Postideologischer Totalitarismus
von Tove Soiland
Ob Krieg, Virus oder Klima: In der Verfestigung eines globalen Krisenmodus scheint sich ein neuer Regierungsstil durchzusetzen, der eindeutig autoritäre Züge, wenn nicht sogar totalitäre Tendenzen, aufweist. Doch wie wollen wir diese nennen? Offensichtlich handelt es sich nicht um etwas Faschistisches. Es fehlt dazu der Führer, die fanatisierten Massen auf der Straße, offene Gewalt. Ja, überhaupt ein hehres, wie auch immer verrücktes Ideal, dem sich die faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts verpflichtet fühlten. Wir haben es mit etwas Neuem zu tun.
Hannah Arendt sprach einmal davon, dass eine totalitäre Gesellschaft das gesamte Dasein der Menschen politisiere. Heute jedoch sind wir genau in der umgekehrten Situation. Unsere wichtigsten und alltäglichen Belange sind scheinbar nicht mehr dem Bereich des Politischen zugehörig. Wir sind stattdessen mit zum Notfall geronnenen Sachlagen konfrontiert, die dringlicher Expertisen und einer Führung durch Expertengremien bedürfen. Und da die Sachlagen Notlagen sind, und die Notlage auf Dauer gestellt ist, haben wir es mit einer dauerhaften Erosion des Politischen zu tun – und gerade nicht mit seinem Überschuss.
Dennoch kann man in der gegenwärtigen Situation totalitäre Tendenzen feststellen. Sheldon S. Wolin spricht deshalb für heutige Gesellschaften von einem umgekehrten Totalitarismus. Dies ist ein Totalitarismus, der auf die alten Insignien totalitärer Macht weitgehend verzichten kann. Seine Exponenten sind keine charismatischen Führerfiguren. Sie sind Vorsitzende internationaler Gremien, ihre Sprache ist nüchtern, ihr Erscheinungsbild vertrauenerweckend. Sie beziehen sich auf Fakten und sie haben nur eine Überzeugung, und das ist die Lösungsorientiertheit.
Ideologien sind ihnen, vermeintlich, fremd. Stattdessen konzentrieren sie sich auf Messdaten: Kurven und Kennziffern, die einer Eigenlogik gehorchen, in die nur Fachpersonen Einblick haben und die scheinbar von sich aus zu Handlungsempfehlungen führen. Diesen, egal wie einschneidend sie sind, zu widersprechen, wäre irrational. Sie gar als autoritär zu bezeichnen, käme einer „Delegitimierung“ des Guten gleich. Das auf Dauer gestellte Notfallregime lässt uns das Autoritäre nicht mehr als solches benennen.
Und trotzdem leben wir in einer Welt, in der sich die Schlinge um unseren Hals immer enger zuzuziehen droht. Das Erstaunliche daran aber ist, dass dieses System, zumindest in westlich-liberalen Gesellschaften, auf eine überwältigende Zustimmung stößt. Wir haben es somit auch nicht mit einer Diktatur zu tun. Von uns werden zwar immer größere Opfer verlangt, aber diese werden begrüßt – und zwar vor allem in jenem Segment der Gesellschaft, das traditionellerweise dem Staat gegenüber eher kritisch eingestellt war: der Linken nämlich.
Die Linke in einem bizarren Bündnis mit dem Kapital
Tatsächlich ist die parlamentarische und damit staatstragende Linke schon seit geraumer Zeit dem Charme der neoliberalen Offensive erlegen. Neu ist nun aber, dass auch die außerparlamentarische Linke – also jene Linke, die bis dahin den Staat für jede noch so kleine Normierung der Gewalt bezichtigt hatte –, in diesen bizarren Konsens eingetreten ist. Sie fordert nun am vehementesten ein autoritäres Durchregieren des Staates in den wichtigsten gesellschaftlichen Brennpunkten der Gegenwart: Krieg, Pandemievorsorge und Klimawandel.
Sind wir also mit linkem Wind in den Segeln in die Zielgerade zu einem neuen Sozialismus eingebogen? Ich halte genau diese Vorstellung für das Gefährlichste an der gegenwärtigen Situation, denn sie ist Teil der ideologischen Konstellation, mit der wir es zu tun haben: Sie verschleiert, dass der gegenwärtige Autoritarismus eine spezifisch kapitalistische Antwort auf eine spezifische Krise des Kapitalismus darstellt.
Der Kapitalismus ist gerade im Begriff – und darin ist die heutige Situation durchaus mit den 1930er-Jahren vergleichbar –, seine von ihm selbst verursachten Krisen, die einer der kapitalistischen Produktionsweise inhärenten Logik entspringen, mit autoritären Mitteln zu überwinden. Aber er tut dies in gänzlich anderer Weise und mit anderen Mitteln als in den 1930er-Jahren, und vor allem: mit einem neuen Bündnis.
Der gegenwärtige Kapitalismus sucht für den von ihm heute benötigten Autoritarismus seinen Bündnispartner nicht mehr in der Rechten, sondern eben in jener Linken, die ihm mit wehenden Fahnen zuarbeitet – vermutlich, ohne genau zu verstehen, was sie eigentlich tut. Für den Kapitalismus hingegen bietet sich dieses Bündnis deshalb an, weil rechte Werthaltungen, Lebensweisen und Ideologien schlicht dysfunktional geworden sind zu all dem, was er heute benötigt.
Der heutige Kapitalismus verteidigt keine Traditionen, sondern steht für eine weltoffene, zukunftsorientierte, multikulturalistische Gesellschaft, in der alle(s) inkludiert sein soll: Impact capitalism ist das Stichwort. Ökologisch, sozial und gerecht soll es zu- und hergehen – nach den Kriterien der Environmental Social Governance eben.
Krisen-Kapitalismus und Wachstumssimulation
Die Realität indes sieht anders aus. Der Kapitalismus befindet sich in einer säkularen Stagnation. Der produktivitätsgetriebene Wettbewerb stößt an seine innere Grenze; die Möglichkeit, mittels Investitionen in der produzierenden Industrie Gewinne zu erzielen, schrumpft dramatisch. Statt tatsächlichem Wirtschaftswachstum haben wir es, wie der italienische Philosoph Fabio Vighi formuliert, mit einer „kreditgetriebenen Wachstumssimulation“ zu tun, da Gewinne sich heute meist nur noch im hochspekulativen Finanzsektor erzielen lassen.
Der Preis dafür ist, dass im Hintergrund zunehmend gigantische Finanzkrisen drohen, die dann wiederum ein autoritäres Krisenmanagement erfordern. Fabio Vighi spricht deshalb nicht einfach von einer Krise des Kapitalismus, sondern von einem neuen Modus des auf Permanenz gestellten „Krisen-Kapitalismus“, dessen Logik sich aus der Verwaltung von Krisen ergibt, wozu sowohl die Kontrolle sozialer Unruhen wie das Management der sich laufend verschärfenden Finanzkrisen gehören. Wir sind, so Vighi, Zeitzeugen eines globalen Paradigmenwechsels in welchem der liberale Kapitalismus den Liberalismus zugunsten eines „Meta-Notstands-Welt-Systems“ aufgibt, das zwangsläufig politisch autoritär ist. Denn die mit dem Krisenmanagement einhergehende Absenkung des Lebensstandards wird von den Menschen nicht einfach so hingenommen. Sie werden sich dagegen zur Wehr setzen.
Egal, ob es sich um die Verwaltung einer drohenden Hyperinflation handelt, die im Zuge der immensen Ausweitung der Geldmenge in den vergangenen vier Jahre fast unvermeidlich erscheint; oder um den von Andrea Komlosy beschriebenen Versuch, mittels einer kybernetischen Wende die ins Stocken geratene Kapitalverwertung wieder in Gang zu setzen, indem mittels biotechnologischer Mensch-Maschinen-Verbindungen ein neuer, digitaler Konjunkturzyklus angeregt werden soll; oder, wie David Harvey sagen würde, um die Durchsetzung einer kontrollierten Entwertung, die die Grundlage für einen neuen Aufschwung bilden kann; in jedem Fall muss die Bevölkerung massive Eingriffe in ihre Lebensweise verkraften, mit Verarmung leben lernen, Enteignungen akzeptieren und neue Verhaltensweisen annehmen. Lauter Dinge also, zu denen man die Menschen erst bringen, ja, zuweilen auch zwingen muss, und die sie nicht von sich aus tun.
Für alle drei Formen bedarf es somit eines Krisenmanagements, das sich autoritärer Mittel bedient. Doch der Mehrheit der Bevölkerung erscheinen diese nicht als solche. Wir frieren für einen guten Zweck, wir verschulden uns für den Schutz der Vulnerablen, wir nehmen die Übernahme der kleinen Geschäfte durch Amazon in Kauf, da es die Not der Stunde gebietet.
Katastrophenszenarien verhelfen dem Autoritarismus zur Akzeptanz
Es ist die Linke, der es gelingt, diese Krise nicht als das erscheinen zu lassen, was sie ist, eine Krise der Kapitalakkumulation nämlich. Sie verwandelt diese Krise stattdessen in etwas, das angeblich unbefragbar unser aller tatkräftiges und solidarisches Engagement verlangt: Es handelt sich nicht länger um die Verwertungskrise des Kapitals, sondern um die Rettung des Planeten, die Bekämpfung von militärischen Feinden, die die westlichen Werte angreifen, die Abwehr eines Virus, das die Menschheit bedroht. Es sind diese Katastrophenszenarien, die dem Autoritarismus zur Akzeptanz verhelfen, indem sie gleichzeitig dessen eigentlichen Sinn verschleiern. Es ist eine Ideologie, der es gelingt, nicht als solche zu erscheinen.
Weil dieses Regime vorgeblich ohne Ideologien auskommt beziehungsweise sein ideologisches Konstrukt kaum greifbar ist, schlage ich vor, es in Anlehnung an den italienischen Psychoanalytiker Massimo Recalcati als „postideologischen Totalitarismus“ zu bezeichnen.
Die postideologische Sprache ist weltgewandt; sie spricht Englisch. Sie spricht von Pandemic Prepardeness, One Health und All Hazard approach. Sie definiert Kipppunkte, Inflationsraten und Infektionskurven. Ihre Agenten sind supranationale Netzwerke, deren Sitz uns ebenso unbekannt ist, wir ihre Namen verheißungsvoll klingen: Wellcome Trust, Open Society Foundations, EcoHealth Alliance … Public-Private-Partnerschaft nennt sich das elegant. Es ist zu unserem Schutz und nur zu unserem Besten. Der Globale Biosecurity-Staat ist ungreifbar; er ist omnipräsent, ohne dass wir ihn kennen; er ist gleichzeitig überall und nirgends. Er hat kein Parlament.
Das Besondere an dieser postideologischen Form des Totalitären ist, dass dieser Totalitarismus, obwohl er ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ausschließlich den Kapitalinteressen dient, zuvorderst von der Linken getragen wird. Ein ebenso neuartiges, wie unartiges Bündnis also. Rechtsrutsch in den Europawahlen hin oder her, die wirkliche Gefahr scheint mir von diesem Bündnis zwischen Kapital und der heutigen „Linken“ auszugehen. Der forcierte „Kampf gegen rechts“ trägt lediglich zur erfolgreichen Verdrängung dieser Gefahr bei – der aus meiner Sicht größten Gefahr der Gegenwart.
Tove Soiland ist Historikerin und Philosophin. Sie ist Mitglied von „Linksbündig“, einer politischen Organisation aus der Schweiz, die sich der Aufarbeitung der Corona-Krise aus einer dezidiert linken Perspektive widmet.