Die Abgelehnten

von Reimer Gronemeyer

„Ich will alt werden, richtig alt, sodass nichts mehr eine Rolle spielt.“ (Marina Abramović)

Das gibt es schon heute: Kristina, Billie oder PaiBuddy heißen die neuen Begleiterinnen in der Pflege. Sie stehen dem verwirrten Herrn im Pflegeheim zur Seite, rufen Hilfe, wenn es einer Bewohnerin schlecht geht, lesen aus der Zeitung vor, singen oder hören zu. Die medizinische und pflegerische Pflege wird zuverlässig organisiert.

Robotik und KI und die Lebenswelt hilfsbedürftiger Alter

Avatare und soziale Roboter, die sich in der Pflege durchsetzen werden, sind keine neutralen Hilfsmittel, die nur die traditionelle Pflege unterstützen, sondern Techniken, die ein fragwürdiges Verständnis von Sorge und Pflege verstärken – technische Geräte materialisieren soziale Werte, Normen und Vorurteile und setzen sie technisch um. Die Pflegekatastrophe ist hierzulande heute schon Alltag, und es wird künftig noch schlimmer. 500.000 Pflegekräfte werden 2030 fehlen, während zugleich sechs Millionen Pflegebedürftige erwartet werden. Der letzte Lebensabschnitt droht für die Babyboomer damit zur Katastrophe zu werden.

Pflege 4.0 ist das Schlagwort, mit dem eine Antwort auf die Krise in der Altenpflege gesucht wird: Millionen fließen in die Erforschung neuartiger Assistenzsysteme zur Prävention von Stürzen, in die Analyse von Bewegungsmustern – aber nicht in die Pflege. Im Oktober 2024 wird gemeldet, dass die Pflegeversicherung vor der Pleite stehe, im Februar 2025 sei es so weit, wenn nicht eine Notoperation vorgenommen werde. Man sollte nicht überrascht sein, wenn wieder eine Erhöhung der Beiträge für die Pflegeversicherung verkündet wird.

Immer mehr Pflegeeinrichtungen schließen oder melden Insolvenz an. Von Januar 2023 bis Juli 2024 gab es über tausend Schließungen, Insolvenzen oder Angebotsreduzierungen wie Kündigungen von Verträgen oder Aufnahmestopps bei ambulanten Diensten.

Hektisch wird nach Auswegen gesucht: Pflege ist aber nicht das Gleiche wie Autoproduktion. Indessen gibt es Versuche, die Arbeitsabläufe so zu zergliedern, dass KI, Roboter und Automaten flächendeckend in der Pflege eingesetzt werden können. Die Behauptung, dadurch werde die Zeit gewonnen, die es den Pflegerinnen und Pflegern wieder erlauben würde, mehr Zeit für Gespräch, Zuwendung und Empathie zu haben, ist irreführend.

„Die Tatsache, dass nicht Zuwendung, Beziehung und Fürsorge gesellschaftlich aufgewertet und bezahlt werden, sondern stattdessen soziale Roboter gegen die Vereinsamung und Verwahrlosung von alten Menschen eingesetzt werden sollen, zeigt, dass Sorge-Arbeit nicht als ein vielschichtiges, ganzheitliches Sich-Kümmern verstanden wird, sondern als Belieferung mit Service-Einheiten, also als mechanische Bedürfnisbefriedigung, die auch vor der Simulation von Menschlichkeit nicht zurückschreckt“, schreibt die Biologin Silja Samerski (Samerski: Die Krise der Sorgearbeit. Demenz und die Digitalisierung der Pflege, in: Demenz Magazin). Es ist unübersehbar, dass sich in der Pflege mit der Roboterisierung eine technisch kalte Sorge durchsetzt, die alle Züge einer entpersonalisierten Altersdiskriminierung trägt.

1989 habe ich ein Szenario für den Umgang mit Alten im Jahr 2030 entworfen. Da war die Rede von Fließbandpflege, Fütterungsautomaten, Dauerkatheter, Waschstraße für Pflegefälle … Alles, was damals noch als Horrorszenario präsentiert wurde, ist längst überboten. Nur dass damals die personelle Katastrophe in der Pflege so noch nicht erkennbar war – jedenfalls nicht erkannt wurde. Vom Alten-Homeland war in dem Szenario die Rede und von Seniorenreservaten. In den zahlreicher werdenden Demenzdörfern ist das inzwischen realisiert. In den östlichen Bundesländern gibt es Regionen, in denen nur die Alten zurückgeblieben sind, alle anderen sind weg: Entstehen da Seniorenreservate?

Altersdiskriminierung wird heute durch eine Fülle von diversity-Fachleuten und von Antidiskriminierungsexperten identifiziert und kritisiert. Das Thema Einsamkeit ist dabei ein Dauerbrenner, Fachleute und Beauftragte werden angestellt, um die Einsamkeit der Alten zu bekämpfen. Will sagen: Allerlei Formen der Altersdiskriminierung werden kontrolliert, rücken ins Bewusstsein und werden bisweilen auch sanktioniert.

In den Vordergrund sind jetzt aber strukturelle Formen der Altersdiskriminierung getreten, die sich nicht vorwiegend in persönlicher Aggression oder Diffamierung konkretisieren, sondern sich in dem ausbreiten, was die Gesellschaft als Fortschritt definiert: der Ausschluss der Alten durch Beschleunigungsprozesse, durch Digitalisierung, durch den Ausbau einer technophilen Welt, die altenunfreundlich ist, durch Forschungen und Fantasien über eine altersfreie Welt. Altersdiskriminierung wird schwerer erkennbar und setzt sich im gleichen Augenblick zunehmend in den Strukturen der Lebenswelt durch.

Transhumanistische Perspektiven: Das Alter abschaffen

„Es ist uns ja sogar lästig, Mensch zu sein – ein Mensch mit wirklichem Fleisch und Blut; wir schämen uns dessen, halten es für eine Schmach und trachten lieber danach, irgendwelche phänomenalen Allgemeinmenschen zu sein … Bald werden wir so weit sein, dass wir von einer Idee gezeugt werden.“ Das hat Fjodor Michailowitsch Dostojewski 1864 gesagt. Sehr weitblickend, denn sind wir mit den transhumanistischen Perspektiven, die den irdischen Menschen überwinden wollen, nicht längst dort angelangt?

Ein gewöhnlicher Mensch aus Fleisch und Blut – so schreibt der Frankfurter Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs – wird immer mehr zu einem Makel. Das – so dürfen wir folgern – wird an Körper und Geist alter Menschen besonders drastisch sichtbar. Im Silicon Valley wird – zum Teil mit Beteiligung von Milliardären wie Jeff Bezos und Elon Musk – an milliardenschweren Projekten gearbeitet, durch die Krankheit, Alter und letztlich sogar der Tod überwunden werden sollen. Man kann sich einfrieren lassen, um auf den Tag der Auferstehung zu warten. Versuche laufen, Hirninhalte vollkommen auf Rechenmaschinen zu übertragen: In all dem ist die Mitteilung enthalten, dass Krankheit, Alter und Tod ein für alle Mal überwunden werden sollen. Es entsteht ein Bild vom Menschen, der mit Endlichkeit nichts mehr zu tun haben soll – und stellt damit jegliche jüdisch-griechisch-lateinisch-christliche Tradition ins Abseits.

Die Tradition, aus der wir kommen, die unseren kulturellen Mutterboden darstellt, wird abgetragen. Transhumanisten sehen in der Bio-, Nano- und Computertechnologie die Möglichkeit, die anfällige und unvollkommene menschliche Natur zu optimieren. „Wenn Menschen ihren Geist mit Computern vereinigen, warum sollten sie die menschliche Form dann nicht ganz loswerden und unsterbliche Wesen werden?“ (Fuchs: Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie)

Der Historiker Yuval Noah Harari hat prognostiziert, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt das alte Menschenbild Stück für Stück auflösen werde: Wir werden uns – so sagt Harari – zunehmend den Algorithmen, Datenanalysen und Prognosen der Künstlichen Intelligenz überantworten – sie sind einfach besser als wir. „Der homo sapiens ist ein obsoleter Algorithmus“, sagt Harari. Das, was wir einmal als subjektive Erfahrung betrachtet haben, ist – so referiert und kritisiert Thomas Fuchs – in der Sicht des Transhumanismus eine Illusion des Nutzers, real sind nur die Rechenprozesse im Hintergrund. Der Eindruck, der da entsteht: Die burschikose Radikalität, mit der das abendländische Subjekt von Harari und anderen Transhumanisten zu einer Illusion erklärt wird, nährt sich aus ihrer Freude an der Zerstörung dessen, was das Fundament unseres Denkens und Lebens ist. Die leibliche Existenz wird gewissermaßen zu einem altmodischen Anhängsel kognitiver Rechenprozesse. Der Leib mit seiner Hinfälligkeit ist ein Relikt. Alles, was das Alter ausmacht, auch.

Die Zukunftsszenarien, die sich aus dem Transhumanismus heraus entwickeln, haben nichts weniger als die Auslöschung des Alters auf dem Programm. Und die schließt ja eine Auslöschung der Alten ein, weil das Alter im Rahmenbiomedizinischer Fortschritte verschwinden soll.

Ich lese das alles als den unüberbietbaren Höhepunkt der Altersdiskriminierung: Das Alter soll abgeschafft werden, weil es als ein unerträglicher Zustand begriffen wird. Und damit ist, mit Blick auf die Altersdiskriminierung, alles über die Transhumanisten und ihre Motive gesagt.

Doch kann – diese Frage muss gestellt werden – aus der Idee eine Realität werden? Vorgestellt ist eine Gesellschaft, die das Alter nicht mehr kennt. Was kann aus einer solchen Wunschfantasie an realer Gewalt wachsen? Zumindest wird Alter unter diesen Voraussetzungen eine Art peinliche Erinnerung an ein hinfälliges fleischliches Wesen, das Gott sei Dank verschwunden ist: Weg damit. Es wäre der endgültige Triumph der Altersdiskriminierung, die es geschafft hat, ihren Gegenstand zu beseitigen. Anders gesagt, das Thema Altersdiskriminierung verschwindet dann mit dem verschwundenen Alter.

Die Zukunft der Alten – Horror oder Kultur der Versöhnung?

Die Krisengesellschaft, in der wir uns mit einem Mal vorfinden, kann uns in verschiedene Richtungen führen. Sie kann den Horror produzieren und sie kann wunderbare Aussichten eröffnen. Manches liegt in unserer Hand als Bürgerinnen und Bürger, manches liegt außerhalb unserer Handlungsmöglichkeiten.

Es hängt alles davon ab, in welche Richtung unsere Gesellschaft sich entwickelt – je nachdem, welche Richtung eingeschlagen wird, kann es für die Alten eine Welt der Diskriminierung werden oder eine der Geborgenheit. Es ist indessen immer leichter, sich den Horror auszumalen statt eine friedliche Lebenswelt, in der Alte dabei sein können, um in Ruhe alt zu werden. Es wird viel vom Verhältnis der Generationen abhängen, wie die Lebenswelt der Alten künftig aussieht.

Fatal wäre es, sich auf den Trümmern der Beziehungen zwischen Alt und Jung auszuruhen. Es wäre fatal, bei der Ablehnung der „Abgelehnten“ zu bleiben und die Ablehnung als unerfreuliche, aber logische Konsequenz gegenwärtiger Tendenzen zu akzeptieren. Es ist notwendig, die Phänomene und Ursachen zu analysieren und im gleichen Augenblick über Wege aus der Abschottung, die sich zwischen Alt und Jung entwickelt, nachzudenken. Die Welt, die wir gerade erleben, ist so von Konflikten übersät, die ständig an explosiver Kraft gewinnen, dass es eine gute und vielleicht realistische Idee ist, jedenfalls diesen Alt-Jung-Konfliktherd zu entschärfen. Abrüstung ist dafür die Devise.

Der US-amerikanische Philosoph Charles Eisenstein hat Überlegungen formuliert, die Möglichkeiten der Friedensstiftung in zwischenmenschlichen Konflikten bedenken. Seine Überlegungen lassen sich unschwer auf das Thema Altersdiskriminierung übertragen. (Vgl. Eisenstein: Trump und die Stürme des Hasses) Eisenstein schlägt vor, in einem ersten Schritt spaltende Themen im Sinne des Mitgefühls umzudeuten. „Wie fühlt es sich an, du zu sein?“ Und: „Was ist deine Geschichte?“ Wenn das gelänge, zwischen den Gegnern, zwischen Ablehnenden und Abgelehnten zum Beispiel, erst einmal eine Brücke zu schlagen, was wäre da schon gewonnen!

Ich stelle mir eine Begegnung vor zwischen Alten und Jungen so vor: Statt beim Thema Generationenkonflikt mit den gängigen Argumenten – wir haben sie alle im Ohr – aufzurüsten und sie aufeinander abzufeuern, käme ein Moment des Innehaltens auf und die Frage: „Wie fühlt es sich an, so jung zu sein wie du?“ und: „Wie fühlt es sich an, so alt zu sein wie du?“ – „Welche Ängste hast du, welche Hoffnungen?“ – „Was erwartest du?“ Ich stelle mir eine Begegnung vor zwischen einem zwanzigjährigen Nerd und einer Witwe, die von ihrer Minirente und ohne Smartphone lebt.

Erste Aufgabe: Kann ich mich in dich hineinversetzen? Der zweite Schritt wäre schwieriger: „Erkenne alle Perspektiven selbstlos an.« Wenn jemand die Perspektive des anderen selbstlos ausspricht, macht dieser Jemand deutlich, dass er zugehört hat und die Perspektive des anderen kennt, auch wenn das sehr schwerfällt. Aber so kann eine Situation entstehen, in der Feindbilder bröckeln. Der alte Mann ist vielleicht doch nicht nur ein ressourcenverschlingendes Monster, sondern ein nachdenklicher Bürger, der weiß, dass er nicht alles richtig macht? Und die junge Informatikerin ist nicht die fleischgewordene Digitalisierung, sondern ein liebender und leidender Mensch? Die entmenschlichenden Narrative, die unter Linken und Rechten, unter Alten und Jungen gleichermaßen zirkulieren, lösen sich auf in eine Vielzahl verschiedener Betrachtungsweisen. Und dann beginnt ein anderer Kommunikationsprozess.

Charles Eisenstein schlägt noch einen dritten Schritt vor: „Finde die transzendierende Mitte.“ Wie lassen sich Wege finden, auf denen bestehende Polaritäten überwunden werden können? Diese „transzendierende Mitte“ speist sich aus den zugrunde liegenden Wahrheiten und Werten beider Seiten. Die transzendierende Mitte ist aber kein Kompromisspunkt, sie steht vielmehr außerhalb dieser Polaritäten.

Schaut man auf die Konflikte zwischen Alt und Jung, die sich zum Beispiel im Blick auf die Folgen der Klimakatastrophe jetzt schon abzeichnen, dann bringen uns gegenseitige Vorwürfe nicht weiter. Der Blick muss ein gemeinsamer sein, der eine von beiden Parteien getragene Perspektive sein würde, die einen weltverträglichen Lebensstil ins Auge fasst.

Nicht Öl ins Feuer gießen, sondern die Glut auseinanderziehen, damit kein Brand ausbricht, ist die Devise. „Menschen, die die giftige, hasserfüllte politische Rhetorik nicht mehr hören können, atmen erleichtert auf, wenn sie jemanden die transzendierende Mitte formulieren hören“, so Charles Eisenstein.

Hass und Schuldzuweisungen machen blind gegenüber den vielschichtigen Ursachen der Konflikte zwischen den Generationen. Und die lassen sich nur überwinden, wenn wir die Ursachen sehen und dann im Nachdenken darüber neue Perspektiven entwickeln. Es muss ein „Erzählraum“ entstehen können, in dem sich die Gegner begegnen und – nachdem sie ihre argumentativen Waffen abgelegt haben – gemeinsam nach Auswegen suchen. Es ist der einzige Weg, der eine Heilung des immer militanter werdenden Generationenkonflikts verspricht. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Feindbilder:

Aus der Sicht der Jungen sehen die Alten aus wie eine Generation ICH. Ein Riesenheer von egomanen Alten. Und sind diese vielen Alten nicht eine Last? Gibt es nicht zu viele Alte mit dicken Renten, die unbeirrt große Wohnungen besetzen? Greise, die ihr welkes Fleisch auf Kreuzfahrtschiffen über die Meere schaukeln; graue Heerscharen, die Arztpraxen verstopfen; Glatzköpfe, die ihre sieben Medikamente beim Frühstück vor sich aufreihen, aber nicht bereit sind, ihren Führerschein abzugeben, obwohl sie eine Verkehrsgefährdung darstellen? Die nichts zum Gemeinwohl beitragen, aber die Wahlen entscheiden; die durch ihre Sehgewohnheiten verantwortlich sind für das miese Fernsehprogramm.

Alte weiße Männer und Frauen, die durch ihren Lebensstil den Planeten ruiniert haben, die weiterhin exzessiv konsumieren und dabei einen gigantischen ökologischen Fußabdruck hinterlassen, der wächst und wächst. Skrupellos sind diese gierigen Greise – im Grunde eine ägyptische Plage wie die Heuschrecken. Sie enden dann irgendwann in der De- menz oder im Heim oder bei den Kindern, und keiner wagt es, die entstehenden Kosten aufzudecken. Sie wollen niemandem zur Last fallen, aber sie tun es nun einmal. So denken manche, und das wird Konjunktur bekommen.

Und die Jungen? Aus Sicht der Alten sind sie bequem, sie jammern und knicken schon bei kleinsten Belastungen ein. Ihre Anspruchshaltung steht in keinem Verhältnis zu dem, was sie zu leisten imstande und willens sind. Sie schimpfen über den ökologischen Fußabdruck der Alten und machen es selbst doch nicht besser. Sie sind perfekt unterwegs in den sozialen Medien, aber sie wissen nichts mehr über die Kultur, aus der sie kommen.

Das sind die Feindbilder, die heute schon untergründig wirksam sind. Wie zugespitzt werden sie 2050 sein? Keine Frage: Diese Feindbilder müssen überwunden werden, sonst droht ein Krieg der Generationen.

* Auszug aus: Die Abgelehnten
Warum Altersdiskriminierung unserer Gesellschaft schadet | Ein Generationenkonflikt
von Reimer Gronemeyer, Verlag Droemer HC, Erscheinungsdatum 01.04.2025