Von Auschwitz nach Bagdad

ANMERKUNGEN ZU DEN WUNDERSAMEN WANDLUNGEN DES ANTI-ANTISEMITISMUS

Streifzüge 1/2002

von Ernst Lohoff

Der folgende Artikel stammt aus dem Jahr 1991 und ist in der Krisis 11 erschienen. Vor allem ob der aktuellen Parallelen dokumentieren wir ihn hier in einer Kurzfassung. Die Zwischentitel stammen von der Redaktion.

Hu-Hu-Hussein! ?

(… ) Die Zuspitzung am Golf ging natürlich auch an der bundesrepublikanischen Linken nicht spurlos vorüber. Sie wollte Position beziehen und verwechselte, wie fast immer bei solchen Gelegenheiten, Stellungnahme mit Parteinahme. Diesmal führte der Zwang, Farbe zu bekennen, zu besonders absurden Ergebnissen. Die Front am Golf reproduzierte sich als linker Binnenkonflikt. Die Linke spaltete sich gnadenlos in Befürworter und Gegner der Anti-Saddam- Hussein-Front, und ihre schweigende Mehrheit wusste, zwischen beiden Polen heillos hin- und hergerissen, gar nicht mehr, was vom linken Standpunkt aus denn nun richtig und was falsch sein soll.

Die einen, gestählte antiimperialistische Kämpfer, beteiligten sich an der wiedererwachten Friedensbewegung und spulten in deren Rahmen ihr über mittlerweile drei Jahrzehnte eingeübtes Standardprogramm ab. Sie wetterten wie gewohnt gegen die US-amerikanische Einmischungspolitik. Der 2. Golfkrieg bildete für sie nur ein weiteres Kettenglied in der schier endlosen Abfolge von US-Interventionen in der „Dritten Welt“. Der Kampf gegen den Irak reihte sich ihnen bruchlos in die US-Militäraktionen gegen Grenada, Vietnam oder Nicaragua ein. Die anderen schlossen sich unter dem Banner des Antifaschismus vorbehaltlos der internationalen Einheitsfront an. Spätestens der Spiegelessay von Hans Magnus Enzensberger machte die von der Bildzeitung eingeführte Identifizierung von Hussein mit Hitler auch für kritische Geister hoffähig und ebnete so jenen Linken den Weg, die sich wild entschlossen zeigten, Demokratie, Völkerrecht und insbesondere das Existenzrecht Israels am Schatt el Arab mit allen Mitteln durchsetzen zu lassen.

So konträr die politische Stoßrichtung auch ausfiel, so verwandt sind die beiden Positionen in ihrer Grundstruktur. Der Gegensatz dieser Haltungen läuft auf bloße Reziprozität hinaus. Sie ähneln aber einander nicht nur deshalb, weil beide Seiten sich auf eine Auseinandersetzung mit der realen Entwicklung in den arabischen Ländern nicht einlassen, und die Vorstellungen von diesem Konflikt stattdessen auf historischen Übertragungen beruhen; sie gleichen einander auch in ihrer seltsam einseitigen Negativfixierung. Die Antiimperialisten verstanden sich diesmal, entgegen ihren üblichen Riten, nicht als die Freunde der Feinde ihrer Feinde und wollten auch nicht dafür gehalten werden. Die irakische Konfliktpartei unterlag einem neuartigen Ausblendungszwang.

In seiner wechselhaften Geschichte war hierzulande der vielfach beschworene Kampf gegen den „US-Imperialismus“ bislang noch jedesmal mit einem positiven Bezug auf die Befreiungsbewegungen der 3. Welt gekoppelt. Ob es die nicaraguanischen Campesinos waren, die sich romantizistischer Verehrung erfreuten, oder ob, wie bei Herbert Marcuse, die kleinen und daher liebespaarfreundlichen Parkbänke Hanois als Vorschein eines nichtentfremdeten Gesellschaftszustandes herhalten mussten, die bessere Welt war noch jedesmal im kämpfenden Süden zu suchen. Antiimperialismus und Solidaritätsbewegung fielen in eins.

Ganz anders Anfang 1991. Niemand dachte mehr wie noch acht Jahre vorher an revolutionären Ferntourismus. Das identifikatorische Moment war dahin. Sobald die irakischen und arabischen Binnenverhältnisse zur Sprache kommen, werden die Antiimperialisten des Irakzyklus merkwürdig wortkarg und wechseln möglichst schnell das Thema. Während vor einem Menschenalter der Name des nordvietnamesischen Volkshelden und Präsidenten hierzulande noch unmittelbar als Demoparole taugte, verfiel selbst der erbittertste westliche Anti-Bush- Aktivist kaum auf die Idee, aus Protest gegen die alliierte Luftoffensive „Hu-Hu-Hussein“ zu skandieren.

Was bei den Gegnern der US-Intervention defensiv und ausweichend daherkam, trugen die linken Apologeten der „Anti-Hitler-Koalition“ in ihrer verblüffenden proamerikanischen Wendung offensiv vor. Der Schulterschluß mit der US-Politik wurde nicht an ihr selber begründet, er wurde ausschließlich durch ein überhöhtes Feindbild und einen allzeit abrufbereiten Anti- Antisemitismus gerechtfertigt. In fast schon klassischer Form läßt sich an dem „Konkret“-Beitrag (3/91) von Wolfgang Pohrt studieren, wie sich die von der Kritischen Theorie inspirierte Pro-Amerika-Haltung unweigerlich im Gravitationsfeld dieser Argumentationsstruktur ausrichtet. Der Autor will zunächst positiv werden und eine Lanze „Für Amerika“ (so der ursprünglich geplante Titel seines Artikels) brechen und schafft es dann doch nur, Amerika durch einen Frontalangriff auf die deutsche Friedensbewegung und ihre angeblichen antijüdischen Ressentiments zu verteidigen: „Über Amerika also kein Wort von mir, aber ein paar Überlegungen zur Entwicklung hier, “ lautet denn auch die Schlüsselsequenz.

Die gleiche Ausblendlogik, die sich in Wolfgang Pohrts cholerischem Anfall noch naturwüchsig gegen den Willen des Autors durchsetzt, spreizte sich in den Verlautbarungen der ISF Freiburg zur offiziellen Deklaration auf: solange sie sich nur mit dem vermeintlichen Lebensinteresse des jüdischen Staates überschneiden, „stehen die Interessen der USA außerhalb jeder Kritik“. 1Wer sich dazu hinreißen läßt, an der US-Regierung und ihrem militärischen Vorgehen herumzumäkeln, macht sich damit bereits als Judenfeind verdächtig. Wenn er zu allem Überfluß auch noch Deutscher ist, entlarvt er sich damit unweigerlich als unverbesserlicher Antisemit. Sobald es um Israel oder die Juden geht, hört der Spaß auf. Wer ausflippt und sich, wie Wolf Biermann in der „Zeit“, die Atombombe auf Bagdad herbeiwünscht, beweist damit nur seine moralische Überlegenheit. (… )

Antifaschistisches Klammern

An den geballten Äußerungen der Bellizistenschar fällt zunächst eines auf. Während der wirkliche Golfkrieg in Irak und Kuweit tobte, lag der Hauptkriegsschauplatz für die linken Kriegsapologeten nicht in diesen wenig interessanten arabischen Ländern, sondern in Israel. Erst seine gegen den Judenstaat gerichteten Drohungen machten aus Saddam Hussein in den Augen der linken Befürworter der „Operation Wüstensturm“ den „neuen Hitler“, und auch die an die Adresse der Friedensbewegung gerichtete Anklage lautet unisono auf „Antisemitismus“ und Judenhaß. Sämtliche Beiträge etwa in dem Bändchen „Liebesgrüße aus Bagdad“ durchzieht die gleiche mittlerweile wohlvertraute Holzhammerlogik: Wer sich weigert, „dem Diktator bei der Ausführung seines von ihm angedrohten Massenverbrechens – nämlich Israel in ein Krematorium zu verwandeln – in den Arm zu fallen“2, der betreibt im besten Falle eine unveranwortliche „fundamental-pazifistische Appeasement-Politik“, oder er ist selber pazifistisch getarnter Antisemit und nimmt die „Vernichtung Israels“ mit klammheimlicher Freude in Kauf. Ob Eike Geisel die katholische Lehre von der Erbsünde neu entdeckt und sich die zahlreichen vom Golfkrieg aufgeschreckten jugendlichen Friedensdemonstranten zur mit antisemitischen Ressentiments aufgeladenen „pazifistischen Werwolf-Truppe“3 umfabuliert, ob Wolfgang Schneider die unterschwellig vorhandene „Abneigung gegen die Juden“ „im Engagement gegen den Golfkrieg manifest“4 werden sieht, der Tenor der Argumentationen läßt keine Missverständnisse über die Stoßrichtung zu. Die Friedensbewegung muss bekämpft werden, weil sie Saddam Hussein nur den Rücken frei halten will, auf dass dieser das Werk Adolf Hitlers vollenden kann. 5

Die überragende Rolle Israels in der Golfkriegsdebatte war ein spezifisch deutsches Phänomen. Auch in anderen westlichen Ländern führte die allierte Intervention zu heftigen Auseinandersetzungen, aber nirgendwo sonst avancierte dabei wie hierzulande die Bedrohung des Judenstaates zur alles entscheidenden Gretchenfrage. Es bedarf sicher keines besonderen Scharfsinns, um einen Zusammenhang zwischen dem deutschen philosemitischen Bellizismus und der Last der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands zu vermuten. Die offensichtlich zwanghafte Identifizierung der Attacken Saddam Husseins auf israelisches Territorium mit dem Holocaust bei vielen linken bundesdeutschen Publizisten ist damit aber per se noch nicht erklärt. Die zu Grunde liegende Logik nimmt erst deutlichere Konturen an und wird nachvollziehbar, wenn wir uns vor Augen führen, welchen Stellenwert der historische Nationalsozialismus im Selbstverständnis der Linken hat. Die reflexhafte Anti-Saddam-Hussein Reaktion steht nicht für sich, sie verweist auf die Sinnstiftungsfunktion des nachholenden Antifaschismus, der mittlerweile zur wesentlichen linken Identitätsbestimmung geworden ist.

Der sprießende linke Antifaschismus erwächst nicht aus einer breiten und tief schürfenden Beschäftigung mit dem historischen Nationalsozialismus, er ist ein genuines Produkt der heutigen Krise der Linken, ein provisorischer und ins Leere greifender Notanker. Westdeutschlands Linke verfügt heute längst nicht mehr über ein positives Selbstverständnis. Was Sozialismus wohl heißen könnte, weiß seit Jahr und Tag so genau keiner mehr zu sagen; für welches politische Programm die Linke steht, kann sie nicht einmal mehr in Floskeln angeben; mit dem sanften Entschlafen der „neuen sozialen Bewegungen“ hat sie überdies die Manövriermasse und ihr letztes Betätigungsfeld eingebüßt. Alle linken Prinzipien sind schwankend geworden. Mit dem Ende der Nachkriegskonstellation ist auch die dazugehörige Oppositionsbewegung gegenstandslos geworden. Die gegenwärtigen Entwicklungen, die im Kollaps des Realsozialismus ihren bisherigen Höhepunkt erreichten, haben das linke Weltbild heillos in Verwirrung gestürzt. Angesichts dieser für sie lebensfeindlichen Wirklichkeit hat sich die Linke auf die fiktive Fortschreibung der übersichtlichen vergangenen Fronten zurückgezogen. So konzeptionslos auch die Linke den drängenden gegenwärtigen globalen Problemen der Gegenwart gegenübersteht, so wenig sie sich hier positiv gegen die herrschende Politik profilieren kann, all diese Mängel werden kompensiert durch eine allzeit klar herausposaunte antifaschistische Pseudoorientierung, durch die Stellungnahme zu den Kämpfen einer abgeschlossenen Epoche. Die antifaschistische Klammer hält notdürftig zusammen, was ansonsten augenblicklich auseinanderfallen würde. Mit ihrer strammen, jederzeit kampfbereiten antifaschistischen Grundhaltung erwirbt sich die Linke in ihren eigenen Augen eine letzte Daseinsberechtigung. Der Faschismus darf nicht sterben, seine Kontinuität und Wiederkunft muss allemal an die Wand gemalt werden, weil sich die antifaschistische Linke ohne diesen Negativfixpunkt in Wohlgefallen auflösen müsste.

In der Entstehungsphase der neuen Linken war der Angriff auf die Tabuisierung und Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit eines ihrer wesentlichen, treibenden Motive. Auf ihre alten Tage hoffnungslos in die Defensive geraten schlägt dieses Verdienst in Bekenntniszwang um. Das Tabu der Adenauerzeit überlebt an der Linken als sein Negativ. Das totgeschwiegene Karthago ist nicht mehr, aber die Linke brabbelt wie ein verwirrter Kriegsveteran aus den punischen Kriegen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihr ceterum censeo unverdrossen vor sich hin und schließt alle Ereignisse mit ihren Kriegserlebnissen aus zweiter Hand kurz. Was die Großeltern konzentriert verschwiegen, führt die neulinke Elterngeneration notorisch im Mund, und den Nachwachsenden quillt es verständlicherweise längst aus den Ohren.

Die Unbestimmheit dessen, was Antifaschismus nun denn 45 Jahre danach heißen soll, konterkariert dessen sinnstiftende Potenz nicht, sie ist vielmehr sogar deren Voraussetzung. Nur weil er nichts Konkretes zu bedeuten hat, sondern für alles und nichts zugleich steht, bleibt ihm die Demontage erspart und taugt er zum universellen Bezugspunkt. Die antifaschistische Nullideologie bringt die auseinander diffundierenden Tendenzen einer zerfallenden Linken zwar nicht zur Deckung, sie schafft aber im Auflösungsprozeß noch einmal ein gemeinsames Diskussionsmilieu. (… )

Der ewige Jude

Dieses Spielchen läßt sich sicher noch geraume Zeit fortsetzen, zu besonders fruchtbaren Ergebnissen wird es aber kaum führen. Im Gegenteil, der neue Antifaschismus fällt hinter den Stand zurück, den die gesellschaftskritische Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus bereits erreicht hatte. Auch das läßt sich am Beispiel der bellizistischen Golfkriegsdebatte phänotypisch studieren.

In der Historikerdebatte waren es gerade die linken Protagonisten, die die Einzigartigkeit nationalsozialistischer Herrschaft betonten. Sie wehrten sich entschieden dagegen, die von den deutschen Faschisten ins Werk gesetzten Verbrechen und Gräuel als eine von viel zu vielen Eintragungen in der langen Reihe geschichtlicher Massaker und Genozide zu behandeln, und weigerten sich dementsprechend, Hitler kurzerhand mit historischen Figuren wie Nebukadnezar, Scipio Africanus minor, Stalin und Idi Amin auf eine Stufe zu stellen. Den besonderen Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft begründeten sie dabei in erster Linie mit der Singularität der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Völlig zu recht beharrten sie darauf, dass einerseits der Nationalsozialismus nicht abgetrennt von Auschwitz und dem Holcaust verstanden werden kann, und dass andererseits das einmalige Phänomen der staatlich organisierten systematischen Judenvernichtung den deutschen Nationalsozialismus aus dem Wust historischer Unrechtsregime heraushebt.

Die linken Israelverteidiger verkehren diese Einsicht in ihr Gegenteil. Aus der umstandslos gelöschten Einmaligkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung wird die überzeitliche Einmaligkeit des jüdischen Opfervolkes. Wenn Kurden, Schiiten und sonstige Bewohner des Iraks von den Schergen Saddam Husseins und den allierten Verteidigern des Völker- und Menschenrechts ausgebombt, erschossen, verbrannt und Seuchen preisgegeben werden, dann ist das der nicht weiter erwähnenswerte geschichtliche Normalfall. Sobald aber Juden angegriffen werden, egal aus welcher Frontstellung heraus, dann stellt das per se bereits die unmittelbare Fortsetzung von Auschwitz und Treblinka dar. Die gegen den arabischen Mythos der Unverwundbarkeit Israels gerichteten kriegerischen Propaganda- Aktionen aktivieren alle schlummernden Holocaust-Phantasien. Das Stichwort Gas reicht vollkommen aus, und der tragische Herztod einiger älterer Tel Aviver Bürger assoziiert sich im Handumdrehen zur Wannseekonferenz und erscheint als deren planmäßige Umsetzung. Der arabisch-israelische Konflikt durchmischt sich mit den Bildern des Warschauer Ghettoaufstands. Schlagen im Negev ein Dutzend vorsintflutlicher Raketen ein und wirbeln Sand auf, dann bedeutet das die unmittelbare Fortsetzung von Hitlers Ausmerzungsplänen. Der Diktator verwandelt sich in die Reinkarnation Hitlers, und im Irak, einem Land mit wenig erfreulichen, aber für die 3. Welt keineswegs untypischen Verhältnissen, aufersteht das Reich des Bösen. Der von Saddam Husseins großmäuligem „antizionistischen“ Getöse ausgelöste Aufschrei entkoppelte sich sofort vom realen Anlass.

Wie auf ein vertrautes Klingelzeichen gut abgerichtet, reagieren die linken Golfkrieger auf das Stichwort „Jude“ unwillkürlich mit Speichelfluß, gespannter Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, sofort kraftvoll zuzubeißen, und es spielt keinerlei Rolle mehr, dass der moderne Staat Israel etwas ganz anderes zu bedeuten hat als das präzionistische, über die sich herausbildenden Nationalstaaten verstreute europäische Judentum. Diese in der Verhaltensforschung als bedingter Reflex bekannte Reaktionsweise ist aber nicht nur vortheoretisch, die archaisch-projektive philosemitische Reaktionsbildung erinnert auch fatal an den bekämpften klassischen Judenhass.. In ihren Angriffen auf die Friedensbewegung überlebt das Hassobjekt der Nazis, der „ewige Jude“, zum Identifikationsgegenstand gewendet.

Nach Auschwitz

Pohrt und andere haben schon früher bei verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen, wie wenig gerade auch im linken politischen Spektrum der BRD von einer Bewältigung des Holocaust-Traumas die Rede sein kann. Ihre Kritik zielte dabei auf die vielen politikasternden Verdrängungskünstler. Pohrts eigene Reaktion und die seiner Gesinnungsgenossen von Cora Stephan bis Micha Brumlik auf die Zuspitzung am Golf zeigen aber, dass von Verarbeitung auf der innerlinken Gegenseite ebensowenig die Rede sein kann.

Wenn traumatische Ereignisse nicht bewältigt und überwunden werden, so kann sich das in zwei gegenläufigen Formen äußern: einerseits als rigorose Verdrängung, andererseits als Fixierung und ständige Wiederholung. Leute wie Pohrt verkörpern die zweite Variante. Für sie ist der Genozid an den europäischen Juden zum universellen Interpretationsrahmen geworden. Auschwitz ordnet sich ihnen nicht in eine bestimmte historische Epoche ein, Auschwitz ist ein Ereignis sui generis, etwas Existentielles, aus der Geschichte Herausgehobenes. Die Frage nach der „Kunst nach Auschwitz“ (Adorno) wird verallgemeinert und in die Zukunft verlängert. Auschwitz ist nicht nur eine entscheidende geschichtliche Zäsur, Auschwitz beendet alle bisherige Zeitrechnung. Wie bei Hegel die geschichtliche Entwicklung affirmativ verstanden im preußischen Staat Erfüllung und Abschluß findet, so wiederholt sich am Holcaustschock die gleiche Sichtweise negativ gewendet.

Die ursprüngliche, dabei aber auch elaborierteste Fassung dieser um das Auschwitzmotiv zentrierten Weltsicht lieferte die kritische Theorie. Nach der militärischen Niederwerfung Hitlerdeutschlands und der alsbald mit dem Kalten Krieg und dem Wirtschaftswunder einsetzenden rigorosen Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde die Erinnerung an das nationalsozialistische Grauen zu einem zentralen Gesichtspunkt jener vor allem von Horkheimer und Adorno formulierten Gesellschaftskritik. Der Faschismus und Auschwitz, so der durchgängige Tenor in den im und kurz nach dem 2. Weltkrieg erschienen Schriften, haben sichtbar gemacht, was Kapitalismus bedeutet. Die Vertreter der Enkelgeneration der Frankfurter Schule intonierten diese Melodie in den letzten Jahren ein um das andere mal neu. Autoren wie Wolfgang Pohrt und Joachim Bruhn haben ein Gutteil ihrer Publizistenexistenz mit der Verfertigung mehr oder minder gut gelungener Remakes zugebracht, und noch bei jeder sich irgendwie bietenden Gelegenheit einen Bezug zu Auschwitz hergestellt. Bei den Erben der kritischen Theorie blieb der Rekurs auf die nationalsozialistische Judenverfolgung allerdings bislang im Rahmen von Kultur- und Ideologiekritik. Diese metaphysisch angehauchte Selbstbescheidenheit ermöglichte jenes kritische immer etwas unbestimmte Raunen, das zum Markenzeichen dieser Strömung geworden ist. Mit dem Golfkrieg aber wurde Auschwitz, die Lieblingsmelodie der Epigonen, zur unmittelbar politischen Fanfare. Der Absturz in die Niederungen der Tagespolitik bekam den „kritischen“ Adepten nicht gut. Der Sphärensprung, die überraschende praktische Bewährungsprobe, brachte die innere theoretische Schwäche der um das unaufgelöste Auschwitztrauma kreisenden Position ans Tageslicht. Was gesellschaftskritisch gemeint war, die Entlarvung des verdrängten antisemitischen Bodensatzes und der Irrationalität der herrschenden Weltvergesellschaftung, wird plötzlich nolens volens zur Rechtfertigung für ein unnachgiebiges Vorgehen des Westens gegenüber dem neu aufkeimenden „Irrationalismus“ im Süden. Die Kritiker der Moderne formulieren mit am Schießbefehl, der die Vorneverteidigung der „Festung Europa“ gegen die fundamentalistischen Horden der Zukurzgekommenen ermöglichen soll.

Diese Veränderung ist nachhaltig und irreversibel. Die Adepten der Kritischen Theorie, die wie Joachim Bruhn an ihrer grundsätzlichen Gesellschaftskritik festhalten, und sie nur in diesem speziellen Fall sistiert sehen, weil „etwas anderes auf der Tagesordnung steht“6, lügen sich damit nur gehörig in die Tasche. Die Unterstützung des Weltpolizisten kann kein bloßes folgenloses Intermezzo bleiben, das den wieder erlangten kritischen Wolkenkuckucksheim-Alltag unberührt läßt. Die Rückkehr zur kritischen Virginität wird sich auf Dauer nicht bewerkstelligen lassen, wenn Saddam Husseins militärisches Golfabenteuer ebenso wie der islamische Fundamentalismus keine Eintagsfliegen bleiben, sondern eine grundsätzliche Veränderung im Verhältnis von Nord und Süd und innerhalb der globalen Elendsregionen ankündigen. Genau das zeichnet sich aber ab. Das von der krisengeschüttelten westlichen Rationalität erzeugte weltweite Elend wird sich künftig verstärkt in „irrationalen“ Massenbewegungen entladen, die keineswegs zum Fraternisieren, sondern nur zum Fürchten einladen. Gegenüber der Neigung, das fanatisierte und kriminelle Elend in Schach zuhalten verblasst der verwaschene unpraktische kritische Anspruch aber recht schnell. Was Ausnahme sein sollte, wird über kurz oder lang zur Regel werden. Unabhängig davon, ob sich in den drohenden sozialen Eruptionen und ihren Zersetzungsprodukten im Einzelnen antisemitische Momente werden nachweisen lassen, auf Dauer wird sich das schnörkellose Bekenntnis zur wehrhaften westlichen Rationalität gegenüber dem kulturkritischen Luxus durchsetzen. (… )

Durchsetzung oder Krise

Der westliche bürgerliche Nachkriegsstaat und seine Sachzwang-Administration ist gegen antisemitische Ressentiments genauso immun wie gegen jede andere, homöopathische Dosen übersteigende „weltanschauliche“ Orientierung. Der Antisemitismus verschwindet damit aber keineswegs vom Antlitz der Erde. Das antisemitische Ressentiment überlebt als eine mögliche Reaktionsbildung bei jenen, die in den Konkurrenzkämpfen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft auf der Strecke bleiben. Nie waren aber in der Nachkriegszeit die Opfer weltweit derart zahlreich wie heute, und so erlebt auch der Antisemitismus seit den 80er Jahren eine Renaissance. Besonders in Osteuropa erreicht er mittlerweile eine erschreckende Verbreitung und Intensität. Aber selbst wenn sich der zeitgenössische Judenhaß noch zum Pogrom steigern wird, er ordnet sich trotzdem in einen gänzlichen anderen historischen Kontext ein, der mit Auschwitz nichts gemein hat. Der neue Antisemitismus erwächst nicht mehr aus der Durchsetzung der modernen Arbeitsgesellschaft, seine neue Blüte ist ihrer Krise geschuldet. Sein Träger kann nicht die Staatsgewalt sein, es sind die Ausgegrenzten, deren Verzweiflung sich an wechselnden Opfern entlädt, zu denen auch wieder die Juden gehören mögen.

Die Arbeitsgesellschaft hat ihre Tore wegen Arbeitsmangels geschlossen, und die anschwellende Zahl der Herausgefallenen muss sich in einer Müllhaldenökonomie zurechtfinden. Das marktwirtschaftliche Arkadien bedeutet mittlerweile für mindestens 3/4 seiner Bewohner die Hölle. Die Weltarbeitsgesellschaft und ihre Staaten sind mit ihrer Integrationskraft am Ende. Das ändert aber am Charakter des bürgerlichen Staates nichts. Die Sachzwang verwaltende abstrakte Allgemeinheit setzt sich bis auf weiteres als pragmatische Notstandsregulation fort. Die demokratische Elendsverwaltung agiert ideologieund emotionslos im gewohnten Fahrwasser, so gut es geht.

Außerhalb dieser offiziellen Sphäre übersetzt sich die dumpfe Stimmung der zu kurz Gekommenen jedoch in ideologische Ausbrüche und Bewegungen. Das gilt insbesondere für das südliche und östliche Gros der Weltgesellschaft. Wo sich die Verlierer nicht in ihr Schicksal fügen und sich nicht in ihre demokratisch und völkerrechtlich einwandfrei regulierte Favela-Existenz ergeben wollen, äußert sich ihr verzweifelter Protest als Abkehr vom Westen und als ideologischer Rückbezug auf ältere Traditionen. Eine neues, funktionstüchtiges und zukunftsträchtiges „Gesellschaftsmodell“ kann aus diesen Bewegungen nicht entspringen. Sie taugen aber immerhin dazu, Weltmarktverlierer unter einer gemeinsamen Fahne für Weltbürgerkriegs- Scharmützel zusammenzufassen. In den regressiven Strömungen vom peruanischen Sendero luminoso bis zur russischen Pamjat-Bewegung kristallisiert sich der ausweglose Haß auf die westliche Zivilsation.

So selbstzerstörerisch und aussichtslos diese ideologischen Ausbrüche auch sein mögen, ihr Destruktionspotential wird im modernen Weltdorf auch den Westen erreichen. Den Bewohnern der wenigen verbliebenen glücklichen Oasen in der Weltmarktwüste dämmert das längst. In Europa geht vor allem die Furcht vor dem islamischen Fundamentalismus um, der sich quasi vor der eigenen Haustür, am anderen Ufer des heimischen Mittelmeeres, seuchenartig verbreitet.

Die Angst ist berechtigt. Die landläufigen Deutungsmuster, die dieses neuartige Phänomen erklären sollen, führen allerdings gründlich in die Irre. Was sich da im Maghreb und in Nahost zusammenbraut, ist keineswegs die Rückkehr von mittelalterlichen vordemokratischen Verhältnissen, der Fundamentalismus ist vielmehr selber das ureigenste Produkt der in die Krise geratenen Moderne. Von den IWF-Riots, die Anfang der 80er Jahre die nordafrikanischen Slums erschütterten, bis zur flüchtigen, islamisch unterfütterten Saddam-Hussein-Begeisterung, zieht sich eine Linie. Die illegitimen, vergessenen Kinder des Westens treten zu Suicid und Vatermord an.

Diese düstere Entwicklung trifft auch die Modernisierungslinke in ihrem Kern. Ihrer Utopien lange schon verlustig gegangen, nähert sie sich aus Angst und Ekel vor den zerstörerischen Reaktionen der Verlierer immer mehr den staatlichen Notstandsverwaltern an. Die Defensive der Moderne treibt auch ihre linken Avantgarden zur Selbstaufgabe und hinter die allgemeinen bürgerlichen Prinzipienmauern von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, freier Marktwirtschaft und Völkerrecht. In dem selben historischen Augenblick, in dem eine fundamentale und radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschaft nötiger wird denn je, dankt die Linke ab und degeneriert zum beflissenen Helfershelfer. Was sich in der Gorbimanie noch einigermaßen optimistisch angekündigt hat, setzt sich anläßlich der USIntervention im Irak erbittert und menschenverachtend fort. Die Restbestände der kritischen 68er Generation werden ihrer neuen Rolle wohl auch weiterhin treu bleiben und sich nach Kräften bei der Vorneverteidigung der demokratischen Festung Europa engagieren. Die Konsequenteren werden sogar den atomaren Schießbefehl auf die vielen Opfer der Moderne fordern oder zumindest in Kauf nehmen müssen. Der zurück geschlagene Versuch Saddam Husseins, den bankrotten Irak durch die Annexion Kuweits einigermaßen zu sanieren, steht nicht am Ende gewaltsamer Verwicklungen in Nord und Süd, sondern an deren Anfang. Recht und Mord werden sich zweifellos im Laufe der weiteren Entwicklung auch außerhalb des zerbombten Bagdad als Synonyme bewähren.

Auf Seiten der „zivilitätstheoretisch“ geläuterten Teile der Linken kündigte sich diese Absetzbewegung von jeder gesellschaftskritischen Intention schon lange an. Die Rechtfertigung der Anti-Saddam-Koalition war nur konsequent und letztlich keine Überraschung mehr. Dagegen trägt der Frontwechsel, den die Enkel der Kritischen Theorie bei dieser Gelegenheit vollzogen haben, fast schon tragische Züge.


1 Joachim Bruhn, zitiert nach „Liebesgrüße aus Bagdad“, Berlin 1991, S. 136.

2 A. a. O. , S. 58.

3 „Liebesgrüße“, S. 56.

4 A. a. O. , S. 72.

5 Vor allem die Beiträge von Eike Geisel, Jörg Friedrich und Ralph Giordano bewegen sich auf der schmalen Grenzlinie zwischen Ideologie und Wahnsystem. Das gleiche gilt aber auch für den in diesem Sammelband nicht vertretenen Wolfgang Pohrt. Seine in der Konkret 3/91 publizierten Aussonderungen zum Golfkonflikt und gegen die hiesige Friedensbewegun sind von einem blindwütigen hysterischen um sich Schlagen nicht mehr zu unterscheiden. Während er Anno 1983 der damaligen Antinachrüstungsbewegung ebenso ätzende wie treffende Polemiken widmete, fallen seine gegen den vermeintlichen Antisemitismus in der Antigolfkriegsbewegung gerichteten Ergüsse nur mehr unter die Rubrik Pathologisches.

6 „Liebesgrüße“, S. 133.

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