Zum 95. Geburtstag von Heleno Saña
von Maria Wölflingseder
Als ich im Oktober beim Verfassen meines Artikels „Sind wir noch bei Trost?
Oder: Was ist mit unseren Sinnesfreuden geschehen?“ in meinen Büchern nach Inspiration suchte, fiel mir eins in die Hände, das ich zwar nicht vergessen, aber schon sehr lange nicht mehr aufgeschlagen hatte. (Oje, so kann’s gehen, wenn man allzu lange mit vielerlei zu kämpfen hat, das einem die Zeit zum Lesen und Schreiben stark einschränkt.)
Mit jedem Satz, den ich las, wurde mein Staunen größer. Der Autor Heleno Saña schreibt 1992 im Vorwort seines Buches „Das Ende der Gemütlichkeit – Eine Bilanz der Krise unserer Zeit“, er, als in Deutschland lebender Spanier, „denke und fühle aus einer anderen Perspektive, aus jener Perspektive, die Albert Camus ,la pensée du midi‘ nannte und die er als den Gegenpol des germanischen Denkens begriff“. Saña, 1930 in Barcelona geboren, ist auch tief geprägt von der Verfolgung und jahrelangen Inhaftierung seines Vaters Juan Saña, eines bekannten Antifaschisten und Freiheitskämpfers im spanischen Bürgerkrieg und der Franco-Diktatur.
In vielen seiner sozial- und kulturgeschichtlichen und philosophischen Bücher erklärt Saña anschaulich die Unterschiede dieser Perspektiven und beschreibt die sozialen und politischen Auswirkungen. – Das, was ich bisher gelegentlich darüber an Hand von Albert Camus kundtat, oder auch an Hand von Erfahrungen von Südslawen mit dem „kühlen Norden“, war wie ein flüchtiger Blick durch’s Schlüsselloch auf dieses stark unterbelichtete Thema. Heleno Saña führt uns gekonnt, in seiner – von Kritikern oft gelobten – klaren Sprache durch dieses weite Feld, durch die Zeiten und Räume der abendländischen Geschichte und erhellt dabei die „südliche“ Perspektive wie kein anderer!
Seine Bücher über Deutschland und Europa wurden in den 1990er Jahren besonders heftig diskutiert. In „Die verklemmte Nation – Zur Seelenlage der Deutschen“ wird etwa am Beispiel Hegels Philosophie dargestellt, wie sich darin bereits die Grundelemente des neuen Deutschland ankündigen. „Verachtung des individuellen Lebens und Verherrlichung der abstrakten Macht des Staates, Repression im Inneren und Aggression nach Außen, Totalitarismus auf der einen und Imperialismus auf der anderen Seite.“ Hingegen ist der humanistische Gegenpol der klassischen deutschen Kultur, vertreten durch Kant, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Hölderlin und vielen anderen, von jeher eine periphere Erscheinung im Leben Deutschlands gewesen. Ihre Ideen wurden „übersehen, missachtet, und auch bewusst verfälscht und mit den Füßen getreten“. Dass das „Dritte Reich“ hier möglich war, „beweist, wie prekär im Grunde die Lage der deutschen Kultur immer schon war, auch jetzt verhält es ich nicht anders“. Die „Achillesferse des deutschen Humanismus: seine politische und gesellschaftliche Machtlosigkeit“.
Die Analysen Heleno Sañas haben nichts von ihrer Brisanz verloren. Allen voran angesichts der aktuellen Propaganda für „Kriegstüchtigkeit“ und angesichts eklatantem Russenhass – nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Deutschland (also nicht nur Hass gegen Putin, sondern gegen alle Russen). Erstaunlich, wie Saña bereits vor über 20 Jahren vorausgesehen hat, dass früher oder später die „sich gesammelten Spannungen und Irrationalitäten wie eine lang gelagerte Dynamitladung explodieren werden“. Für ihn war es damals schon „nicht schwer vorauszusehen, dass sich das Menschengeschlecht einer gefährlichen Zukunft nähert“.
Eine weitere Besonderheit, die Heleno Saña mit Albert Camus teilt, ist sein Wille zum Widerstand. „Würde und Widerstand“ sind für ihn nicht zu trennen. Durch den Verzicht auf Widerstand wird der Mensch „automatisch Teil derselben Irrationalität, die ihn vernichtet“. In jedem seiner Bücher wird in unterschiedlichen Worten darauf hingewiesen: „Tiefer als das Bewusstsein meiner Machtlosigkeit ist das Bedürfnis, nicht zu kapitulieren.“ Seine moralische Philosophie stützt sich nicht auf den „wissenschaftlichen“ Sozialismus, sondern auf „etwas so Einfaches, Spontanes, Unvermitteltes, Impulsives und so oft Verspottetes wie den Donquijotismus. Ja, ich bekenne mich uneingeschränkt zur Gesinnung des Cervantes-Helden, weil ich sie als die erhabenste Form des militanten Humanismus und der sozialen Revolte betrachte.“
An Hand von Don Quijote, der meist nur als Spott- und Narrenfigur dargestellt wurde, erzählt Saña 2005 seine eigene Geschichte im Buch „Don Quijote in Deutschland – Autobiographische Aufzeichnungen eines Außenseiters“. Darin beschreibt Saña auch seine „politischen Lehrjahre“ als Jugendlicher unter den „Compañeros“, den Widerstandskämpfern im Spanischen Bürgerkrieg. „Ihre Lehre ist so einfach und spontan wie sie selbst: Volksrevolution, Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf basisdemokratischer Grundlage und soziale Gleichheit. Sie hassen den Staat, den Klerus, das Militär und die Kapitalisten, haben aber auch wenig übrig für den in der Sowjetunion entstandenen bürokratischen Sozialismus.“ – Prägend war aber auch die Gemeinschaft. „Wir teilen alles: unsere persönlichen Probleme, die Ideen und Illusionen, die uns bewegen, das wenige Geld, das wir haben, die Stunden der Hoffnung und Mutlosigkeit.“ – Diesen Erfahrungen verdankt er seinen weiteren Weg. Seine über 40 spanisch- und deutschsprachigen Bücher, all seine Vorträge in vielen Teilen der Welt seien im Grunde nur eine Fortsetzung dessen, was ihn damals schon bewegte. In erster Linie geht es um „die unbestechliche Liebe zu Freiheit und Selbstbestimmung“. Um die Ablehnung jeder Form von Macht und Dogmatismus, um den Sinn für Gerechtigkeit und Solidarität mit den Verfolgten und Entrechteten. – Die Details zum spanischen Bürgerkrieg werden in seinem Buch „Die libertäre Revolution – Die Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg“ dargestellt.
Heleno Saña ist ein Vertreter jener Linken wie es sie wenige gab und mittlerweile kaum mehr welche gibt. Als solcher bedauert er, dass seit dem Konflikt zwischen Marx und Proudhon Mitte des 19. Jahrhunderts die Linke heillos zerstritten war. Was ihn ebenfalls höchst irritierte, war der Umgang von Menschen untereinander, die sich für eine Gesellschaft ohne Repression und Entfremdung einsetzten. Die Kommunikation wurde allzu oft von „gegenseitiger Feindseligkeit und blanker Gefühlskälte“ dominiert. Zusammenkünfte gerieten nicht selten zu einem „selbstgefälligen und heuchlerischen Spektakel“. – Für einen, der noch durch die spanische Kultur der „Grandezza“ geprägte ist, besonders schmerzlich. Diese Kultur hob unter anderem auch George Orwell in „Mein Katalonien“ hervor. Er war verblüfft von die Offenheit und Vertrautheit, die ihm in Spanien begegnete und von seinen Erlebnissen der Großzügigkeit, der Hilfsbereitschaft und des Edelsinns.
Saña bemängelt auch die unverständliche Sprache, in der die Linken ihre Werke meist verfasst hätten. Seine eigenen Bücher hingegen können für wahr als leicht zugänglich bezeichnet werden, ohne dass etwas von der Komplexität und Differenziertheit verloren ginge. Ganz im Gegenteil. Selten wurden die europäische Kultur- und Geistesgeschichte und die Sozialphilosophie so klar dargestellt. Den Referenzpunkt bildet die Erkenntnis, dass der Kapitalismus nicht reformierbar sei. Saña bezieht sich auf vielerlei Ansätze der Selbstverwaltung, von Robert Owen über Fourier und Proudhon bis zu Tolstoi, Gandhi, der Theologie der Befreiung und vielen anderen. Auch die Mannigfaltigkeit, der Dialog und das Erbe der griechischen Antike, das Poetische und die Schönheit stehen im Mittelpunkt.
Heute, weit entfernt von Emanzipation, sind die Bücher von Heleno Saña nicht nur Kostbarkeiten, sondern dringende Anregungen zum Widerstand. Saña konstatierte bereits vor vielen Jahren einen „Kollaps des Denkens“, eine „Verarmung der theoretischen Arbeit und das Unvermögen, sinnvolle Alternativen und Gegenmodelle zum lädierten Weltzustand auszuarbeiten“. Im Herbst wurde Saña 95 Jahre alt. Er schreibt zwar keine Bücher mehr, aber er liest noch täglich mehrere Stunden lang. Wir gratulieren herzlich, wünschen Gesundheit und Freude in freudlosen Zeiten und bedanken uns innigst für seine auch heute noch unerlässlichen Bücher.
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Wo sind die Bücher von Heleno Saña erhältlich?
Im Online-Shop des PapyRossa Verlag sind seine drei zuletzt erschienenen erhältlich. https://shop.papyrossa.de/
„Don Quijote in Deutschland – Autobiographische Aufzeichnungen eines Außenseiters“, 2005.
„Macht ohne Moral – Die Herrschaft des Westens und ihre Grundlagen“, 2003.
„Würde und Widerstand – Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt“, Essays, Vorträge, Kontroversen, 2007.
Alle anderen der rund 40 deutsch- und spanischsprachigen Bücher gibt es im online Antiquariat.
Auf der Streifzüge-Seite haben wir 2010 das Schlusskapitel aus Sañas Buch „Die Zivilisation frißt ihre Kinder – Die abendländische Weltherrschaft und ihre Folgen“ veröffentlicht.
PS: In der Bibliothek der Arbeiterkammer Wien gibt es neun von Sañas Büchern zur Entleihung.