Fixierung auf die Gegenwart. Hypothesen zum historischen Stillstand
von Emmerich Nyikos
1.
Die Fixierung auf die Gegenwart, d.h. die Tendenz, den aktuellen Moment als Kriterium und Bezugspunkt des Handelns zu setzen, die Praxis daher auf das Gegebene hin auszurichten und so die Dinge immer nur aus der Perspektive des Status quo zu betrachten, ist der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer post-modernen Fasson immanent, genauer: eine direkte Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Denn erstens ist das Kapital, als die zentrale Instanz der Gesellschaft, aufgrund des Modus Operandi der Sphäre der Produktion, auf die augenblickliche Profitmaximierung fixiert und muss es auch sein, denn wenn nicht, dann droht der Untergang einer jeden aparten Kapitalentität: sei es bedingt durch die klassische Preis-Konkurrenz (die Konkurrenz der Firmen), sei es dadurch, dass sich, im Rahmen der monopolinduzierten Rivalität (der Konkurrenz auf der Ebene des Aktionärseigentums), die Aktionäre oder, a fortiori, die Kapitalsammelstellen wie Blackrock, wenn der Profit auszubleiben droht, kurzerhand zurückziehen und ihr Geldkapital woanders platzieren; sei es schließlich, dass ein Weiterdenken über den Augenblick hinaus schon dadurch be- oder verhindert wird, dass sich die Rahmenbedingungen des kapitalistischen Operierens infolge der privaten Verfasstheit des Systems (des Privateigentums an den Produktionsinstrumenten) nicht kontrollieren lassen – der Horizont ist demnach notwendigerweise beschränkt, wobei das Futurum, wenn es dann doch ins Spiel kommen sollte, sich stets auf das Präsens bezieht.
2.
Dieses Muster nun, die Dominanz des Augenblicks, konnte sich in der gesamten Gesellschaft ungehemmt verbreiten, sobald diese Gesellschaft dahin gelangte, auf breiter Front kapitalkonform zu agieren (nämlich nur mehr als Konglomerat von monetären Akteuren), sobald also die Gegentendenzen dazu glücklich eliminiert worden waren: der Kontrapunkt der Arbeiterklasse, die in einem historischen Prozess assimiliert und integriert worden ist, genauer gesagt, auf der Basis der „Staatsaktivität“ in der Nachkriegsepoche, auf die hier nicht näher einzugehen ist. Denn einerseits wurde der Impetus, die Dinge radikal neu zu gestalten (die unerträgliche Lebenslage der unteren Klassen), durch die Stabilität der Konjunktur sowie das steigende Lebensniveau (Lohnsteigerungen und reduzierte Arbeitszeiten: „Konsum“ und „Freizeit“) neutralisiert; andererseits wurde zugleich das Instrument dieser Veränderung (die explizite Organisation als bewusst operierende Klasse) unterhöhlt und zersetzt, indem die Fabrik nach und nach aus dem Lebenszentrum rückte (und zwar aus denselben Gründen), während das Private die Oberhand gewann. Die Fabrik ist nun aber, infolge der Zusammenballung von Arbeitermassen auf engstem Raum und aufgrund der durch den Arbeitsprozess, insbesondere die Maschinerie, aufoktroyierten kollektiven und kooperativen Arbeitsweise, die reale Basis dafür gewesen, dass ein bewusster Zusammenschluss überhaupt hatte stattfinden können, ein Zusammenschluss innerhalb der Fabrik (Gewerkschaften), der sich dann nahtlos außerhalb der Fabrikmauern fortsetzen sollte (politische Formationen). Zugleich wurde dadurch der Theorie der Transformation der Gesellschaft, die mit den realen Lebensverhältnissen der Arbeiterklasse insofern kongruent war und daher von ihr zwanglos übernommen werden konnte, als die Essenz dieser theoretischen Konstruktion (die Neuorganisation der Gesellschaft auf der Basis der Assoziation und des Gemeineigentums als Konsequenz immanenter historischer Tendenzen des Kapitalsystems selbst) genau dieser kollektiven Verfasstheit der Arbeiterklasse entsprach, der Boden unter den Füßen entzogen – sie schwebt seitdem in der Luft. Dieser moralischen Dissolution der Arbeiterklasse sollte dann obendrein noch ihr physisches Ableben folgen – als Konsequenz der fortschreitenden Automatisierung der Produktion.
3.
Die daraus sich ergebende Fragmentierung und Atomisierung der Gesellschaft – ihre Vermittelklassung, wenn man so will, die darin besteht, dass die Subjekte jetzt wesentlich nur mehr private Geldakteure sind (Konsumenten) –, wobei die „Freizeit“ der Raum ist, wo diese Atomisierung ihren Extrempunkt erreicht, war dann, infolge des Umstands, dass man sich gleichsam in einem isolierten Käfig eingesargt fand, letztendlich der fruchtbare Boden dafür, dass sich das Muster der Fixierung auf die Gegenwart in der gesamten Gesellschaft durchsetzen konnte: Atomisiert, wie man ist, kann man ohnehin nur mehr sich auf das, was hier und jetzt ist, konzentrieren, auf das Unmittelbare, was zur Folge hat, dass sich der Horizont flächendeckend auf die Gegenwart eingeengt hat.
4.
In der Gegenwart nun ist alles gleichzeitig da, in ihr gibt es keine Prozesse; ja noch mehr: vom Standpunkt der Gegenwart aus folgt der eine Moment jeweils dem andern und auf diesen dann wieder der nächste: Die eine Gegenwart löst nur die andere ab, ohne dass sie als Momente eines Prozesses erscheinen. Die Gleichzeitigkeit wird so zum dominanten Prinzip, das die Wahrnehmung und das Denken der Gesellschaft beherrscht. Diese Dominanz der Gleichzeitigkeit wird dann noch untermauert durch spezifische Umstände, in die das Alltagsleben eingefügt ist: Im Supermarkt, der perfekten Gegenwart, ist alles gleichzeitig da, der Prozess, der vom Rohstoff zur Konsumtion führt, ist dort radikal ausgelöscht, während da, wo die Subjekte tätig sind, man es auch meist nur mit repetitiven Akten zu tun hat, die aufeinanderfolgen, aber nicht in einer prozessualen Sequenz. Dies wird noch dadurch akzentuiert, dass fast alles instant ist, ohne dass man sich um die Herstellung groß kümmern müsste: der Kaffee auf Knopfdruck aus der Maschine, die Information aus dem Computer (ChatGPT) oder der Clip und der Chat aus dem Smartphone (Whatsapp), während die Musik, aus welchem Gerät es auch sei, schon nicht mehr durch die Fernbedienung, sondern durch den „Sprachbefehl“ in Gang gesetzt wird. Alles ist augenblicklich vorhanden, der Prozessablauf ist verschwunden und fällt damit unweigerlich aus dem Fokus heraus.
5.
Dieser Umstand nun, dass nur mehr die Gegenwart zählt, sich der Blickwinkel somit auf den Punkt des gleichzeitig Gegebenen einengt, wodurch der Prozess oder das Werden notwendigerweise aus dem Blickfeld gerät, hat dann aber auch Konsequenzen, die die spezifischen Formen des Denkens und seine Orientierung betreffen: Es wird punktuell, linear und mechanisch, wobei die Innenperspektive (als Konsequenz der Konzentration auf den Punkt des Hier und des Jetzt) den Blick aus der Distanz auf das Ganze unmöglich macht, der Kontext aus dem Gesichtskreis herausfällt, scheinbare Zusammenhänge an die Stelle der funktionalen treten, die Komplexität auf lineare Simplizität (Eindimensionalität) reduziert, die Realität auf Oberflächenphänomene verkürzt, und die Korrelation, das Zusammentreffen, als Kausalität interpretiert wird, kurz: Das Denken „verwildert“. – Und das gilt auch und vor allem für die „Wissenschaft“.
6.
Man kann sich leicht denken, dass das nicht folgenlos bleibt: Hat die Fixierung auf die Gegenwart den Effekt, dass man sich innerhalb der gegebenen Ordnung endlos im Kreis dreht, so zementiert das punktuelle, lineare und mechanische Denken dann dadurch noch diesen Stillstand, dass es das Begreifen der Notwendigkeit einer historischen Neuorientierung – als Konsequenz immanenter Tendenzen des Kapitalsystems selbst – faktisch unmöglich macht.