges von anderen Communities, was man sonst noch braucht, wird nach Möglichkeit gedumpsert oder lokal eingekauft. Geld wird mit der Produktion und dem Verkauf von Hängematten und Tofu sowie mit dem Erstellen von Stichwortverzeichnissen für Publikationen per Computer verdient. Zusammenarbeit mit anderen Kommunen in der Federation of Egalitarian Communities (FEC) und in der Fellowship for Intentional Community (FIC). Von Twinoakern wurden im Lauf der Jahre zwei weitere Kommunen gegründet: „East Wind“ in Missouri und „Acorn“ ganz in der Nähe von TO. Ausführliche Informationen und Verweise auf der Website: www.twinoaks.org

Freiraum

Wer einen Blick hinter die Homepage der Kommune von Twinoaks (TO) in Virginia, USA (www.twinoaks.org) wirft, findet im Quelltext die „Keywords“ unter welche die Suchmaschinen das Porträt der Community einreihen sollen. In der Liste sind aufgeführt: radical dreamers, utopia, new radicals, hippies, b. f. skinner, alternative energy, environment, sixties, culture, polyamory, age of aquarius, feminism, homeschooling, socialism, tofu, coop, utopias, communitarianism, tempeh, hammock, permaculture, radical feminism, skinner, intentional communities, walden two, communal living, vegetarian“. Die Aufzählung sieht ganz nach den eher beiläufigen Assoziationen des Erstellers/der Erstellerin der Website aus. Wäre die Aufzählung Gegenstand eines Gesprächs auch nur einer Handvoll Mitglieder gewesen, stünden hier vermutlich noch eine Reihe weiterer Begriffe: sehr wahrscheinlich „egalitarianism“ und „nonviolence“, aber vielleicht auch „sustainability, ecovillage, communards, indexing, organic food“. Allein schon der letzte Ausdruck ist eine widersprüchliche Sache, wo hier doch Fleischesser (samt zugehörigem Zuchtvieh) Vegetarier und Vegane zusammenleben. Anderes ist durchaus gegensätzlich und wird auch im Alltag als weltanschauliche Richtung vertreten. Ich habe unter anderem mit einem Marxisten über seine sozialistischen Hoffnungen gesprochen, mit einer Quakerin Latein gelernt, , mit einer Katholikin über den toten und den neuen Papst geredet, mich von einem jungen Mann über die Philosophie Paul Feyerabends unterrichten lassen, mit einem Darwinisten gestritten und auch ziemlich esoterisch angehauchte Leute getroffen. „Cooperation, sharing, nonviolence, equality, and ecology“, wie die Homepage gleich im ersten Absatz die Werte der Gemeinschaft definiert, sind offenbar für die Bewohner der Kommune gemeinsame Antworten auf eine Vielfalt verschiedener und teils einander widersprechender Fragen und Anliegen. Diese widersprüchliche Einheit verleiht dem Leben der Gemeinschaft etwas Fragiles und Unzufriedenes. Zugleich scheint jedoch gerade die Differenz in der Gemeinsamkeit des Vorhabens eines gemeinschaftlichen Lebens das Projekt weniger verletzbar zu machen, ja sie könnte sogar paradoxerweise ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Kommune nunmehr schon fast vierzig Jahre alle Schwierigkeiten überlebt hat. Sie ist nicht Utopia, weder im Wortsinn eines „Nicht-Ortes“ noch im übertragenen Sinn eines der Wirklichkeit übergestülpten Ideals. Sie ist eher ein Freiraum für Unterschiedliches und doch eine sehr deutlich von „the outer world“, wie sie ironisch sagen, unterschiedene Gemeinschaft.

Essen in Zhankoye

Morgens um halb acht ist es in Küche und Speiseräumen von Zhankoye recht still. Das knappe Dutzend Leute (von ca. 90 Erwachsenen und 15 kids), die sich eben Frühstück machen oder an den Tischen sitzen, haben noch Bettschwere im Gesicht. Viele frühstücken in den Küchen der Wohnhäuser, Zhankoye ist das Zentralgebäude mit großer Küche, Vorrats- und Kühlräumen, wo mittags und abends für alle gekocht wird. Es gibt viel Platz für Tische und Stühle, einen Kinderessraum mit Spielzeug, einen Zeitschriftenraum, wo auch die Postfächer der Bewohner zu finden sind, in die man auch die persönlichen Mitteilungen der einen für den andern legt. Auch die Tafel für die „three by five“, kleine Zettel, auf denen wer der Community mitteilt, dass man abends die Sauna zu heizen gedenkt, dass die Tofu-Schicht letzte Nacht erstmals nur aus Frauen bestand, dass einen etwas fürchterlich ärgert oder eine etwas sehr gefreut hat, dass ein neuer Manager für eine der vielen work-areas gesucht wird usw. usf. Auch das O & I-Board (Opinion and Idea) findet sich in Zankhoye, eine Stellwand, an der Blätter im Letter-Format mit Mitteilungen und Diskussionsbeiträgen zu Themen hängen, die die Community gerade bewegen. Im Augenblick wird zur gleichen Zeit über die Erziehung der Kinder und die Pflege der Alten debattiert. Das Letztere hat das älteste Mitglied zum Thema gemacht, weil sie zum „Pflegefall“ werden könnte. Wer nach Zhankoye kommt, isst nicht bloß, trinkt und tratscht, er und sie schauen auch nach und bereden, was so läuft auf der Farm und im Rest der Welt.

Und warum heißt der Bau Zhankoye? Weil er nach einer jüdischen Kommune im zaristischen Russland benannt ist so wie auch die Wohnhäuser, aber auch ein Großteil der anderen Gebäude (Büros, Werkstätten, Lagerhaus) auf dem ca. 180 ha großen waldreichen Gelände mit ihren Namen Aurora, Degania, Emerald City, Kaweah, Llano, Modern Times, Morningstar, Nashoba, Oneida, TaChai und Tupelo an eine Vielfalt historischer Projekte und Experimente erinnern.

Kaffee ist derzeit Privatsache, d. h. er müsste von den 70 Dollar bezahlt werden, die jedes Mitglied der Community im Monat an Barmitteln hat, um sich Dinge zu leisten, die über Wohnung, Kleidung, Essen, medizinische Versorgung, Feste und Spiele in der Kommune, eine reichhaltige Bibliothek, Internet, Zeitschriften, CDs, DVDs, Videokassetten, und diverse Vergnügungen wie die Sauna hinausgehen. Da gerade der Hauptkunde für die Hängemattenproduktion ausgefallen ist, herrscht Austerity und Kaffee steht nicht mehr auf der kommunalen Einkaufsliste. Kräutertees stehen aus eigener Produktion in reicher Varietät zur Verfügung, viele Frühaufsteher greifen aber verschlafen zu den eher geschmacklosen Lipton-Teebeuteln. Das Brot ist selbstgebacken, die Donuts gedumpstert (aus den von Geschäften weggeworfenen, aber brauchbaren Warenbeständen besorgt), die Erdnussbutter das Erzeugnis einer anderen Kommune, mit der man zusammenarbeitet und tauscht.

Tätigkeit und Arbeit

Wer um diese Zeit schon beim Frühstück sitzt, hat meist einen Termin in seinem Labor-Sheet (ein Blatt Papier mit dem wöchentlichen Arbeitsplan) stehen. Tofu- und Tempeh-Produktion, die meiste Gartenarbeit, der Transportdienst auf der Farm, das Kochen für Mittag- und Abendessen und ähnliches brauchen ein Team, andere Tätigkeiten wie Teile der Büroarbeit für Kauf und Verkauf der Produkte haben einen Stundenplan. Hängematten herstellen kann man hingegen fast jederzeit, in zufälliger Zusammensetzung in der Werkstatt oder mutterseelenallein, auch das Putzen der Gemeinschaftsräume im Wohnhaus kann eins sich weitgehend selber einteilen. Was die oder der Labor assigner (TOerIn, die/der die in einer Woche anfallenden Tätigkeiten auf die einzelnen Leute aufteilt) auf das Labor sheet geschrieben hat, entspricht meist dem, was eins selber dort als Wunsch eingetragen hat. Man hat mir versichert, das sei im allgemeinen kein Problem, die Präferenzen seien so weit gestreut, dass jedes im wesentlichen das macht, was er und sie für zuträglich halten, nur beim Kücheputzen fehlen die Freiwilligen, da muss jeder einmal ran. Zumindest von Frühling bis Herbst sind 42 oder 43 Stunden pro Woche auf dem Programm, im Winter auch weniger. Und ab 49 Lebensjahren gibt es jedes Jahr eine Stunde weniger Verpflichtung. Ich bekomme acht Stunden Nachlass als „pension“. Pro Stunde wird ein „labor credit“ verbucht. Allerdings gibt es keine Anfahrtszeiten, geht man im allgemeinen nach Zhankoye essen und wer gern kocht, tut das dort für alle, auch wenn natürlich manche zu bestimmten Anlässen auch einmal in ihrer „Small living group“ für einen kleinen Kreis oder für sich allein im Wohnhaus kochen. Auch Wäschewaschen erfolgt zum Teil kommunal. Und überhaupt ist fast jede Tätigkeit für die Gemeinschaft zumindest zum Teil credit-würdig, so das Unterrichten von Fremdsprachen, unter Umständen die Tätigkeit in einer der Bands der Twinoaker und das Schreiben eines Buchs oder Artikels über die Community oder ihre Angelegenheiten. Auch gesellschaftliches und politisches Engagement von Twinoakern (die Community als solche äußert sich nicht zu politischen Streitfragen) kann als „movement support“ credits bringen – ich habe auf diese Weise für eine Armenküche Tofu nach Richmond gebracht, Gemüse geschnipselt und im Park Essen verteilt. Im Widerstand gegen ein lokales AKW, bei vielfältigen Aktionen gegen die menschenfeindliche Politik der Regierung im nahen Washington DC, aber auch bei der Organisation eines jährlichen Kommunentreffens und eines allsommerlichen „Women’s Gathering“ sind Twinoaker, oft führend, beteiligt – und können das z. T. auf ihrem Labor sheet verbuchen. Bloß das Putzen und Ausgestalten des Zimmers, das jedes Member hat, bleibt privat.

Grundsätzlich ist das Labor-System von der Arbeitspflicht geprägt, die in der herrschenden Gesellschaft allgegenwärtig ist und heute angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft noch bis ins Absurde übersteigert wird. Der Unterschied zum „Mainstream“ ist aber im Detail recht beachtlich. Für den/die einzelne/n und die ganze Gemeinschaft unmittelbar sinnvolle und gern übernommene Tätigkeiten wie Hausbau, -ausgestaltung und -reparatur, die Pflege der Gärten und des Viehs, das Kochen usw. nehmen breiten Raum ein. Der „labor exchange“ zwischen dem ca. ein Dutzend communities der Federation of Egalitarian Communities schafft die Möglichkeit, auch einmal anderswo eine Zeit lang zu leben und zu werken. Was und wieviel jemand die Woche über tatsächlich gearbeitet hat, trägt jede/r selber ein. Kontrolle, ob die eingetragenen Stunden auch wirklich alle gearbeitet wurden, fehlt. Ein wenig später beginnen und früher Schluss machen ist nicht ungewöhnlich, und selbst ob jemand sieben Stunden in der Woche an den Hängematten war oder doch nur fünf, ließe sich praktisch kaum überprüfen. Es ist Vertrauenssache. Eine Befehlsgewalt der Bereichs-„Manager“ gibt es nicht, wie sollte eins sie auch so von Mitglied zu Mitglied durchsetzen, wenn man niemand feuern oder sonstwie auf die Schnelle disziplinieren kann? Wer krank und arbeitsunfähig ist und wie lange, entscheidet der oder die Kranke. Das Arbeitstempo ist in vielen Bereichen daher noch ganz menschlich und, so berichtet man stolz, die Leute sind viel seltener krank in TO. Zweifellos wirkt soziale Kontrolle, der man gerade in einer community nicht entgeht, aber auch schlicht das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und oft einfach emotionale Verbundenheit mit den anderen. Die mental-destruktiven Wirkungen des Arbeitssystems im allgemeinen und der Labor Credits im Besonderen sind aber durchaus wirksam. – „How many Twin Oakers does it take to screw in a light bulb? It depends – is it labor-accreditable? “ (Wie viele Twin Oaker braucht man, um eine Glühbirne einzuschrauben? Das kommt drauf an – bekommt man dafür Labor Credits? ), witzelt man selbstironisch auf der Farm. Und die Anwendung der Bestimmung, dass aus der Community ausgeschlossen wird, wer mit seinen Stunden über längere Zeit im Minus ist, hat vor einigen Jahren einen Selbstmord ausgelöst, der die Menschen schwer erschüttert hat und eine Reihe von entschärfenden Hilfsmaßnahmen im Arbeitsregime nach sich gezogen hat. Das Regime selbst aber blieb. Von der freien Tätigkeit freier Menschen in einer freien Gemeinschaft ist das System noch weit entfernt, die Menschen sind von der Lebensweise, aus der sie kommen, geprägt. Das Bewusstsein des Warenmenschen, dass man stets zu kurz komme, dass sich jeder selbst der Nächste sei und die Freude, für andere tätig zu sein, stets ausgenützt werde, kann nicht am Eingang der Farm abgelegt werden. Dass es beim Unkrautjäten auf dem Gemüsefeld statt gegenseitiger Hilfe einfach einen Wettlauf um kreuzschonendere Tätigkeiten geben kann, weiß ich aus Erfahrung – ich bin bloß zu langsam gewesen.

Eine von Twinoakern in den Neunzigerjahren einige Meilen entfernt mit Hilfe der „Mutterkommune“ gegründete neue Community, „Acorn“, die Eichel, mit Namen, versuchte es ohne Labor-Regime und ist schließlich doch zu einer milderen Variante dieses Systems zurückgekehrt. In einer Welt, wo eine Kommune bloß ein Partikelchen im kapitalistischen Meer ist, scheint es sehr schwierig zu sein, die konkret-menschliche Kooperation der Mitglieder, wie sie eben heute sind, anders denn als allgemein-sachliche Arbeit zu organisieren. Immerhin fällt auch in einer großen Kommune wie TO beinahe die Hälfte aller Arbeitsstunden in den „income earning areas“ an (handwerklich Hängematten, quasi fabrikmäßig Tofu, am Computer Indexieren wissenschaftlicher und anderer Veröffentlichungen). Man ist also den Zwängen des Markts ausgesetzt, wo es nicht darum geht, Sinnvolles zu tun und gut zu leben, sondern konkurrenzfähig zu arbeiten und sich auf Kauf und Verkauf zu verstehen.

Kommunismus und Steuerrecht, Kranksein und Urlaub

Im inneren Umgang sind der Konkurrenz allerdings von der outer world aus gesehen sehr enge Grenzen gesetzt. Auch die erfolgreichsten Verkäufer, Verhandlerinnen, Business-Keiler erhalten dieselbe magere monetäre „Allowance“ wie alle anderen, auch wenn die „nur“ im Garten arbeiten und Bad und Klo putzen. Sie haben alle den gleichen Zugang zu den Ressourcen und Annehmlichkeiten, die die Community bietet. Selbst für die Ausstattung der Privatzimmer gilt die Erwartung, dass „neiderweckende“ Dinge zu vermeiden sind. Private Fahrräder sind allerdings in Gebrauch, man fragt sich, ob der schrottige Zustand der kommunalen Drahtesel die Ursache oder die Folge davon ist. Geld, Güter und monetäre Ansprüche aus Versicherungen, Renten etc. aus dem „Vorleben“ bleiben zwar im Eigentum der Kommunarden, jegliches Einkommen aber, das daraus fließt, geht an die Community. Lohnarbeit außerhalb der Farm gibt es nur als „vacaton earning“, das Geld darf nur außerhalb von TO im Urlaub ausgegeben und die damit gekauften Waren konsumiert werden.

Die egalitäre, an Gütern, nicht an Geld orienterte Art des Zusammenlebens schafft in der Höhle des Löwen des Weltkapitals überraschenderweise Steuervorteile. Ein Twinoaker hat eine Steuerbestimmung ausgegraben, die im 19. Jh. für die christlich-kommunistische Gemeinschaft der Shaker durchgesetzt wurde und für TO ungemein günstig ist. Paradoxerweise wirkt damit ausgerechnet das Steuerrecht allen eventuell aufkommenden Privatisierungstendenzen entgegen. Das geringe Geldeinkommen und der darauf basierende Armenstatus verschafft den TOern auch die Möglichkeit kostenloser schulmedizinischer Grundversorgung im Universitätskrankenhaus von Charlotteville. Die gesunde Lebensweise und einiges an Alternativmedizin bietet die Kommune selber, für Zahnbehandlung kommt die Gemeinschaftskassa auf, für kostspielige Operationen gibt einen gemeinsamen Fonds der Federation of Egalitarian Communities.

An Urlaub werden jede Woche für die rechtzeitige Abgabe des Labor sheets zwei Stunden gut geschrieben. Aufs Jahr gerechnet summiert sich das auf magere ca. zweieinhalb Wochen, allerdings werden diese überlicherweise durch Mehrstunden in der Arbeit verlängert. Viele Leute sammeln solche Guthaben, die auch verschenkt werden können – auf dem O & I Board werden eben Stunden gesammelt für die Pflege der schwer kranken Kat Kinkade, die mit sieben anderen TO 1967 gründete. Sie hat sich von der Farm zurückgezogen, wohnt aber ganz in der Nähe. Einzelne spenden gleich einige Dutzend Stunden von ihren Guthaben. Ansonst verwenden manche ihre Credits für längere Reisen, manche aber verlassen die Farm nur selten. Urlaub nimmt man sich, wann immer eins will, ev. auch heute noch eine Stunde, weil mir grad anderes wichtig ist oder ich Schöneres zu tun habe. Bloß: andere hängen zu lassen schafft böses Blut.

Konsum, Genuss und Bildung

Das Konsumniveau in TO ist marktwirtschaftlich verantwortungslos, der Lebensstil des „work, buy, consume, die“ hat hier einige tiefe Dellen. Fernsehen ist verbannt, Handys ebenso! Für die hundert Leute gibt es ein gutes Dutzend Autos, wer aber statt mit dem Pkw mit dem Fahrdienst im Kleinbus in die Bezirksstadt Louisa (zweimal täglich), nach Charlottesville (zweimal wöchentlich) oder in die Hauptstadt Richmond (einmal wöchentlich) fährt, bekommt eine kleine Gutschrift. Kleidung ist meist second hand, auch die computer, die Fahrräder und alles Mögliche sonst, das bei anderen von Mode oder Prestige entwertet ist oder einfach zu viel wurde, weil man sich durch Kaufen fürs entgangene Leben entschädigen musste. In der Kommune hebt man den ökologischen Aspekt dieser Praxis hervor und erwähnt dabei auch gern noch das vielfältige Recycling und andere Maßnahmen des „Ecovillage“. Die Sache hat aber auch einen immens kulturellen Aspekt. Weniger Schrottkonsum putzt das Hirn, allein die Abwesenheit von TV und Mode hebt schon das Niveau des Tischgesprächs ungemein. Dass da sachkundig über Literatur und Philosophie diskutiert wird, habe ich „in der Welt draußen“ selten erlebt. Ein beiläufiges Gespräch über Aggression, Konrad Lorenz und Erich Fromm bei der Arbeit an den Hängematten wird am nächsten Tag fortgesetzt – ein Gesprächspartner hatte am Abend im Internet nachgelesen.

Der Towntrip nach Charlotteville hat seinen Sammelpunkt vor der Stadtbibliothek, die für einige Leute auch schon das erste Ziel ist. Für einen anderen ist es die Universitätsbibliothek, weil er sich eben mit Paul Feyerabend auseinandersetzt. Dieser philosophieinteressierte Mittdreißiger gehört übrigens zur Minderheit derer, die bis zu ihrem Eintritt in die Community nie an einem College waren (TO ist eine Mittelklassencommunity, trotzdem oder grade deshalb ist middle class auf der Farm für nicht wenige ein Schimpfwort). Ein junges Paar lädt mich in ein recht alternatives Teehaus ein, für das sie sich mit Hula-Reifen und Banjo in der Fußgängerzone ein paar Dollar „vacation earning“ eingespielt haben. In Richmond sind wir mit dem Auto durch die Gegend gedüst, die Jungen haben mit Bekannten aus der Stadt herumgeblödelt und vergeblich bei einer Schokoladefabrik was zu dumpstern versucht. Ein älterer Kommunarde sieht den Zug mancher Jungen zum „hang out“ in der Stadt mit Missvergnügen. Die Community soll nicht zur Schlafstadt werden. Andererseits beruht aber auf den Stadt-Trips und den dabei gepflegten auch durchaus „ernsthaften“ Kontakten ein Gutteil der Einbindung der Kommune in die Umgebung. Auf der Farm selber gibt es eine Klezmer und eine Rock Band, die zum Teil sogar überregional auftreten. Letztes Frühjahr wurde von zwei Dutzend Leuten „Cabaret“ einstudiert und aufgeführt, die Sauna wurde zu meiner Besuchszeit (und mit meiner Mithilfe) häufig geheizt, es gab Parties, Kinobetrieb mit Videobeamer, Diskussionsgruppen und im Courtyard wurde opulent, pittoresk und musikalisch der Geburtstag einer jungen Frau gefeiert. Die Hängematten, die im Wald verstreut zu finden sind, waren Anfang April noch wenig frequentiert und im großen Schwimmteich sind wir nur gewesen, wenn wir vorher in der Sauna waren. Aber der Sternenhimmel über Schwitzhütte, Teich und Wald ist dank der spärlichen Beleuchtung auf der Farm eine wahre Pracht.

Zusammenleben. Kinder

Das enge Zusammenleben in einer community ist für in dieser Welt sozialisierte Menschen eine Zumutung, wenn auch eine frei gewählte. Was immer man tut, betrifft auch andere, und wenn man nur ein Bild im Wohnzimmer umhängen will. Die aus so viel Nähe entstehenden Probleme sind nicht im Griff, hören die Besucher in einer der zahlreichen „Oreos“, Informationstreffen, deren Besuch auf dem Labor sheet von uns „Visitors“ steht, die wir drei Wochen auf der Farm leben und mitarbeiten. Die Kommunarden, die da vortragen, bemühen sich kaum die Gemeinschaft in rosigem Licht zu zeichnen. Schließlich kommt ein Großteil der Besucher, weil er sich mit dem Gedanken trägt, sich der Kommune anzuschließen, und TO hat kein Interesse daran, dass die Leute mit Illusionen eintreten und dann gleich wieder frustriert das Weite suchen. Die mittlere Verweildauer der Mitglieder liegt derzeit bei sieben Jahren, wobei aber manche, die TO verlassen, in andere communities umziehen und wieder andere in der Gegend und in mehr oder weniger engem Kontakt mit der Kommune bleiben. Der Abgang ist in den ersten Jahren höher, nicht wenige sind schon 15, 20 und mehr Jahre hier. Schwierigkeiten und Streitigkeiten kann man auf der Farm nicht leicht aus dem Weg gehen. Wenn eine Partnerschaft in die Brüche geht, verliert man einander nicht aus den Augen, Ausweichen und Vergessen funktioniert nicht so recht. Allerdings sind auch meist FreundInnen und Helfer zur Stelle, ja ein eigenes Group Process Team ist um Lösungen und Linderung für persönliches Unglück und aufkommende Zwistigkeiten bemüht. Aber zufrieden sind sie nicht mit dem, was sie erreichen. Größere Projekte wie der Bau neuer Häuser haben immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen und Trennungen geführt, zerbrochene Liebesverhältnisse enden nicht selten mit dem Rückzug von der Farm. Es gibt einige Einzelgänger, viele hetero- und homosexuelle Paare, Leute in einer größeren Gruppe von Partnern oder mit wechselnden Beziehungen, manche Liierte wohnen in derselben Small living group (8-20 Menschen, die eins der Wohnhäuser bewohnen) Tür an Tür, andere in verschiedenen Häusern, die Kultur von TO kennt hier keinen „Pfad der Tugend“, aber durchaus das Glück und Leid des Experimentierens.

Kinder und Jugendliche gibt es 15, nur ein Sechstel bis Fünftel der Zahl der Erwachsenen. Manche wollen mehr Kinder, aber die Zahl ist seit langem limitiert. Wer ein Kind will, diskutiert das mit den Leuten vom Child Board, wer einfach so ein Kind bekommt, hat sicher Schwierigkeiten mit etlichen anderen in TO. Ohne Reden geht sowieso kaum etwas und auch Kinderkriegen ist nicht einfach Privatsache. Schließlich sind es gewissermaßen auch die Kinder von allen, denn Kinder pflegen und erziehen ist „creditable“, im ersten Jahr in vollem Ausmaß, dann degressiv. Kinder und Pfleger werden von der Community versorgt und haben vollen Zugang zu ihren Ressourcen. Auch Kinder erhalten eine mit den Jahren zunehmende monatliche „Allowance“ und beteiligen sich altersgemäß an den Tätigkeiten auf der Farm. Ursprünglich wohnten die Kinder nach dem Vorbild der Kibbuzim in einem eigenen Haus und wurden von „Metas“ (von „Metapelet“, der Erzieherin im Kibbuz) umsorgt, die nicht unbedingt zu den Eltern gehörten. Zwar kümmern sich nach wie vor keineswegs nur Väter und Mütter um den Nachwuchs, mit und ohne labor credits, und die Kinder sind vermutlich die größten Fans des gemeinschaftlichen Lebens auf der Farm, aber das kibbuzähnliche System ist seit einigen Jahren aufgegeben, die Kleinen und Jungen wohnen bei ihren Eltern und die Community murrt und diskutiert über ihr unklar gewordenes oder vermutlich schon immer problematisches Verhältnis zur Jugend, die das aber nicht allzuviel zu kümmern scheint. Geblieben ist allerdings keines der in den letzten Jahrzehnten hier aufgewachsenen Kinder, wenn auch einige in anderen Kommunen sein mögen. Interessanterweise leben aber zur Zeit zwei Abkömmlinge von Ex-Members in TO.

Managers and Planners

Wie Entscheidungen getroffen werden, ist jener Teil des utopischen Romans „Walden Two“ des amerikanischen Behaviorismus-Papstes B. F. Skinner, der bis heute in TO umgesetzt wird. (Die community entstand nämlich weder als Hippie- noch als linksradikales Experiment, sondern als Umsetzung der Vorstellungen des Psychologieprofessors, von denen sie sich jedoch im Lauf der Jahre großteils verabschiedete. ) Es handelt sich keineswegs um eine Konsens- oder Abstimmungsdemokratie, vielmehr werden Entscheidungen von „Managern“ und „Planern“ getroffen. Die Angelegenheiten der Kommune sind in „areas“ eingeteilt, die von Managern, die nach verwandten Bereichen auch Councils bilden, bzw. von in „boards“ und „teams“ kooperierenden Gruppen von Leuten verwaltet und entwickelt werden. Die Bereiche sind höchst unterschiedlich in Inhalt und Umfang, sie reichen von der Betreuung der Bienen bis zur Instandhaltung der Gebäude, von der Verwaltung der „Pensionstunden“ bis zu der des großen „Warehouse“, von der Buchhaltung bis zum „Mental Health Team“. Dass dabei für die Autos eine Frau zuständig ist, fällt in TO nicht auf. Der Bedarf an Managern würde jedes Mitglied zu einem machen, was aber keineswegs alle wollen und wohl auch nicht können, sodass es nicht wenige Multifunktionäre gibt. Wichtigere Beschlüsse werden auf dem O & I Board vorgeschlagen und diskutiert, durch Beratung mit Betroffenen und Interessierten vorbereitet. Wer trotzdem nicht einverstanden ist, kann beim zuständigen Council und schließlich bei den Planern Einspruch erheben. Letztere sind eine Gruppe von drei Leuten, die überlappend für 18 Monate fungieren und erst nach einer Pause wieder diese Funktion ausüben können. Ihre Tätigkeit besteht vor allem darin, mit einzelnen und Gruppen über Perspektiven, Überlegungen, Vorschläge, Schwierigkeiten und Einsprüche zu beraten und auf der Grundlage solcher Gespräche Entscheidungen zu treffen. Wenn diese nicht ausreichend vorbereitet und im Vorfeld abgeklärt sind, ist Unmut die Folge, den zu vermeiden als wichtige Aufgabe der Planer angesehen wird. Entscheidungen der Planer können von einer Mehrheit der Mitglieder durch eine Unterschrift unter einem solchen Antrag auf dem O & I-Board außer Kraft gesetzt werden, was üblicherweise eine Ausnahmeerscheinung ist. Auch ihre Nachfolger werden von den Managern und Planern gesucht, der Community zur Diskussion gestellt und schließlich bestellt. Gegen die Bestellung eines Planers aber reicht bereits ein Votum von 20% der Members. Der Grund, warum sich diese Form der Entscheidungsfindung gegen andere Modelle wie den Konsens oder die Abstimmung bis heute gehalten hat, liegt wohl darin, dass so jedem Mitglied die Möglichkeit geboten wird, sich bloß so weit in die Dinge einzumischen, wie ihm in jedem Fall gut scheint.

Fragliche Perspektiven

Die Antworten auf die Frage, warum wer nach TO gezogen ist, sind weit gestreut. Umweltthemen spielen eine Rolle und vor allem der Wunsch nach Gemeinschaft und einem sinnvolleren Leben als in der Arbeitswelt draußen. Die Hoffnung, mit dieser Lebensweise die unhaltbaren Zustände des Mainstreams umzustürzen und eine neue Gesellschaft zu schaffen, hat im Vergleich zu den Sechziger-, Siebziger- und noch Achtzigerjahren sicher an Zuversicht eingebüßt, man spürt und weiß, dass man am Rand lebt und die Perspektiven einer grundlegenden Änderung der Gesellschaft höchst schwierig sind. Führt die schlichte Absicht, das eigene Leben durch den Beitritt zur Kommune zu verbessern in eine Sackgasse oder ist ein Leben in „cooperation, sharing, nonviolence, equality, and ecology“ selbst schon eine Art „Weltverbesserung“? Umso mehr als jeder Schritt zu auf diese Ziele der realen Entwicklung des Kapitalismus widerspricht.

Wieviel Neues kann in einer so kleinen Experimentierstation entstehen, das nicht vom Ozean der Warengesellschaft bald wieder verschlungen bzw. assimiliert wird? Oder nimmt mit der Krise der herrschenden Gesellschaftsform deren physischer und pychischer Druck und ihre Gewalttätigkeit derart zu, dass zumindest an den Rändern die Formulierung und Erprobung von Alternativen gelingen und attraktiv werden kann? (In verquerer Weise werden Vorzüge des kommunitären Lebens übrigens auch von Leuten wahrgenommen, bei denen eine gesellschaftskritische Einstellung nicht gerade zum Berufsbild gehört: So wenn der örtliche Sheriff feststellt, dass er überflüssig wäre, wenn im County alle so lebten wie die in Twinoaks. )

Mancher in TO fürchtet, dass angesichts der Verschärfung der Lebensbedingungen „draußen“ bei den Aufnahmewerbern bald nur noch die Wahl zwischen „loners, losers and drifters“ besteht, zwischen Leuten also, die dem Leben im „mainstream“ nicht gewachsen sind, in der community Unterschlupf suchen und ihre Stabilität gefährden.. Andere meinen, dass solche Leute auch auf der Farm scheitern und bald wieder das Weite suchen. Sie betonen damit die durchaus bestehenden grundlegenden Ähnlichkeiten des alternativen Lebens mit dem in „the outer world“. Persönlich habe ich jedoch auch einen TOer getroffen, der sich als „social outcast“ bezeichnete und das Lebens in der Gemeinschaft, die ihn heute hoch achtet, als eine Art Rettung empfindet. Wieviel Halt und Schutz für die Entwicklung von Neuem kann die community bieten, wieviel Checkertum und Kaltschnäuzigkeit braucht sie, um in der Welt, wie sie ist, überleben zu können?

Müssen sich Projekte wie TO vergrößern, um sich auf Dauer behaupten zu können, müssen sie das Oppositionelle ihrer Lebensweise und Kultur stärken und für sie als Alternative zum voranschreitenden ökologischen und menschlichen Desaster des Mainstreams werben – oder kann auch das Erreichte schon Vorbildwirkung entfalten? Wie dringend ist es zu professionalisieren, die Konkurrenzfähigkeit in den business areas zu stärken und weitere aufzutun und wie wichtig ist es durch Ausdehnung der Kooperation mit anderen Kommunen und den Menschen und auch den Betrieben in der näheren Umgebung von Markt und Konkurrenz unabhängiger zu werden? Wie viel Koexistenz ist lebbar, wieviel Konfrontation ist aushaltbar, wieviel Analyse des Vorhandenen und wieviel Vorstellung eines Auswegs muss eins haben, wenn man sein Experiment einer Alternative voranbringen will? Und welchen Stellenwert haben Communities wie TO überhaupt bei der Suche nach und dem Kampf um einen Ausweg.

Es wäre das erste Mal, wenn es dazu in TO nicht sehr divergierende Meinungen gäbe, aber das hat der Haltbarkeit des Projekts ja auch bisher nicht Abbruch getan.

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