Eichendorffs Braut

von Hermann Engster

Eichendorff ist kein Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs,
nicht des erfüllten Augenblicks, sondern der Sehnsucht.
(Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre)

In den Jahren zwischen 1810 und 1812 schreibt Eichendorff dieses Gedicht:

Auf einer Burg

Eingeschlafen auf der Lauer
Oben ist der alte Ritter;
Drüben gehen Regenschauer,
Und der Wald rauscht durch das Gitter.

Eingewachsen Bart und Haare,
Und versteinert Brust und Krause,
Sitzt er viele hundert Jahre
Oben in der stillen Klause.

Draußen ist es still und friedlich,
Alle sind ins Tal gezogen,
Waldesvögel einsam singen
In den leeren Fensterbogen.

Eine Hochzeit fährt da unten
Auf dem Rhein im Sonnenscheine,
Musikanten spielen munter,
Und die schöne Braut die weinet.

Das Gedicht hat eine elegische Grundstimmung, die durch das retardierende Metrum der Trochäen noch verstärkt wird. Interpretationen erschöpfen sich in traditionellen Mustern, z.B. stehen der Ritter für die Verbundenheit mit der Natur, die Versteinerung für die erstrebte Ewigkeit, die Hochzeit mit der weinenden Braut für das vergängliche Jetzt. Oder: Die drei auf der Burg spielenden Strophen spiegeln melancholisch die Vergänglichkeit, die letzte Strophe mit der Hochzeitsgesellschaft einen lebensfrohen Optimismus.

Weshalb die Braut weint, ist nicht ersichtlich. Freudentränen sind es offenbar nicht. Fährt sie einer Zwangsverheiratung entgegen? Oder ist sie kurz vor der Hochzeit sitzengelassen worden? Ebenso ist unklar, weshalb der Bräutigam nicht erwähnt wird – ist er nicht mit von der Partie? In jedem Fall wäre die muntere Musik fehl am Platz. Wie all diese Widersprüche zusammenhängen, bleibt rätselhaft, und das gilt eben als „typisch romantisch“.

Der Schlüssel zur Deutung des Gedichts, so meine These, liegt im Politisch-Historischen. Zu fragen ist: Wer ist der Ritter? Wer ist die Braut? Sie sind nicht einfach ein Ritter und eine Braut – sie sind Allegorien.

Allegorie: altgriech. allegoría‚ „andere Sprache“; eine Form indirekter Aussage, bei der eine Sache oder Person aufgrund von Ähnlichkeit als Zeichen einer anderen Sache oder Person eingesetzt wird. (Wikipedia)

Offensichtlich zeigt sich das beim Ritter, der auf der Lauer liegt, also Wache hält, dabei aber schläft. Zugrunde liegt dem Motiv die Kyffhäusersage.

Der Kyffhäuser ist ein kleines Gebirge in Thüringen, südlich des Harzes, auf dessen Gipfel in 440 m Höhe einst eine Burg stand, deren Reste noch erhalten sind. An den Kyffhäuser knüpfte sich eine der populären Sagen von der Berg-Entrückung. Diese finden sich mehrfach in Europa: Könige und Volkshelden sterben nicht, sondern werden entrückt und leben in einer Parallelwelt weiter, bis die Stunde ihrer Wiederkehr schlägt. Einer davon ist König Artus, der nach seiner letzten Schlacht schwer verwundet zur Insel Avalon gebracht wird, von wo er dereinst zurückkehren wird. Ihm gleich kommt der Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1122–1190), der im Kyffhäuser schläft und, wenn das Reich in höchster Not ist, als Friedenskaiser Friedrich II. zur Rettung des Reichs wiederkehren wird. Barbarossa ist deshalb zum Retter ausersehen, weil es ihm in seiner 38-jährigen Regierungszeit gelang, das Reich vor dem Zerfall zu bewahren, neu zu ordnen und in eine Zeit des Friedens zu führen. Die verschiedenen Sagen verdichten sich zu einem symbolischen Narrativ und gewinnen so die Kraft des Mythos.

Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie.
(Claude Lévy-Strauss, Strukturale Anthropologie)

1817 dichtet auch Friedrich Rückert über den schlafenden Barbarossa:

Der alte Barbarossa,
Der Kaiser Friederich,
Im unterird’schen Schlosse
Hält er verzaubert sich.

Er ist niemals gestorben;
Er lebt darin noch jetzt.
Er hat im Schloss verborgen
Zum Schlaf sich hingesetzt.

Er hat hinabgenommen
Des Reiches Herrlichkeit
Und wird einst wiederkommen
Mit ihr zu seiner Zeit. (…)

Als Allegorie für den Kaiser figuriert bei Eichendorff der Ritter, der kein junger Held ist, sondern als alt bezeichnet wird, eben wie es zu einem Kaiser passt, der seinerzeit fast vier Jahrzehnte lang das Reich regierte.

EXKURS

Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce. (Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte)

Im 19. Jahrhundert wird diese Sage wieder populär, als die Nationalbewegung des Vormärz sie freiheitlich-demokratisch auflädt. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 ist es damit jedoch vorbei, und nach der Reichseinigung 1871 wird Barbarossa von der preußischen Großmannssucht in Beschlag genommen. Für den Hohenzollernkaiser Wilhelm I. werden Reiterstandbilder aufgestellt (Wikipedia führt fünfzig davon auf), die ihn im Stil Barbarossas als Feldherrn hoch zu Ross zeigen, aber nun mit Pickelhaube und Eisernem Kreuz. Er betrachtet sich selbst als wiederauferstandenen Barbarossa und nennt sich, Konzession an sein fortgeschrittenes Alter, „Barbablanca“. Nach dem Sieg über Dänemark 1864 lässt er in Berlin die Siegessäule errichten, die nach dem Triumph über Frankreich 1871 noch mit einem rühmenden Bildprogramm für die preußische Armee geschmückt wird. Die auf der Säule stehende vergoldete Bronzefigur stellt die römische Siegesgöttin Victoria dar, in ihrer Rechten ein Lorbeerkranz, in der Linken ein Feldzeichen mit Eisernem Kreuz, auf dem Haupt Helm mit Preußenadler. Die Berliner Schnauze nennt sie „Goldelse“.

Dieser Wilhelm ist derjenige, der 1848 die revolutionären Erhebungen in Preußen, Baden und der Pfalz blutig niederschlagen ließ und der als „Kartätschenprinz“ in die Geschichte eingegangen ist. Berüchtigt ist das zwischen 1895–1897 errichtete 44 m hohe Denkmal-Monstrum am Deutschen Eck in Koblenz. Um sein Kaiserreich und sich selbst zu glorifizieren, ließ Wilhelm II. zur selben Zeit ein Barbarossa-Denkmal auf dem sagenumwobenen Kyffhäuser errichten. Für das Denkmal in Koblenz fand sich im März 1945 ein wackerer US-amerikanischer Panzerschütze, der es in Stücke schoss. Leider fand sich nach dem Einmarsch der Roten Armee in Thüringen kein Rotarmist zu einem ähnlichen Akt der Geschichtskorrektur am Kyffhäuser berufen.

Die Demütigung von Koblenz ließ nun die Preußen-Verehrer nicht ruhen: Sie sammelten Geld von gleichgesinnten Nostalgikern zur Wiederherstellung des Denkmals und boten es 1993 dem Land Rheinland-Pfalz gratis an, das dieses Danaer-Geschenk nach dem routinemäßigen Herumdrucksen der SPD-geführten Regierung auch annahm. Es ist schon bizarr, wie ausgerechnet die Sozialdemokratie den preußischen Erinnerungskult befördert, in letzter Zeit beim Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonskirche: Symbol des preußisch-deutschen Militarismus, Ort des Handschlags zwischen Hitler und Hindenburg, heute Kultstätte für Rechtsextreme. Und natürlich ist die stets staatsfromme evangelische Kirche als einstige Hauptakteurin der religiösen Verbrämung preußischer Kriegspolitik mit von der Partie.

Das österreichische Leben hat eine Entschädigung: Die schöne Leich.
(Karl Kraus)

Es mag die österreichischen Leserinnen und Leser mit Freude erfüllen zu erfahren, dass der Kaiser Barbarossa auch in ihrem Land eine Ruhestätte hat, nämlich im Untersberg bei Salzburg. Der österreichische Alpinist Robert von Lendenfeld hat nahezu alle namhaften Berge der Alpen bestiegen und dies 1896 in zwei stattlichen Bänden mit dem Titel Aus den Alpen beschrieben. Für alle bergsteigerisch Interessierte sind die mit schönen Zeichnungen geschmückten Bücher genussreich zu lesen, allerdings muss man bereit sein, auch seine rassistischen Kommentare hinzunehmen, wenn er die italienische Bevölkerung im Vergleich mit der deutschsprachigen als lärmend, faul und schmutzig schmäht. Über den Barbarossa im Untersberg weiß er dies zu erzählen (Bd. II, Die Ostalpen, S. 375):

Zwerge und andere sagenhafte Wesen belebten den Untersberg, und drinnen im Berge schläft der alte Kaiser Barbarossa. 680 Jahre ruhte er dort, da weckte ihn der Donnerhall jenes Rufes, der 1870 die deutschen Gaue durchbrauste: Zum Rhein, zum deutschen Rhein, wer will des Stromes Hüter sein? Er rüttelte sich munter, trat hervor aus dem Berge und eilte dem Rufe nach über den Rhein – gewaltig schwang er das Schwert in der Schlacht. Vernichtet waren die feindlichen Heere, einig und mächtiger als jemals zuvor erhob sich phönixgleich das alte Deutsche Reich geläutert durch den Kampf in neuer jugendlicher Kraft. Der alte Barbarossa aber wischte das Blut von seinem Schwerte, – glücklich lächelnd, zufrieden mit den Waffenthaten der Nachkommen, ist er in seinen unterirdischen Palast zurückgekehrt.

Er zitiert hier das patriotische und von Franzosenhass vergiftete Lied Die Wacht am Rhein (Es braust ein Ruf wie Donnerhall) das ab 1871 neben Heil dir im Siegerkranz die Rolle einer inoffiziellen Nationalhymne hat. Es ist schon phänomenal zu sehen, dass Schriftsteller wie der Oberschlesier Eichendorff und der Grazer Lendenfeld, je weiter sie vom Rhein herstammten, desto schwerer beeindruckt waren vom deutschen Kaiser Barbarossa und dem deutschen Schicksalsfluss. (Empfehlenswert, freilich mit Trigger-Warnung, die Interpretation von Heino auf Youtube). Ende dieses unappetitlichen Exkurses.

Die Erde ist auf die Dauer stets mächtiger als die Geschichte.
(Albert Camus)

Zurück zur Sage. Während der Kaiser schläft, wächst sein Bart weiter und wickelt sich um den Steintisch herum. Eichendorff treibt das Bild kühn weiter, indem er den Bart samt Ritter selbst zu Stein werden lässt: Eingewachsen Bart und Haare, / Und versteinert Brust und Krause, / Sitzt er viele hundert Jahre / Oben in der stillen Klause. Sein Schlaf ist ein erstarrter, todesgleicher Schlaf.

Auch Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt.
(Jean-Paul Sartre)

Gleiches gilt für mythische Gestalten. Die Menschen haben den Glauben an die Wiederkehr des Kaisers verloren: Alle sind ins Tal gezogen. Die Stille und der Friede um die Klause sind die des Friedhofs, übrig bleiben Vögel, die in der sie umgebenden Leere ihre einsamen Gesänge gleich Klageliedern ertönen lassen. Die Geschichtsmächtigkeit des Kaisermythos schrumpft zurück in die Urform alles Seins, die Materie, hier versinnbildlicht im Stein, zu dem das allegorische Bild des Kaisers erstarrt ist.

Aufschlussreich ist die Reimstruktur. Eichendorff ist ein sehr bewusst verfahrender Verskünstler. Reime sind nicht nur Schmuck, sondern bedeutungstragend (vgl. meinen Aufsatz Poesie als Tauschwert am Beispiel des Gedichts Mondnacht, Streifzüge, Sommer 2022). So auch im Gedicht Auf einer Burg. Blicken wir dazu zunächst auf die beiden ersten Strophen. Diese weisen ein festes Reimschema auf: abab cdcd. Es versinnbildlicht die ursprüngliche Glaubensgewissheit des Mythos. In der dritten Strophe wird das feste Reimgerüst aufgegeben, denn die erste und dritte Zeile sind reimlos: xexe. So wie die einstige Glaubensmacht des Mythos sich aufgelöst hat, so wird auch die bisher feste Reimstruktur lückenhaft.

Diese Technik kulminiert im Raffinement der letzten Strophe. Wir haben hier zwar wieder wie in den beiden ersten Strophen ein festes Muster: fgfg. Aber diese Reime sind alle unrein: unten – munter – Sonnenscheine – weinet. Zu den unreinen Reimen (Assonanzen) kommt eine weitere ästhetische Störung hinzu. Es sind sinnwidrig betonte Trochäen: Eíne Hochzeit – Áuf dem Rhein – Músikanten – Únd die schöne Braut. Das akzentuierte únd betont noch das Erzwungene der Szenerie.

Musik drückt das aus, worüber man nicht sprechen kann und es doch unmöglich ist zu schweigen.
(Victor Hugo)

Robert Schumann hat in seiner Vertonung diese Ambiguität kongenial gestaltet (Liederkreis, op. 39, Nr. 7). Davon soll ausführlich die Rede sein, weil es gerade die Musik ist, welche die schwebende Ungewissheit der Verse auch sinnlich erfahrbar macht. (Quelle der Analyse im Lit.verz.)

Schumann gliedert die vier Strophen in zwei, dennoch ist die Eichendorff’sche Gliederung gut erkennbar, da ein einzelner Vers in zwei Takte fällt, nur in den jeweils letzten Versen der zweiten und vierten Strophe – Oben in der stillen Klause und Und die schöne Braut die weinet – werden die Verse jeweils auf vier Takte gestreckt.

Das Lied beginnt mit den Vortragsbezeichnungen Adagio und Piano. In dem Adagio, das „ruhevoll, langsam bis sehr langsam“ bedeutet, bekommt der retardierende Rhythmus der Trochäen zusätzliche elegische Qualität, insonderheit in dem erstarrten Stillleben der ersten beiden Strophen. Doch wird in das Adagio zweimal eine dynamische Bewegung eingebaut: ein Crescendo auf Eingewachsen Bart und Haare mit einem Decrescendo auf Oben in der stillen Klause. Die Höhepunkte der Komposition folgen der Dynamik des Textes und liegen auf den Worten Krause und munter, die jeweils an den Vers-Enden liegen. In den meisten Takten sind die Noten auf Eins und Drei punktiert, sodass die Melodie melancholisch, aber nicht schleppend wirkt.

Das Lied ist in der Tonart a-Moll notiert. Es hebt an mit einer fallenden Quinte von h auf e; es ist eine leere (offene) Quinte, d.h. die Terz, welche die Tonart bestimmt, fehlt, sodass der Eindruck des Unbestimmten, Fahlen entsteht. Das ganze Lied scheint sich in seinen chromatischen Schritten nicht von der Stelle zu bewegen, es schwankt zwischen e-Moll und a-Moll und berührt dabei ferne Kirchentonarten.

In der Schluss-Strophe nimmt Schumann zwei Besonderheiten vor, welche Sängerin und Sänger unbedingt beachten müssen. Bei der Hochzeitsfahrt auf dem Rhein im Sonnenscheine wechselt die Melodie unvermutet in einen Sextsprung von d auf h, betont also das Wortglied -scheine; diese Betonung wird beibehalten im folgenden Vers bei Musikanten, dies mit „falschem“ Akzent auf der ersten Silbe, und munter, und sie hebt die angesichts der weinenden Braut erzwungene Fröhlichkeit der Hochzeitsfahrt fast plakativ hervor. Die Singstimme muss das entsprechend akzentuieren. Dietrich Fischer-Dieskau, zu hören auf Youtube, macht das perfekt.

Von genauer Einfühlung in den Text und kompositorischem Raffinement zeugt der letzte Vers Und die schöne Braut die weinet. Zum einen: Die schon erwähnte Ausweitung des Verses von zwei auf vier Takte wird noch durch die Vortragsbezeichnung Ritardando betont und verstärkt die elegische Stimmung. Zum andern: Die Singstimme verläuft parallel zum Klavier, doch enden beide nicht, wie als Auflösung zu erwarten wäre, in der Grundtonart a-Moll, stattdessen wechselt die Tonart in E-Dur, die Dominante zu a-Moll. Im vorletzten und letzten Takt spielt die Bass-Stimme wieder eine leere Quinte (a – e), darauf baut der Dominantakkord h – e – gis auf, und zwar in der Umkehrung (und nicht, wie es üblich wäre, e – gis – h). Die Singstimme nimmt, nach einem chromatischen Abwärtsgang, aus der Terz des Klaviers das gis auf und so bleibt alles in der Schwebe.

Brautschau

Zu fragen ist nun: Wer ist die schöne Braut? Und wer der Bräutigam? Von ihm ist merkwürdigerweise nicht die Rede. Sitzt er nicht mit im Schiff? Und warum weint die Braut? Ist der Mann nicht der von ihr Erwählte? Ist sie womöglich auf der Suche nach ihm? Das lässt sich nicht eindeutig beantworten. Da von einem Bräutigam nicht die Rede ist, entscheide ich mich für die These, dass die Braut allein im Schiff sitzt. So bleibt die Frage: Wer ist die Braut?

Der politische Eichendorff …

Wir kommen der Antwort näher, wenn wir sowohl die historisch-politischen Zeitumstände als auch Eichendorffs politische Weltsicht selbst in Augenschein nehmen. Zunächst zu dieser. Eichendorff, der als der „romantischste“ aller Dichter der Romantik gilt, war ein durchaus politischer, dabei dezidiert konservativer Mensch. Vorherrschend in der Rezeption seiner Dichtung ist die geradezu übermächtige Vereinnahmung seines Konservatismus durch nationalistische Ideologien. Sie ist in den letzten Jahrzehnten einer kritischen Revision unterzogen worden, die nun ein wesentlich differenzierteres Bild von Eichendorff zeichnet. (Es sind freilich weniger seine Gedichte, sondern vor allem seine Romane und Dramen, die zeitkritische Bezüge enthalten.)

und der katholische

Zugleich ist Eichendorff ein tiefgläubiger Katholik. Die Zerrissenheit in der deutschen Geschichte, unter der er leidet, beginnt für ihn schon im 13. Jahrhundert, im Kampf der Ghibellinen (Staufer) gegen das Papsttum; erweitert wird die Spaltung durch den Renaissance-Humanismus, der nicht nur Kunst und Wissenschaft, sondern auch Staat und Kirche nach antiken – und eben nicht christlichen – Vorbildern prägt. Luthers Reformation setzt das fort, indem sie einen politischen Protestantismus heraufführt, der die autonome und universelle christliche Moral ins Korsett der Staatsräson zwängt. Tief suspekt sind für Eichendorff folglich die Ideen der europäischen Aufklärung. In deren Subjektivismus und Emanzipationsstreben (inkl. der Frauen) sieht er einen Zerfall der göttlichen Ordnung durch die Inthronisation eines prometheisch-luziferischen Ich, welche die Welt in den Abgrund stürzen müsse. Rettung böte die Rückbesinnung auf den christlichen Heilsglauben. (van Essenberg, S. 391 ff.) Das ist zweifellos restaurativ und antimodernistisch; jedoch hat die Moderne angesichts der ihr eigenen „Dialektik der Aufklärung“ unbestreitbar auch ihre höchst problematischen Seiten.

Klarsichtig und scharf ist Eichendorffs Kritik am Zustand der eignen Adelsklasse, obschon er selbst gern an deren Vergnügungen wie Teegesellschaften, Maskenbällen und Jagden teilnimmt. Er sieht den Adel der innerständischen Brüderlichkeit verlustig gegangen, betrachtet ihn als verkrustet, degeneriert. Dagegen verklärt er idealtypisch das „Volk“, denkt und fühlt durch und durch „deutsch“, ist von „Vaterlandsliebe“ beseelt, distanziert sich aber von dem aufkommenden Nationalismus und beschwört eine neue Synthese von Adel und Volk, was noch bis zu Wagners Meistersingern fortheckt, wenn Hans Sachs in seiner Schlussansprache dem Heiligen Römischen Reich das Unheil prophezeit, das droht, „wenn kein Fürst bald mehr sein Volk versteht“. Dieses Reich ist nun durch die Napoleonischen Kriege und die Gründung des Rheinbunds, dessen Mitglieder aus dem Reich ausgeschieden sind, handlungsunfähig geworden und mit der Niederlegung der Reichskrone durch Kaiser Franz II. im Jahr 1806 nach über 800 Jahren erloschen.

Die Nachtigallen schlagen / Hier in der Einsamkeit,
Als wollten sie was sagen / Von der alten, schönen Zeit.
(Eichendorff, In der Fremde)

Das Gedicht Auf einer Burg hat Eichendorff zwischen 1810 und 1812 geschrieben. Es ist die Zeit, in der große Teile Europas unter der Herrschaft Napoleons stehen. Im Kampf gegen die französische Besetzung werden Freiwilligeneinheiten, sog. Freikorps, aufgestellt. In ihnen sind viele Bürger und Adlige vertreten, darunter Prominente wie Theodor Körner und der „Turnvater“ Friedrich Jahn.

Das Hurra jauchzt und die Büchse knallt, / Es fallen die fränkischen Schergen.
(Theodor Körner, Lützows wilde Jagd, 1813)

Und eben auch Eichendorff, der in den Befreiungskriegen in den Jahren 1813 bis 1815 als Leutnant dient. Um sich und andre für den Krieg zu begeistern, dichtet er einen Appell:

Appell

Ich hört’ viel Dichter klagen
Von alter Ehre rein,

Doch wen’ge mochten’s wagen
Und selber schlagen drein.
(…)
Frisch auf, wir wollen uns schlagen,
So Gott will, übern Rhein
Und weiter im fröhlichen Jagen
Bis nach Paris hinein!

Aber noch wollte es Gott nicht, erst 1871 war es so weit, dass Preußen mit seinen Verbündeten in Paris einmarschierte, und 1940 dann Großdeutschland samt dem zur „Ostmark“ degradierten Österreich. Als Freischärler bei Lützow dichtet Eichendorff ein weiteres martialisches (und literarisch ebenso missratenes) Kriegslied, in dem er bildgewaltig die Leiden des Vaterlands durch die französische Okkupation beklagt: Die Löwen und Adler, sprich: die Deutschen, zeigen sich leider nur noch kampfträge, stattdessen belagern die Drachen, sprich: die Franzosen, das Land. Eine Braut figuriert als Leidensfigur:

Noch halten sie in Schlingen
Die wunderschöne Braut,
Bei Nacht hört man ihr Singen
Die stille Luft durchdringen
Mit tiefem Klagelaut.

Wieder also die Braut, eine wunderschöne. Wer ist sie? Der Antwort kommen wir nahe, wenn wir uns ein Gedicht anschauen, das Heinrich von Kleist 1809 schreibt: Es heißt Germania an ihre Kinder.Der Name der Göttin steht in Anlehnung an des Tacitus ethnographische Schrift über die Germanen (98 n.u.Z., den Titel Germania bekam sie erst in der Renaissance). Kleist schreibt dazu eine schauerliche Ode, in der ein patriotischer Deutscher die Göttin zum Kampf gegen die Franzosen aufruft; hier einige Strophen daraus:

Horchet! – Durch die Nacht, ihr Brüder,
Welch ein Donnerruf hernieder?
Stehst du auf, Germania?

Ist der Tag der Rache da?
Zu den Waffen, zu den Waffen!

Der Sprecher – man kann ihn getrost als den Franzosenhasser Kleist selbst ausmachen – steigert sich in eine rasende Mordlust hinein: Alles Land soll mit den verbleichenden Knochen der Franzosen weiß gefärbt, der Rhein mit ihren Leichen aufgestaut werden, kurz, es wird lustig hergehen, und alles wird gut:

Eine Lustjagd, wie wenn Schützen
Auf die Spur dem Wolfe sitzen!
Schlagt ihn tot! das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht!

Rettung von dem Joch der Knechte,
Unsrer Fürsten heil’gem Blut
Unterwerfung und Verehrung!
Gift und Dolch der Afterbrut!

Gegen Fürstenherrschaft ist nichts einzuwenden, solang es nur die eigne Adelsbrut ist und nicht die artfremde der Franzosen. Fürwahr: Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein! (Nikolaus Becker, Rheinlied, 1840). Denn:

Und ob mein Herz im Tode bricht, / Wirst du doch drum ein Welscher nicht.
Reich wie an Wasser deine Flut / Ist Deutschland ja an Heldenblut.
(Max Schneckenburger, Die Wacht am Rhein)

Symbolstark rauscht hier wieder der Rhein hindurch, der das bedrängte brave Deutschland vom tückischen Welschland scheidet. Das ist beim Preußen-Propagandisten Kleist grell plakatiert, ebenso, wenn auch weniger martialisch, sondern klagend, in Eichendorffs Kriegslied, jenes Eichendorff, der sich emphatisch als Deutscher versteht – der letzte Vers seines Gedichts Heimweh lautet: Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund! Und der in diesen Jahren sein rätselvolles Gedicht Auf einer Burg schreibt.

Was also bedeuten die Figuren? Der alte Ritter, der Wache hält und in seinem jahrhundertelangen Schlaf bis zur Versteinerung erstarrt ist – er ist die Allegorie des ersehnten Kaisers. Und die schöne Braut – sie ist Germania, die Allegorie des deutschen Volks. Auf dem Rhein, dem „deutschen Schicksalsfluss“, fahrend, sehnt sie sich weinend nach dem Herrscher, der ersehnt wird, dessen Reich zerfallen ist, aber dereinst unter einem neuen Kaiser wiedererstehen mag.

VORSCHAU

dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die brutale germanische Kampflust … Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. Wenn Ihr dann das Gepolter und Gedonner hört, hütet Euch, Ihr Nachbarskinder, Ihr Franzosen! Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.
(Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland,1834–52)

Benutzte Literatur:

  • Noten zu Schumanns Vertonung: https://musescore.com/openscore-lieder-corpus/schumann-robert-liederkreis-op39-no7-auf-einer-burg.
  • Analyse: https://thson.de/static/Musikanalyse%20-%20Auf%20einer%20Burg%20von%20Schumann.pdfEs)
  • Ries, Franz Xaver: Zeitkritik bei Eichendorff. Berlin 1997
  • Holländer, Martin: Die politische und ideologische Vereinnahmung Eichendorffs. Berlin 1997
  • van Essenberg, Nikolas: Romantik im Spannungsfeld von Konfessionalisierung und Nationalisierung: Das Spätwerk Joseph von Eichendorffs(1837–1857). Göttingen 2023