Die Desolation der Geläufigkeit

von Franz Schandl

1.

Stau bedeutet ein Zuviel von etwas: von Gelegenheiten, Erzeugnissen, Personen. Das Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sie sich entfalten sollen, ist ihnen aber zu eng, um sich wie vorgesehen bewegen zu können. Der Stau bringt das gesellschaftliche Fließen zum Erliegen. Ein zusammengequetschtes Etwas, das ist der Stau. Stau nennt man einen Zustand, in dem Bewegungsfreiheit sich als Bewegungslosigkeit entpuppt. Die unbeabsichtigte Selbstdemontage der Beschleunigung.

2.

Stau meint, dass zuviel zugleich zuort ist. Die konkreten Kontingentierungen des Daseins – seien es Menschen oder Geräte, Lebensmittel oder Müll – kollidieren in ihren Zeit-Raum-Koordinaten. Je schneller es geht, desto langsamer es wird. Der paradoxe Stau zeigt an, dass die Zeit, die wir gewinnen wollen, akkurat auch verloren gehen kann. Die Dimensionierungen scheitern an ihrer Form, sie befinden sich nicht einmal mehr annähernd im Gleichgewicht. Der Stau, wird er von einer akuten Erscheinung zu einem chronischen Gebrechen, offenbart ein infrastrukturelles Versagen der Gesellschaft. Er ist ihr immanentes Dementi. Gerade die Verzögerung der Beschleunigung, der Stau, verdeutlicht, dass die Gesellschaft begonnen hat, sich selbst zu negieren, indem sie ihr Zeit-Raum-Kontinuum immer weniger zu synchronisieren versteht.

3.

Der Stau ist aber keine „meditative Streikform der reflexiven Moderne“, wie Ulrich Beck mutmaßte. Dieses Innehalten und Blockieren ist kein bewusstes oder gar absichtlich herbeigeführtes, sondern es entsteht zwangsläufig aus sich selbst, ist Folge einer inneren und blinden Akkumulationslogik. Da meditiert nichts. Der Stau ist ein bewusstloser Systemreflex, keine bewusste Systemreflexion. Er demonstriert, dass die Gesellschaft mit sich selbst nicht mehr mitspielt. Er ist das unbewusste Nichtwollen. Weigerung ohne Erkenntnis.

4.

Der Stau beschreibt eine unabsichtliche Selbstblockierung gesellschaftlicher Abläufe. Er folgt einer Logik, der man sich nicht bewusst ist, die man aber kenntnisreich bedient. Man weiß, was zu tun ist, aber nicht, was ist. Der Stau ist die unfreiwillig gestockte Bewegung. Er ist die materielle wie immaterielle Mengenkollision in einem kapitalistischen Kontinuum. Die emanzipatorische Variante des Staus wäre die Blockade, d. h. sich nicht stauen zu lassen, sondern selbstbestimmt zu stauen.

5.

In den Stau gerät man allmählich, nicht plötzlich wie das beim Unfall der Fall ist. Jener ist somit auch der nicht stattgefundene Unfall. Dessen Kunde wie dessen Künder. Dieses Unglück ist eben noch kein Unfall, es verharrt in dessen Vorstufe. Der Komparativ zerschellt nicht am Superlativ, nein: Er bremst sich selbst rechtzeitig ab. Der Stau ist seine eigene Notbremse, eine empfindliche Minderung des Bewegens. Eine temporale und lokale Implosion. Der Stau unterbricht den Rhythmus der vorgehabten Geschwindigkeiten.

6.

Der Stau ist die Desolation der Geläufigkeit. Der implodierte Kollaps, ein In-sich-Zusammenfallen. Nichts geht mehr. Aber schon bald geht es weiter. Der Stau ist eine Notlösung, wo das Gedränge zum Schleppen oder gar Erliegen kommt, nicht aber zum Bersten. Als periodische Zuspitzung oder Verzopfung der Beschleunigung durch Verlangsamung wird er allgemein hingenommen.

7.

Stau meint die Verunglückung des kapitalistischen Komparativs. Unter der Gesetzlichkeit des Kapitals folgt freilich bloß der nächste Anlauf zur Steigerung. Zu viele Autos bedeuten hier zu wenig Straßen, also bauen wir bessere, breitere, schnellere, um noch mehr Autos anzuziehen. Zuviel Lebensmittel bedeuten zu wenige Abnehmer, also erschaffen und erobern wir uns neue, hier und anderswo. Zuviel Müll bedeutet zu wenige Deponien, also errichten wir modernere und größere, um noch mehr Dreck produzieren zu können, nein: zu müssen, damit diese sich rechnen etc. Zuviel bedeutet auf jeden Fall immer auch zuwenig.

8.

Auch der Müll kann als Stau dechiffriert werden. Er ist eine unwillkommene Hinterlassenschaft, die wir loswerden wollen, aber nicht loswerden können. Er staut sich sowohl im Raum – in den Flächen für die Deponien; als auch in der Zeit – durch langfristige Abbaubarkeit gefährlicher Stoffe und Substanzen. Keine Kostenrechnung kann diesbezüglich seriös sein, was auch jede Forderung nach Kosteninternalisierung ad absurdum führt.

9.

Mobilität ist das Ziel, Mobilisierung die Ansage. Der fieberhafte Beschleunigungswahn ist aber nicht gleichzusetzen einem komparativen Bewegungstrieb, sondern folgt den absoluten Zwängen der Verwertung. Sie bestimmt das Tempo: in der Produktion wie in der Zirkulation, in der Konsumtion wie in der Kommunikation. Produkte sollen schneller erzeugt, schneller verkauft und schneller verbraucht werden. Kommunikation hat sich in immer kürzeren Sequenzen, eben als Small Talk zu entfalten. Auch das Essen ist zum bloßen Fast Food geworden. Was wir unter der Herrschaft des Kapitals erleben, das ist die Ablösung der Geschwindigkeit vom Inhalt ihres Bezugs. Ihr Kriterium ist nicht der konkrete Gegenstand, sondern die Wertform.

10.

Beschleunigung ist weder anthropologischer Modus noch freie Bestimmung, sie ist ein ganz spezifisches Diktat. Es ist der Stachel der Konkurrenz, der die zu Konkurrenten gemachten Menschen vorantreibt. Der Stau ist, nehmen wir als Beispiel seine bekannteste Form, den Verkehrsstau, also überhaupt nicht Ausdruck irgendeiner falschen Verkehrspolitik, zu niedriger Benzinpreise, schlechter Flächenwidmung oder anderem. Das mag es alles geben, es beschreibt aber nur die Oberfläche der objektiven Tendenz.

11.

Marx schreibt: „Gleichzeitig mit der Entwicklung der Transportmittel wird nicht nur die Geschwindigkeit der Raumbewegung beschleunigt und damit die räumliche Entfernung zeitlich verkürzt.“ Geschwindigkeit komprimiert Raum durch Zeit. Entfernung wird zu einer Zeitfrage, „selbst die örtliche Entfernung löst sich in Zeit auf; es kommt z.B. nicht auf die räumliche Ferne des Marktes an, sondern die Geschwindigkeit – das Zeitquantum, worin er erreicht wird“. Der Raum gilt als Hindernis, das durch Beschleunigung aus dem Weg geräumt werden soll. Es geht um eine Reduktion der Intervalle. Das Verweilen ist allseits kurz zu halten. Bevor wir wegfahren, sollen wir schon dort sein.

12.

Je höher die kapitalistische Drehzahl, in der Marx’schen Terminologie gesprochen: die Umschlagszeit (d. i. die Summe aus Produktions- und Zirkulationszeit) des Kapitals, desto mehr heult der Motor; er läuft heiß. Je flotter es wird, desto mehr macht schlapp. Die negative Dialektik kapitalistischer Beschleunigung ist der Stau. Die Bremse ihrer selbst gegen sie. Und zwar weil Produktion und Distribution, Kommunikation und Konsumtion immer schwerer in Einklang gebracht werden können. Der Stau ist die Überfütterung des Systems, nicht nur auf den Verkehr beziehbar, sondern zugegen in allen sozialen Bereichen. Der Stau ist die immanente Inversion der Beschleunigung.

13.

Die Imperative der Beschleunigung sind umfassend: Es ist die Arbeitszeit zu verkürzen, es ist die Produktionszeit zu verkürzen, es ist die Zirkulationszeit(=Umlaufszeit) zu verkürzen, es ist die Konsumtionszeit(=Verbrauchszeit) zu verkürzen. Alle Anstrengungen sind zu tätigen, um sowohl die einzelnen Phasen als auch die gesamte Funktionszeit der Ware zu minimieren. Ziel ist die beständige Reduktion der Umschlagszeit des Kapitals. Wert ist eine Frage von Zeit, nicht nur positiv von „In-Wert-setzender-Zeit“ in der Produktion, sondern auch negativ beschränkt durch die unproduktiven Zeiten der Ware. Die Gebrauchsdauer ist ein wichtiger Faktor zur Kalkulation zukünftiger Geschäfte. Negativ bestimmt sie sehr wohl die Umschlagsperiode und die Umschlagszahl des Kapitals. D. h. auch die Zeit, in der die Ware ausschließlich als Gebrauchswert fungiert, ist für das produzierende wie für das Kaufmannskapital, aber auch Geldkapital von elementarem Interesse. Nur so können Stockungen am Markt (Waren- und Geldstau) verhindert oder mindestens minimiert werden.

14.

Bloßer Vorrat ist noch nicht als Stau zu betrachten. Vorrat ist eine notwendige Erscheinung, er wird jedoch zu einem unliebsamen und lästigen Phänomen, wenn jener nicht verkauft werden kann, sich also staut. Verselbständigt dieser sich aber, d. h. kann die gelagerte Ware nicht mehr abgesetzt werden, wird aus dem „Genug“ ein „Zuviel“, das sich da unfreiwillig ansammelt, dann ist sehr wohl von einem Stau zu sprechen.

15.

Beweglichkeit ist nicht einfach mit Mobilität gleichzusetzen. Mobilität ist eine spezifische Form des Bewegungszwanges. Deren Dynamik richtet sich nach den Erfordernissen der Verwertung, jene ist alles andere als eine freiwillige. Geschwindigkeit ist nicht wählbar und entscheidbar, sondern erzielbar und erreichbar. Sie ist Vorgabe, nicht Vorhaben.

16.

Tempus ist heute nur noch als Tempo zu haben. Alles wird von einer Zeitfrage, zu einer spezifischen Geschwindigkeits- und somit zu einer Beschleunigungsfrage. Tempo meint, dass die Dauer läufig wird. Ein Termin jagt den nächsten. Permanent sind wir fällig. Schon allein, dass wir einen Terminkalender brauchen, lässt darauf schließen, dass nicht wir über unsere Zeit verfügen, sondern dass die Zeit über uns verfügt.

17.

Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte allgemeiner Mobilmachung. Wo nichts bleiben soll, wie es ist, besteht die Gefahr, dass überhaupt nichts bleiben soll. Wird die gesellschaftliche Entwicklung rasend, tendieren auch die Insassen von Zeit und Raum in diese Richtung. Das automatisierte Subjekt gleicht durchaus dem Automobil: wird es gestartet, springt es an. Ja, im Gegensatz zum Auto hat es gar eine Selbststartvorrichtung, d. h. es ist nicht nur Instrument, sondern Organ.

18.

Kapitalistische Modernisierung bedeutete, dass die spezifische Geschwindigkeit der Verwertung zur allgemeinen gemacht wurde, und als solche Akzeptanz gefunden hat, und zwar als krude Selbstverständlichkeit. Die ganze Gesellschaft soll dahingehend automatisiert und mobilisiert werden. Automobil zu sein, ist nicht bloß eine Anforderung an einen Kraftwagen, sondern richtet sich auch an jedes Gesellschaftsmitglied. Nicht nur das Fahrzeug ist ein Automobil. Auto-mobil meint, es soll automatisch funktionieren und es soll schnell laufen.

19.

Ein Großteil der Staus passiert, wenn es bei den Verwertungsfahrten zu dicht wird: vom und zum. Stau bedeutet auch, woanders sein zu wollen als wo man ist. Was beschleunigt werden sollte, verzögert sich. Der Stau ist freilich nichts anderes als die Fortsetzung, ja die Entsetzung des bürgerlichen Geschäfts- und Individualverkehrs mit anderen Mitteln. Er ist seine lächerliche Pointe. Die Rasenden werden festgesetzt.

20.

Irrwitzig auch, dass der Großteil der Autos nicht Fahrzeuge, sondern Stehzeuge sind. Zu 98 Prozent ihrer Lebenszeit sind sie geparkt. Etwas, das nur den Verrückten nicht als Verrücktheit erscheint, aber logische Folge davon ist, wenn das Fahrzeug unbedingt ein Privatfahrzeug sein muss. Indes, würden die, die es gibt, alle gleichzeitig fahren, wäre es noch verrückter. Raumgedränge ist eine Folge der Mobilitätszwänge.

21.

Der Explosion des Verkehrs folgt – ist ein bestimmter Punkt erreicht – die Implosion der Bewegung. Mobilität dekonstruiert sich selbst. In der tückischen Dialektik kapitalistischer Mobilität bedeutet Zeitgewinn Zeitverlust, Raumgewinn Raumverlust. Verkehrt zu viel, verkehrt sich vieles.

* Bei diesem Text handelt es sich um die komprimierte Quintessenz eines langen, nun schon 20 Jahre zurückliegenden Aufsatzes mit dem Titel „Die Verunglückungen des Komparativs. Ausgewählte Materialien zu einer Philosophie des Staus“, Streifzüge 1/2001, S. 1–12.