„Menschenrecht bricht Staatsrecht“

Vordenker und Vollstrecker deutschen VölkerRechts oder: Zu den völkischen Traditionen des rot-grünen Interventionismus

Streifzüge 4/2000

von Cordula Behrens-Naddaf und Klaus Thörner

Die deutsche Expansionsideologie bedarf noch eines neuen Völkerrechts, stellte Franz Neumann 1942 fest und unterstrich gleichzeitig, daß der Nationalsozialismus großen Wert darauf legte, seine Politik international zu legitimieren und deshalb zahlreiche Beiträge zu einer Veränderung des Völkerrechts unterbreitete. [1] Heute, d. h. mit und nach dem Kosovo-Krieg, geht es wieder um ein neues Völkerrecht und die Herbeischreibung „gerechter Kriege“. Zur historischen Einordnung dieser Diskussion, soll hier der Frage nachgegangen werden, welche Implikationen in der deutschen Tradition mit den Begriffen „Völkerrecht“ und „Menschenrecht“ verbunden werden.

Das mit dem Kosovo-Krieg offen zutage getretene Ziel der deutschen Politik, wonach ein auf Gruppen bezogenes „Menschenrecht“ d. h. Volksgruppenrecht gegenüber dem bis dato international geltenden Grundsatz staatlicher Integrität und Souveränität und der Unverletzlichkeit von Grenzen künftig im Völkerrecht zur Priorität und zur Legitimation militärischer Interventionen erhoben werden soll, ist keine den aktuellen Verhältnissen geschuldete Erfindung Joseph Fischers und Rudolf Scharpings. Die rot-grünen Kriegsherren knüpfen bewußt oder unbewußt an die Zielsetzungen des Pangermanismus an und erweisen sich als Plagiatoren völkischer Vordenker. Es war Georg von Schönerer (1842-1921), Vater der alldeutschen Bewegung in Österreich-Ungarn und eine der größten Leitfiguren Adolf Hitlers, der bereits um die Jahrhundertwende die Parole prägte: „Volksrecht bricht Staatsrecht“. Dahinter stand die bis heute nachwirkende, wahnhafte Überzeugung der österreichischen Pangermanisten, daß eine „rassische Überfremdung“ drohe, d. h. die Hegemonie der Deutschen innerhalb des Habsburger Reiches von Slawen und Juden gefährdet sei und die Wiener Regierung die deutschen Interessen nicht ausreichend schütze. Daher müsse unter Verweis auf das „Volksrecht“ der multinationale Staat Österreich-Ungarn aufgelöst und durch ein Großdeutsches Reich ersetzt werden. [2] Im Gebiet des vorläufig noch kleindeutschen Reiches vertrat der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) in Übereinstimmung mit den österreichischen Pangermanisten bereits 1906 den Rechtsanspruch „Volk steht überm Staat“. [3] Der Schüler Georg von Schöneres, Adolf Hitler, modifizierte dessen Zielsetzung in den zwanziger Jahren in seiner Schrift „Mein Kampf“ nur geringfügig. Sein Leitsatz lautete „Menschenrecht bricht Staatsrecht“. In Bezugnahme auf die mit der alldeutschen Brille betrachteten Verhältnisse in Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg schrieb er: „Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht. Nicht die Erhaltung eines Staates“ sei „der höchste Zweck des Daseins der Menschen, sondern die Bewahrung ihrer Art“. [4] Mit anderen Worten: Wenn Hitler als Vertreter der Pangermanisten von Menschenrechten sprach ging es ihm nie um Rechte von Individuen, sondern immer um Volksgruppen, in erster Linie die Deutschen. Nicht der Einzelmensch, sondern die Volksgemeinschaft galt deutscher Völkerechts- bzw. Menschenrechtspolitik als Ausgangspunkt. Darauf verweist auch das deutsche Wort für internationales Recht (international law): Völkerrecht. Zwischen 1933 und 1945 und ab 1989 legten und legen die Deutschen das Völkerrecht in seiner wörtlichen Bedeutung als „Recht der Völker“ aus. Den Begriff verwerfend, daß Staaten die Subjekte des internationalen Rechts sind, behaupten sie, nur Völker könnten Völkerrechtssubjekte sein. [5]

Hitler sprach die deutsche Überzeugung aus, daß jeder Mensch vor allem seinem Volk und nicht dem Staat, dem er angehöre, verpflichtet sei. Gegebenenfalls müsse ein Volk staatliche Grenzen überwinden, um zur Einheit zu gelangen. Diese Argumentation gab 1938 die Legitimation für den „Anschluß“ Österreichs und des „Sudetenlandes“ ab.

Bereits 1933 hatte sich Hermann Ullmann, Beauftragter für den Südosten des VDA, der bis heute führenden Organisation völkischer Aufmischung, die zu diesem Zeitpunkt von Verein in Volksbund für das Deutschtum im Ausland umbenannt worden war, gegen das „Dogma von der Nichteinmischung in die innenpolitischen Verhältnisse fremder Staaten“ gewandt. Die „Sudetendeutsche Heimatfront“ erörterte in dieser Phase die Relativität des bestehenden Völkerrechts. Die maßgeblich über den VDA aktivierte „Sudetendeutsche Partei“ verbreitete die Parole „Heim ins Reich“. 1938 wurden blutige Unruhen provoziert und Terrorakte in Szene gesetzt. Daraufhin rief die tschechische Regierung den Belagerungszustand aus und verhängte, ähnlich wie die jugoslawische Regierung 1998 im Kosovo, das Kriegsrecht über die Grenzprovinzen. [6] Unter Berufung auf das Minderheitenrecht nutzte das nationalsozialistische Deutschland diese Sitution zur militärischen Intervention. Der „Anschluß“ des Sudetengebietes und die im Frühjahr 1939 folgende Auflösung der Tschechoslowakei, die Errichtung des „homogenen“ Vasallenstaates Slowakei und des Protektorats Böhmen und Mähren sowie die „völkerrechtliche“ Begründung dieser Eingriffe in die Souveränität eines Staates bilden den Präzendenzfall der deutschen Jugoslawienpolitik der neunziger Jahre. Mit dem Kosovo-Krieg gelang es Fischer&Co. dieses deutsche „Völkerrecht“ international zu etablieren. Rot-Grün vollendet damit ein Werk, zu dessen Durchsetzung deutsche Juristen bereits in der NS-Zeit große Anstrengungen unternahmen. An führender Stelle stand dabei der wichtigste Staatsrechtler des Nationalsozialismus, Carl Schmitt, ein „Lehrer“ der noch in der Bundesrepublik, auch unter Linken, große Anerkennung fand.

Schmitt erklärte in Übereinstimmung mit Hitler: „Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. „[7] Er warf dem Genfer Völkerbund vor, sich auf den bestehenden Grundsätzen unfähig für eine „europäisch-kontinentale Großraumordnung“ erwiesen zu haben.

Die deutsche Kritik am internationalen Recht richtete sich nicht zuletzt gegen Art. 10 der Völkerbundsatzung, der bestimmte: „Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrheit des Gebietes und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. “

Schmitt wetterte dagegen, der Begriff „Staatsgebiet“ sei zum „eigentlichen Bollwerk kleinräumiger Begriffsbildung und damit zu einer Fehlerquelle schlimmster Art“ geworden. In Ablösung der „kleinräumigen, staatsbezogenen Vorstellung des „im Schatten des angelsächsischen Universalismus gedeihenden Zwischenstaatenrechts“ müßten in Zukunft „Reiche“ und ihnen zugeordnete, „von selbständigen Völkern bewohnte Großräume“ Eingang in Sprache und Begriffswelt des Völkerrechts finden. Diese neue Leitlinie mache mit der „geschichtlich unvermeidlich gewordenen Relativierung des Staatsbegriffes Ernst, indem sie den Begriff des Staatsgebiets entthront“. Darüber hinaus vermeide sie es in ein „universalistisches Weltreich hineinzutreiben“, wie es dem „weltpolitischen Interesse des angelsächsischen Imperialismus“ entspreche, da sie das „Eigenleben“ verschiedener „Völker“ nicht aufhebe. [8] In seinen vielbeachteten Vortrag „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“, den er im April 1939 auf der Kieler Tagung „Völker und Völkerrecht“ hielt, exemplifizierte Schmitt diese Grundsätze für die deutsche Politik in „Mittel- und Osteuropa“. Er polemisierte dort gegen das Minderheitenrecht der Friedensverträge von 1919, in dessen Vordergrund der liberal-individualistische Grundsatz stehe, wonach für das einzelne Individuum, das zufällig einer Minderheit angehöre, Gleichheit und Gleichbehandlung zu gewährleisten sei.

Seit Ende des Ersten Weltkrieges habe „die deutsche Lehre vom Volk- und  Volksgruppenrecht den Gegensatz herausgearbeitet, der ein vom Volk- und der Volksgruppe ausgehendes Volksgruppenrecht von einem individualistisch-liberal-konstituierten Minderheitenschutz trennt. „[9]

Nicht die rechtliche Gleichwertigkeit von Einzelnen, sondern „Artgleichheit“ galt deutschen Völkerrechtlern als oberste Prämisse.

Die Existenzgarantie eines Staatenbundes setzte nach ihrer Auffassung ein Mindestmaß von Artgleichheit, d. h. Homogenität voraus. Schmitt betonte, gegenüber allen „westlichen Assimilierungsideen“ und universalistischen Ansprüchen müsse der „Schutz der volkhaften Eigenart jeder Volksgruppe“ und die „Heiligkeit“ einer „volkhaften Lebensordnung“ verteidigt werden. Seit der Erklärung, die Reichskanzler Hitler am 20. Februar 1938 im Deutschen Reichstag gegeben habe, bestehe auf der Grundlage des nationalsozialistischen Volksgedankens „ein deutsches Schutzrecht für die deutschen Volksgruppen fremder Staatsangehörigkeit“. Damit sei ein „echter völkerrechtlicher Grundsatz“ aufgestellt. Er bedeute „die Ablehnung aller Assimilierungs-,   Absorbierungs- und Schmelztiegel-Ideale. Dies sei die politische Idee für den „mittel- und osteuropäischen Raum“ und die „der heutigen politischen und geschichtlichen Lage des Deutschen Reiches, wie des osteuropäischen Raumes entsprechende Anwendung des völkerrechtlichen Raumordnungsgedankens“. Das Staatsgebiet dürfe nicht länger als einzige Raumvorstellung des Völkerrechts gelten. Andere, „heute unentbehrliche Raumbegriffe“ seien der „Boden“ des Volkes und „der dem Reich zugeordnete, über Volksboden und Staatsgebiet hinausgreifende Großraum kultureller und wirtschaftlich industriell-organisatorischer Ausstrahlung. [10] Eine derartige deutsche „Ausstrahlung“ war dabei zuerst in Richtung Ost- und Südosteuropa vorgesehen. Die im wesentlichen von Carl Schmitt formulierte deutsche Auslegung des Völkerrechts zielte somit auf die legitimierte Aushebelung der Staatssouveränität, indem das internationale Recht zu einem Volksgruppenrecht umdefiniert wurde. [11] Ausgehend von einer „völkischen Gesamtschau“ sollte eine Revolution des „überkommenen Staatenrechtssystems“ herbeigeführt werden. [12]

Schmitt plädierte des weiteren dafür, den Begriff des „gerechten Krieges“ neu zu fassen. In diesem Zusammenhang sei es wichtig, „an welcher Stelle des völkerrechtlichen Gesamtsystems die Frage des Minderheitenschutzes behandelt wird, ob sie grundsätzlich eine ausschließlich innerstaatliche ‚domaine exclusif‘ des einzelnen Staates ist oder Ausdruck eines die staatlichen Grenzen sprengenden Volksbegriffs, der im Gegensatz zum Staat das Volk zum maßgebenden Völkerrechtssubjekt erhebt“. [13] Die deutsche Konstruktion des „Volksgruppenrechts“ zielte auf die Sonderung einzelner Gruppen, um die eine gegen die andere auszuspielen. Die deutschen Besatzer verhängten ab 1938 eine Hierarchie der Rassen. Franz Neumann erkannte damals: „Der Volksgruppengedanke ist nichts anderes als ein Kniff, einige Gruppen zu unterdrücken und andere einzuladen, an der Beute der Eroberung teilzuhaben. „[14]

Demgegenüber konstatierte Schmitt wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkrieges befriedigt: „Der Gedanke eines zu den Trägern und Gestaltern eines neuen Völkerrechts gehörenden Deutschen Reiches wäre früher ein utopischer Traum und das auf ihm aufgebaute Völkerrecht nur ein leeres Wunschrecht gewesen. Heute aber ist ein machtvolles Deutsches Reich entstanden. Aus einer schwachen und ohnmächtigen ist eine starke und unangreifbare Mitte Europas geworden, die imstande ist, ihrer großen politischen Idee, die Achtung jedes Volkes als einer durch Art und Ursprung, Blut und Boden bestimmten Lebenswirklichkeit eine Ausstrahlung in den mittel- und osteuropäischen Raum hinein zu verschaffen. „[15]

An anderer Stelle hob er hervor: „Es ist ein Ausdruck echter politischer Macht, wenn ein großes Volk die Redeweise und sogar die Denkweise anderer Völker, das Vokabularium, die Terminologie und die Begriffe von sich aus bestimmt. „[16]

Wer bestimmt heute die Begriffe und die Auslegung bzw. Umformung internationalen Rechts. Einige Indizien sprechen dafür, daß Deutschland nach 1989 mehr und mehr die Definitionsmacht gewinnt.

Mit der Zerschlagung der multinationalen Staaten Jugoslawien und der Tschechoslowakei  gelang es Deutschland Anfang der neunziger Jahre die gegen seine Expansionspläne gerichteten territorialen Bestimmungen der Friedensverträge von 1919/20 auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen und seine Auslegung vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ durchzusetzen. Jetzt wird dieser Vorstoß in den juristischen Raum erweitert. Mit dem Kosovo-Krieg wandelt sich das internationale Recht souveräner Staaten in das deutsche Recht homogener, „artgleicher“ Völker und Blutsbanden.


[1]         Vgl. Neumann, Franz, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, Originalausgabe 1942, Neudruck Frankfurt/M. 1984, S. 191.

[2]         Vgl. Hamann, Brigitte, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München/Zürich, 3. Auflage, 1996, S. 340f.

[3]         Vgl. Minow, Hans-Rüdiger/Goldendach, Walter von, „Deutschtum erwache! “ Aus dem Innenleben des staatlichen Pangermanismus, Berlin 1994, S. 167.

[4]         Hitler, Adolf, Mein Kampf, Erster Band, 36. Auflage, München 1934, S. 104f.

[5]         Vgl. Neumann, Behemoth, a. a. O. , S. 210f.

[6]         Vgl. Minow/Goldendach, „Deutschtum erwache! „, a. a. O. , S. 168 u. 193f.

[7]         Schmitt, Carl, Der Führer schützt das Recht (1934), Wiederabdruck in: ders. , Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Berlin 1988, S. 200.

[8]         Vgl. Schmitt, Carl, Raum und Großraum im Völkerrecht (1940), Wiederabdruck in ders. , Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, herausgegeben von Gümter Maschke, Berlin 1995, S. 253, 259ff.         Die Schriften Schmitts erscheinen seit Beginn der neunziger Jahre in zahlreichen Neuauflagen.

[9]         Schmitt, Carl, Völkerrechtliche Großraumordnug mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (1939), in: ders. , Staat, Großraum, Nomos, a. a. O. , S. 291.

[10]         Vgl. ebenda, S. 291ff. , 297 u. 309; ders. , Die siebente Wandlung des Genfer Völkerbundes (1936), in: Positionen und Begriffe… , a. a. O. , S. 210.

[11]         Vgl. Neumann, Franz, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1943-1944, Erstauflage 1942, Neudruck Frankfurt/M. 1984, S. 203ff.

[12]         Vgl. Höhn, Reinhard, Großraumordnung und völkisches Rechtsdenken, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum, 1941, S. 287.

[13]         Schmitt, Carl, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (1938), 2. Auflage, Berlin 1988, S. 7.

[14]         Neumann, Behemoth, a. a. O. , S. 206.

[15]         Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung und Interventionsverbot für raumfremde Mächte, a. a. O. , S. 306.

[16]         Schmitt, Carl, Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1932), in: ders. , Positionen und Begriffe… , a. a. O. , S. 179.

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