Schwerer Verlauf: Corona als Krisensymptom

von Felix Wegner

Rezension zu: Andreas Urban (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien 2023.

Der von Andreas Urban herausgegebene Sammelband Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom stellt eine pluralistische Sammlung von lesenswerten linken Analysen des Corona-Ausnahmezustandes dar. Wenn auch der Sammelband, wie die Einleitung (7-20) deutlich werden lässt, in der Tradition der wertkritischen Krisentheorie steht – Robert Kurz ist der mit Abstand meist zitierte Autor im gesamten Buch –, entstammen doch nicht alle Beiträge gleichermaßen diesem Theoriezusammenhang und seiner Tradition. Gemeinsam ist ihnen allen allerdings, dass sie den Corona-Ausnahme-Zustand als Symptom kapitalistischer Krisenvergesellschaftung deuten. Letztere drücke sich nicht allein darin aus, dass offen zu einer autoritären, liberale Rechtstaatlichkeit suspendierenden Politik übergegangen wurde, deren „repressive Menschenverwaltung eine neue Qualitätsstufe“ (16) erreichte. Ebenso frappant sei die Potenzierung irrationaler Verhaltensweisen in allen gesellschaftlichen Bereichen, was während der Corona-Pandemie bisweilen an eine „Massenpsychose“ (16) erinnerte. Dies verweise auf eine tiefgehende „Krise“, die nicht nur die kapitalistische Ökonomie (vgl. 11-15), sondern „eine ganze Zivilisations- und Lebensform“ (16; vgl. 9) erfasst habe. Beide Dimensionen werden von den Buchbeiträgen abgedeckt, wobei interessanterweise der Schwerpunkt weniger auf die ökonomische Krisendynamik gelegt wird.

Während die Einleitung die Frage noch offen lässt, ob es mit der, während der Corona-Zeit massiv forcierten „Durchsetzung eines neuen, kybernetischen, auf Digitalisierung und Biotechnologie beruhenden Akkumulationsregimes“ (17) dem Kapitalismus noch einmal gelingt1, sich vor seinen sich zuspitzenden Widersprüchen zu retten, ist für den ersten Beitrag Die Untergangsschleife: Covid-19 und das Zeitalter der kapitalistischen Dauerkrise (vgl. 21-46) von Fabio Vighi die Sache bereits klar: Corona ist das Symptom der längst angebrochenen und unumkehrbaren ‚Todeskrise‘2 der Kapitalverwertung gewesen. Auch wenn es Vighi anzurechnen ist, dass er auf die heftige Zuspitzung der Widersprüche eines auf fiktive Kapitalakkumulation basierenden Kapitalismus hinweist, der sich zunehmend selbst die Basis des Wertes, die produktive Arbeit, wegrationalisiert, gerät seine Erklärung des Corona-Autoritarismus monokausal-ökonomistisch und bestenfalls funktionalistisch, schlechtestenfalls verschwörungstheoretisch. Ob die Erklärung einer „[s]ystemische[n] Erschöpfung“ (33) des Kapitalismus mittels des Marxschen Theorems des tendenziellen Falls der Profitrate, welchem sich schon in der Einführung bedient wird (vgl. 10), überzeugend ist, und ob wir tatsächlich unmittelbar vor einer „systemischen Implosion“ (45) stehen, kann hier nicht tiefergehend diskutiert werden. Angesichts der Ökonomie-Vergessenheit, die für weite Teile linker, auch materialistischer Theoriebildung kennzeichnend sind, mögen diese, zu den Basics der Wertkritik gehörenden Hinweise, genauso angebracht sein, wie diejenigen auf die Angewiesenheit des Dollars als internationaler Leitwährung auf ein ihm entsprechendes imperiales polit-ökonomisches Regime (vgl. 28 f.), das derzeit immer mehr Brüche erfährt und an „Effizienz“ (29) einbüßt.3 Allemal fragwürdig hingegen ist die Annahme, dass dieses „Meta-Notstands-Szenario“ bewusst gelenkt wird durch „die serienmäßige Erzeugung globaler Notlagen und Ausnahmezustände“ (33), zu denen auch die Corona-Pandemie zähle: „Zweifellos haben die Technokraten am Ruder der Titanic gespürt, dass das Schiff auf den Eisberg zusteuert. […]. Sie haben erkannt […] dass der systemische Zusammenhang nur ‚gemanagt‘ werden kann durch (1.) eine Abfolge globaler Not- und Ausnahmezustände, (2.) die kontrollierte Zerstörung der Real-Wirtschaft (durch Inflation) und (3.) den Umbau liberaler Demokratien hin zu neuen Formen des Autoritarismus auf der Höhe des Fortschritts in den digitalen Überwachungs- und Disziplinierungstechnologien.“ (39) Der die Wertkritik seit jeher beschränkende Objektivismus, der das Kapital zu einem automatischen Subjekt re-fetischisiert, das sich krisenhaft und durch naturwüchsige Gesetzmäßigkeit hindurch selbst reproduziert und zerstört, schlägt bei Vighi um in einen kruden Subjektivismus. Wo man sonst das Universalexplanans als ewiges Ass im Ärmel hat, das jeder Zeit gezogen werden kann – die Gesetzmäßigkeit der Verwertung des Wertes als dem Wesen, aus dem sich alle weiteren Erscheinungen deduzieren lassen –, kommen nun die Charaktermasken des Kapitals scheinbar nicht nur zu einem adäquaten Bewusstsein über ihre eigene soziale Lage, sondern auch in die Position, souverän über das Schicksal der kapitalistischen Weltgesellschaft entscheiden zu können. Fraglos sind ökonomische Fundierungen der sozio-politischen Gegenwartsanalyse und die Fokussierung politisch mächtiger Akteure begrüßenswert, gibt es letztere doch selbstredend auch in subjektlosen und abstrakten kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen; jene sind sicherlich auch nicht so dumm, ihre Machtmittel nicht effektiv für den Erhalt ihrer sozialen Herrschaft einzusetzen. Dessen ungeachtet schlägt bei Vighi der wertkritische Objektivismus in einen nicht minder fragwürdigen Polit-Voluntarismus um, dessen theoretischer Mehrwert zweifelhaft ist.4
Auf den Eingangsbeitrag von Vighi folgt der Aufsatz Corona-Regime: Virusfunktion und Krisenverwaltung (47-68) von Gerd Bedszent. Abermals auf Robert Kurz und Marx‘ Profitratenfall-Theorem rekurrierend (vgl. 48-50), deutet auch Bedszent die Corona-Pandemie als allgemeines Krisensyndrom kapitalistischer Vergesellschaftung. Der Verfasser wirft dabei insbesondere einen Blick auf das Gesundheitssystem, dessen moderne Geschichte erst kurz nachgezeichnet wird (vgl. 52-57), um sodann die „Gesundheitsindustrie am Vorabend der Pandemie“ (56-58) und die „Abgründe moderner Medizin“ (58-60) unter die Lupe zu nehmen. Da die letzten Jahrzehnte durch einen massiven Abbau der medizinischen Infrastruktur bei gleichzeitiger Kommerzialisierung inkl. des Ausbaus der Pharmaindustrie gekennzeichnet gewesen sind, habe sich die allgemeine, ab 2019 verstärkende „Wirtschafts- und Finanzkrise“ durch Corona „zunächst als Gesundheitskrise manifestiert[e]“ (59). Diese sei von der Gesundheitsindustrie, aber auch anderen Wirtschaftszweigen profitabel ausgeschlachtet wurden und habe der „Staatsbürokratie“ (59) dazu gedient, mit drastischen Mitteln der Gesellschaft ein Krisenbehebungsprogramm aufzuzwingen, das, war doch die Mehrheit in „Angst“ (60) versetzt, auf keinen nennenswerten politischen Widerstand aus der Bevölkerung stieß. Wo dieser auftrat, war er wenig emanzipatorisch, bestenfalls einem vergangenen, weniger krisenförmigen Kapitalismus nachtrauernd (vgl. 62), während die Linke vollends versagte, indem sie „vom Kritiker sozialer und/oder repressiver Abgründe der kapitalistischen Gesellschaft zu deren Verteidiger wurde (vgl. 63). Zurecht erinnert Bedszent diese daran, wie illusorisch ihr Vertrauen in den (Corona-)Staat von Anfang an gewesen ist (vgl. 64).
Während die durchaus lesenswerten Ausführungen von Bedszent ein wenig sprunghaft sind und sich hier und da in Allgemeinheiten verlieren, weiß der nächste Aufsatz Die Gesundheitskrise: Thesen zu Ursachen und Bedingungen eines historischen Nervenzusammenbruchs (69-96) von Andreas Urban und F. Alexander von Uhnrast voll zu punkten5; er gehört zu den lesenswertesten des gesamten Bandes. Die Autoren schließen „von dem nie dagewesenen Ausmaß von Irrationalität und Inkompetenz“ der staatlichen und gesellschaftlichen Reaktionen während der Pandemie auf eine tieferliegende Krise der kapitalistischen Gesellschaft. Deren „fortschreitende Erosions- und Verfallsprozesse“ umfasse gleichermaßen die „Ebene gesellschaftlicher Institutionen“ wie die der „modernen Subjektform“ (70). Das psychotische Ausmaße annehmende Handeln von verantwortlichen Akteuren und das breite Mitmachen von Massen deuten die Autoren vor diesem Hintergrund zum einen als Erscheinungen eines „krisenbedingten identitären Bedürfnis“ (71), welches das von Zukunftsängsten geplagte, zunehmend zerfallende Subjekt dazu treibe, sich einem Kollektiv (der Guten) anschließen zu können, das Sicherheit und ein verbindendes Feindbild verspricht: nicht das Virus, sondern die Unbotmäßigen. Zum anderen sei der Politik-, Medien und Wissenschaftsbetrieb derart durch eine fortgeschrittene „[p]ostmoderne Verflachung des Denkens“ (73) geistig zerrüttet, dass es zu einem kollektiven Realitätsverlust gekommen sei (vgl. 73-80). Dieser sei in den absurden Mitteln zur Bekämpfung des Virus genauso voll durchgeschlagen, wie in der medialen Berichterstattung, welche die irrationale Corona-Politik befeuerte. Was die Autoren diesbezüglich zur Deutung der Selbstzerstörung von bürgerlicher Rest-Rationalität und -Liberalität vortragen, ist genauso erhellend, wie die Hinweise auf „ganz banale politische Faktoren“ (81), die zur Radikalisierung und Irrationalisierung des staatlichen Pandemiemanagements beigetragen haben; die Autoren unterschlagen nicht die Bedeutung des Handelns der politischen Akteure, die sich, gleich ob selbst Opfer der Panik oder ihre strategischen Produzenten, in einen sich verselbstständigten Überbietungswettbewerb manövrierten (vgl. 81-86). Ohne diese Handlungsebene ist nichts zu verstehen – und dennoch ist sie weder allein oder primär bestimmend, noch lässt sie sich verschwörungstheoretisch deuten und damit verharmlosen. Die Ausführungen der Autoren machen vielmehr etwas anderes sehr deutlich: Die Irrationalität und der Autoritarismus der Corona-Politik verweisen auf tieferliegende objektive gesellschaftliche Strukturentwicklungen und Subjektdispositionen, die sehr viel beängstigender sind, als es irgendeine Mega-Verschwörung von Super-Schurken je sein könnte – was wiederum nicht heißt, dass es nicht ganz profane Corona-Kriminalität in Politik und Wirtschaft gab und gesellschaftliche Machtgruppen nur interessen- und selbstlos Däumchen drehen. So erinnern die Autoren denn auch mit Recht daran, dass gerade die „moderne Medizin […] ein hochgradig korruptes Wissenschafts- und insbesondere Geschäftsfeld“ (88) ist. Auch wenn man wohl Fragezeichen hinter die Diagnose setzen darf, dass sich der Kapitalismus „in einer terminalen Gesundheitskrise“ (96) befindet, sind die Ausführungen insgesamt sehr schlüssig, auch jene Anmerkungen, die an die „Grenzen der modernen Naturbeherrschungsrationalität“ (90-95) gemahnen, von denen eine szientistisch verflachte Linke, die gleichzeitig unfähig zur Interpretation des positivistisch generierten Datenmaterials ist, nichts wissen will.
Der nächste Artikel Infantilisierung und Regression in der Corona-Krise (97-122) von Dietmar Czycholl vertieft psychologisch jene Fragen der Subjektdisposition, die bei Urban/Uhnrast bereits angeklungen sind. Wie der Titel schon erahnen lässt, deutet der Verf. ausgehend von Freuds Psychoanalyse (vgl. 98-103) die Corona-Krise als eine Erscheinung von Regression, die massenweise die Individuen erfasste, aber auch auf anderen gesellschaftlichen Gebieten in Erscheinung trat (vgl. 112 f.). Die Regression auf Subjektebene sei durch die Infantilisierung der Menschen mittels bewusster Angstmache in Gang gesetzt wurden, die mündige erwachsene Menschen auf längst überwundene psychische Entwicklungsniveaus zurückdrückte (vgl. 103-106). Neben medialer Panikmache waren es vor allem die politischen Verordnungen, die dahingehend gewirkt haben. Sie haben gleichermaßen zur Formung eines Kollektivs, einer Masse von Entindividualisierten geführt, wie sie alle gleichermaßen vereinzelten (vgl. 107-111). Dies hatte einen doppelten Effekt, von dem der Autor mit Recht annehmen darf, dass er bewusst von den politisch Verantwortlichen und ihren Beratern intendiert war: „Während man also einerseits auf die leichte Lenkbarkeit der regressionsbereiten Masse setzt“ (110), die nach „Unterwerfung“ (109) unter eine autoritäre Führung lechzt, wird zugleich „diese Masse ihrer potenziellen Gefährlichkeit beraubt, wird sie entmachtet durch die Unterbindung“ (110f.) von direktem Austausch, persönlichen Treffen und interaktiver Kommunikation. Neben dieser erhellenden Analyse gesteuerter regressiver Massenbildung zählt der Verf. noch weitere Erscheinungsformen von Regression auf, die Denken und Fühlen jener bestimm(t)en, welche (a) die Corona-Politik wesentlich gestalteten, (b) sie medial propagierten und (c) ihr regressives Fußvolk darstellten. „[P]rimitive Abwehrmechanismen“ (113), wie die der „Projektion“, der „Omnipotenzphantasie“, der „Verleugnung“, der „Verkehrung“, der „Idealisierungen“ und „Abwertungen“ (114) bestimmten das Bewusstsein – seinen regressiven Höhepunkt in der totalitären Impfkampagne findend (vgl. 114 f.). Das, was gerade die Schrumpfformen Kritischer Theorie nur auf Seiten der Coronapolitik-Kritiker finden wollen – ein magisches, dualistisches Weltbild, das Wirklichkeit und Wissenschaft leugnet, genau weiß, was/wer Gut und Böse ist, und dem infantilen, verlorenen Einzelnen psychischen Halt und Kompensation seiner Ohnmacht durch einfache Erklärungen und Schuldige nebst Heilversprechen liefert –, genau all das zeichnete das Corona-Regime und seine ach so aufgeklärten Jünger selbst aus: „Im Zusammenhang mit der Impfkampagne regrediert die säkulare Gesellschaft auf das Funktionsniveau einer Theokratie, deren Priester die Erlösung durch die von ihnen angebotenen Sakramente verheißen“ (115). Ähnlich wie auch die anderen Beiträge begreift Czycholl die psychischen und sozialen Regressionen im Corona-Ausnahmezustand am Ende als Symptome einer „Störung des gesamten Systems“ (117), die in ihnen nur manifest geworden sind – und nun dringend, wie dem Autor beizupflichten ist, auch bewusst gemacht werden müssen, wonach es gesamtgesellschaftlich, wenig verwunderlich, so gar nicht aussieht. Wo Verdrängung herrscht, droht aber die Wiederholung.
An die Ausmaße, welche diese Regression während Corona nicht nur auf psychischer Ebene, sondern auch auf dem Gebiet ihrer ‚sozialwissenschaftlichen‘ Deutung und ihrer medialen Forcierung angenommen hatte, erinnern sodann eindringlich die beiden Beiträge: Verschwörungsangst und Viruswahn (123-148) von Alan Schink und Dynamik des Hasses: Zur Metamorphose der Medien unter dem Corona-Regime (149-172) von Ortwin Rosner.
Schink zeigt, dass mittels einer aggressiven „Psychopathologisierung“ (124) der Maßnahmenkritiker, die Kritik selbst psychopathologisiert wurde, um sie effektiv zu bekämpfen. Die eigentliche Stärke seines Beitrags liegt jedoch darin, zu zeigen, dass der „anti-verschwörerische Diskurs“ (128) genau von jenen psychischen Mechanismen angetrieben wurde, welche den Anderen pauschal unterstellt werden: Angstverdrängung, Autoritarismus, Aggression, (antisemitische) Sündenbocksuche etc. (vgl. 128-130). Die „Virusangst“ der Einen sei daher wesentlich ein „Komplement der Verschwörungsangst“ der Anderen, wobei sich beide gegenseitig durch „manifeste Angstkommunikation“ (130) hochgeschaukelt hätten. Die herrschenden Medien und die sich militarisierende Sprache der Politik haben entschieden zur Eskalation beigetragen, während Zensurversuche bezüglich realen oder vermeintlichen Verschwörungsdenkens dasselbe auch noch befeuerte (vgl. 138-145). Die Politik setzte eine einzige Angst als legitim und steigerte sie zur Panik, die sich am vermeintlichen Schuldigen abreagieren durfte: Die „Virusangst“ ist „für die paranoide Subjektposition in der Pandemie sinn- und strukturgebend. Gleichzeitig werden in der Pandemie Verschwörungstheorien bzw. ihre Verbreiter bekämpft wie Viren, und in diesem Sinne verschiebt sich die Angst ganz real.“ (142) In der Tat wurde und wird wohl seit Corona kein Begriff derart politisch missbraucht, verkehrt, ja entehrt wie der der Verschwörungstheorie. Die Kritik der Verschwörungstheorie ist zur – eigentlich recht durchsichtigen – Waffe der De-Legitimation von Kritik überhaupt verkommen, die, schlecht hegelianisch, die herrschenden Verhältnisse mit realisierter Vernunft identifiziert, und materielle, interessengeleitete Realpolitik mit ihrer ideologischen Selbstverklärung (bewusst) verwechselt. Die Ausführungen hätten daher gerne noch weiter über die Parallelität von Virus- und Verschwörungsangst hinaus dahingehend vertieft werden dürfen, welche politische Funktion die Kritik der Verschwörungstheorie mittlerweile erfüllt und welche hanebüchenen normativen Setzungen und gesellschaftstheoretischen Annahmen ihr zugrunde liegen; auch hätte man bei den Hinweis auf den Thinktank CeMaS (vgl. 144) wenigstens kurz auf die Agitation von Pia Lamberty hinweisen können, die ganz maßgeblich zur Popularisierung einer affirmativen Pseudo-Kritik der Verschwörungstheorien beigetragen hat. Das ist nicht als Kritik an den Ausführungen von Schink zu verstehen, die geistig sehr anregend sind und schlicht einer anderen Frage nachgegangen sind. Die Anmerkungen sollten nur verdeutlichen, wie wichtig eine Auseinandersetzung mit der (Pseudo-)Kritik an Verschwörungstheorien ist, stellt diese doch ein neues Dogma der herrschenden politischen Ideologie dar.
Wie heftig die Medien sich radikalisierten und den Diskurs gleichermaßen verengten und eskalierten, ruft der Beitrag von Rosner eindringlich ins Gedächtnis. Während noch Anfang 2020 die Medien, der Politik folgend, auf Beschwichtigungskurs waren, bereits aber alles möglich als Verschwörungstheorie abkanzelten, was sich in kürzester Zeit bewahrheiten sollte (vgl. 149-152), folgte im Frühjahr ein historisch beispielloser Umschwung in der Medienwelt. Die großen privaten Mainstream-Medien wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk schalteten sich auf Regierungskurs gleich, entfachten Panik und zielten vor allem auf die mediale Ausschaltung jeder Maßnahmenkritik. Was sich etablierte, war „Hatespeech der Leitmedien“ (161), die einen „immer gnadenloser und auch immer irrationaler werdenden diskursiven Krieg (156) führten. Ihre Waffen waren Selektivität der Berichterstattung, Bildung falscher Assoziations- und Dissoziationsketten (vgl. 155), die Nicht-Zusammenhängendes zusammenzwingen, gleichzeitig jedoch wesentliche Zusammenhänge verschweigen, „[e]xtremistische Rhetorik“ (162) und propagandistische Kampfbegriffe, wie etwa dem des Verschwörungstheoretikers. Diese Propaganda-Formeln ersetzen inhaltliche Argumentation, weil mit ihnen vermeintlich immer schon alles gesagt ist (vgl. 165) und die Kritiker schlicht mundtot gemacht werden sollen. Das Ganze gipfelte dann im Winter 2021/22 in einem „Sündenbockdiskurs, den man eine gewisse Ähnlichkeit zu Denkformen des Nationalsozialismus und auch des Stalinismus nicht absprechen kann.“ (166) Wenn der Autor dann auch noch auf direkte Zensurversuche, staatliche Einflussnahmen auf die Medien und Hetzkampagnen gegen einzelne Personen (wie Ulrike Guérot) verweist, wird deutlich, dass die großen (privaten wie öffentlichen) Medien in einem solchen Maße zu ihrer nachhaltigen Auto-Delegitimation und zu einem massiven Vertrauensverlust in die propagandistisch begleitete Politik beigetragen haben, wie es echte Verschwörungsspinner niemals vermocht hätten.
Der nächste Beitrag Biopolitik und Subjektdispositive im Zeichen von Covid-19 (173-193) von Ada Frankiewicz war für mich, ein wenig überraschend, der gewinnbringendste des ganzen Bandes – vielleicht gerade, weil er mit einer theoretischen Perspektive – einer materialistischen, nicht postmodern verhunzten foucaultianischen Machtanalyse – aufwartet, die eher nicht die meinige ist. Frankiewicz skizziert, wie die Corona-Maßnahmen Teil der Produktion neuartiger Subjektdispositive waren, deren Genese „parallel zur Herausbildung der neuen Stufe der Kapitalakkumulation verläuft.“ (176) Jene überwinden die alte, starre Subjektvierung der klassischen Moderne, befreien jedoch nicht das Subjekt. Die Herrschaft dringt vielmehr noch tiefer in dieses ein, erfasst noch mehr die gesamte Lebensführung und bestimmt die vollends zu sich selbst vermarkteten Waren gewordenen Menschen daher in anderer Form, nicht aber in einem geringeren Ausmaß heteronom (vgl. 177-180, 192f.). Ein Wandel, der gerade von jenen progressiven Milieus einseitig als Fortschritt begrüßt wird, die von ihm sozial profitieren und daher nicht zufällig auch Feuer und Flamme für die staatlichen Corona-Maßnahmen waren (vgl. 188 f.): „Die Überwachung in Permanenz“ wird von diesen „nicht als Bedrohung wahrgenommen, sondern die Wechselwirkung mit diesen“ Techniken der (Selbst-)Überwachung „macht diese Subjekte wesentlich aus. Und dazu gehört nicht nur die permanent kontrollierende und quantifizierende Selbstbeobachtung, sondern auch die Beobachtung aller anderen im Sinne eines partizipativen Panoptikums“ (188). Hieraus erkläre sich auch der Hass der ‚Solidarischen‘ auf jene, die nicht mitmachen, stellen diese „damit doch das Sein dieser neuen Subjekte in Frage.“ (189) Die staatlichen Corona-Maßnahmen selbst deutet Frankiewicz als „radikalisierte[n] Biopolitik im Ausnahmezustand“ (181). Dieser wurde politisch genutzt, um „neue machtförmige Zugriffe auf die Subjekte“ (181) zu installieren, so etwa im Bereich der digitalen Überwachung der Bürger, des entgrenzten medizinischen Zugriffs auf den Einzelnen und der Generierung, Erfassung und Monopolisierung von Daten, die das „neue Öl“ (183) des sich derzeit herausbildenden digital-biotechnologischen Kapitalismus sind (vgl. 181-187, 191 f.). Diesem entsprechen gleichermaßen ein neues, keineswegs gewaltärmeres Subjektdispositiv und Ideal vom Menschen, wie er durch den immer weitergehenden technologischen und politisch-rechtlichen Zugriff auf „Subjekt und Natur“ (191) im Interesse ihrer Beherrschung und In-Wertsetzung gekennzeichnet ist. Die staatliche Coronapolitik wirkte eindeutig in diese Richtung, war Probemaßnahme wie realer Vorstoß, in Teilen abstrus, immer im zerklüfteten Feld sozialer und politischer Macht umkämpft, in ihrer Stoßrichtung aber eindeutig – und sicher kein gutes Zeichen für die Zukunft.
Nicht wirklich überzeugen kann der Beitrag Inkompetenzgesellschaft – Konturen einer Zeitdiagnose
(195-218) von Kurt B. Uhlschütz. Sicherlich war das Ausmaß der Irrationalität und Inkompetenz der staatlichen Corona-Politik und ihres gesellschaftlichen Supports erschreckend – und auch kein Einzelfall, wie sich zeigt, wenn man, wie es der Autor tut, den Blick noch auf weitere gesellschaftliche Entwicklungen lenkt (vgl. 202-209). Allerdings begreift sich nahezu jede Gegenwart als Zeit des Verfalls. Dadurch wird diese Klage nicht per se verkehrt. Selbstredend gibt es in der Geschichte Verfallsepochen und in der Tat häufen sich die Anzeichen dafür, dass sich der kapitalistische Westen in einem historischen Niedergang befindet. Dennoch scheint mir die Kategorie einer um sich greifenden Inkompetenz als Resultat einer „[a]nthropologischen Revolution“ (212), die systematisch Konformismus und Schwächung kritischer Urteilskraft produziere, nicht viel zur Erklärung beizutragen; ähnliche vage Diagnosen wurden im Übrigen schon vor über 75 Jahren von Horkheimer/Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung vorgetragen.6 Überzeugender bleibt dann doch die klassische krisentheoretische Erklärung, die (a) auf die Irrationalität des Gesamtzusammenhangs und ihrer Mitglieder, (b) die sich zuspitzende ökonomische Krisendynamik und (c) die sich hieraus ergebende Schrumpfung des politischen Handlungsspielraums verweist; so Übrigens auch die Argumentation der Einleitung (vgl. 15). Aus dieser Gemengelage ergeben sich hinreichend genügend objektive Voraussetzungen für die Produktion politischer Desaster, ohne dass man auf eine doch recht fragwürdige Spekulation eines allgemeinen Zuwachses an Inkompetenz zurückgreifen müsste, für den man fraglos reichlich Beispiele aus dem gesellschaftlichen Alltag anführen kann, der an sich aber doch eher wenig erklärt.
Der vorletzte Beitrag ‚Kontraproduktiv‘ und ‚todfeindlich‘. Zur Aktualität von Ivan Illichs ‚Nemesis der Medizin‘ angesichts der Corona-Krise (219-238) von Silja Samerski erinnert an eben diesen Klassiker der Medizinkritik, der auch von anderen linken Kritikern der staatlichen Corona-Kritik immer wieder zitiert wird. Mit Illich macht Samerski auf den wichtigen Tatbestand aufmerksam, dass die Pandemiepolitik nicht so sehr Abweichung von der Norm, als vielmehr der konsequente Ausdruck der medizinischen Logik selbst gewesen ist: ein an sich bereits totalitärer Krieg gegen Krankheit und Tod mit entsprechenden Institutionen und entmündigten Patienten (vgl. 236). Auf der einen Seite führt die Logik der Medizin dazu, hat sie sich einmal das „Feld der Gesundheit“ (227) erobert, die „Gesellschaft zum Krankenhaus“ (Illich) zu transformieren und somit den Einzelnen einem „Präventionsregime“ (230) zu unterwerfen, in dem die rechtstaatlichen Prinzipien aufgehoben sind. Zum anderen verwandelt die moderne Medizin die Gesundheit nicht nur in eine Ware. Sie beruht zudem auf der Hybris totaler Naturbeherrschung mittels Technik (vgl. 231-236). Sie verdrängt den Tod und negiert zugleich durch das biopolitische Primat des Allgemeinen (Volksgesundheit) die leibliche Erfahrung des Einzelnen und das je besondere Leiden, das Objekt medizinisch-technologischer Verwaltung wird. Angesichts einer Linken, die keine Dialektik der Aufklärung kennt und Gesundheit völlig affirmativ allein durch den pharmakologischen und gerätemedizinischen Blickwinkel betrachtet, ist diese Erinnerung an Illichs Nemesis der Medizin hochaktuell. Wer meint, dass es der Aufklärung dient, sich im positivistischen Geist Überdosen an homöopathischen Globuli zum Heil der naturwissenschaftlichen Medizin reinschütten zu müssen, sich über deren herrschaftsförmig-beschränkte Rationalität und kapitalistische Ausrichtung aber zugleich ausschweigen zu können, ist von rationaler Gesellschaftskritik (des medizinischen Systems) so weit entfernt, wie jene Esoteriker, die den Krankheiten bestenfalls mit allerhand Scharlatanerie zu Leibe rücken wollen, schlimmstenfalls als natürliches Schicksal verklären: „Klar sind die Fronten geschieden; wer gegen Hearst und Göring kämpft, hält es mit Pawlow und Vivisektion, wer zögert, ist Freiwild für beide Seiten.“7
Der den Sammelband abschließende Beitrag Babyelefant geht. Zoonose bleibt? Oder: Das Schweigen der Fledermäuse (239-266) von Alexa Lichtaus ist ein – wie schon der Titel anklingen lässt – etwas mäandernder Beitrag über die Frage der Herkunft des Covid-19 Virus. Lichtaus zeichnet sehr interessant die Geschichte nach, wie dieser Frage (nicht) nach gegangen wird. Dass sie selbst nicht zu einer Beantwortung der Frage kommt, ist wenig überraschend. Wichtiger ist wohl auch, schlicht daran zu erinnern, was es alles an biotechnologischer, stets mit dem militärisch-industriellen Komplex verbundener Forschung gibt, welche Gefahren diese aufweist und welche „Naturbeherrschungsphantasien“ (262) dieser zugrunde liegen, die gerade die progressiven Science-Follower völlig unreflektiert reproduzieren und auch noch auf die Politik ausweiten, wo sie in autoritäre Sozialtechnologie transponiert werden: „Welche Naturbeherrschungsphantasien verbergen sich hinter dem Umgang mit Viren bzw. auch im Versuch, den Klimawandel unter Kontrolle zu bringen? Wie wird beides genützt, um Menschen und andere Lebewesen einer bis dato einzigartigen Überwachung zu unterwerfen? Und warum werden diese Fragen so wenig gestellt?“ (265)
Alles in allem haben wir es bei Schwerer Verlauf mit einem instruktiven, erfreulich pluralistischen Sammelband linker Ansätze zur Analyse und Kritik der staatlichen Corona-Politik und ihrer gesellschaftlichen Grundlagen und Folgen zu tun. Einige Aufsätze rufen nochmals in Erinnerung, welche Ausmaße die, mit politisch-medialen Mitteln ausgelöste gesellschaftliche Hysterie und der politische Autoritarismus angenommen hatten: wie viele politische und gesellschaftliche Dammbrüche stattgefunden haben, die der politischen und gesellschaftstheoretischen Aufarbeitung harren. Hierzu einen wichtigen linken, in Teilen auch diskussionswürdigen Beitrag zu leisten, ist dem Sammelband und seinem Herausgeber hoch anzurechnen.

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1 Es wird diesbezüglich u.a. auf das Buch der Wirtschaftshistorikern Komlosy, Andrea: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft, Wien 2022 verwiesen, welches Joachim Hirsch, einer der wenigen verbliebenen links-sozialistischen Kritiker des Corona-Staats, am 5. Mai 2023 (positiv) besprochen hat. Vgl. Hirsch, Joachim: Corona und der kypernetische Kapitalismus. Online: http://wp.links-netz.de/?p=598″>http://wp.links-netz.de/?p=598″> http://wp.links-netz.de/?p=598

2 Unter dem Stichwort der ‚Todeskrise‘ diskutierte schon in 1920ern die rätekommunistische Fraktion der Arbeiterbewegung den vermeintlich zwingenden Zusammenbruch des Kapitalismus. Vgl. Korsch/Mattick/Pannekeok: Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus oder revolutionäres Subjekt, Berlin 1973. Siehe in diesem Zusammenhang auch die klassische Studie von Grossmann, Henryk: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (Zugleich eine Krisentheorie), Leipzig 1929.

3 Vgl. zum Niedergang des Dollars auch die jüngst publizierten Ausführungen von Urban, Andreas: De-dollarization und das Ende von US-Weltmacht und Weltgeld. Online: https://wertkritik.org/beitraege/urban-de-dollarization

4 Der Herausgeber Andreas Urban hat den Ansatz von Vighi selbst einer dezidierten, m.E. zwingenden Kritik unterzogen. Vgl. Urban, Andreas: Kapital im Katastrophenmodus Bemerkungen zu Fabio Vighi und seinen Thesen eines ‚emergency capitalism‘. Online: https://wertkritik.org/beitraege/urban-kapital-im-katastrophenmodus. Es spricht für den – von mir ausdrücklich begrüßten – Willen zur Pluralität, dass Urban dennoch einen Aufsatz von Vighi in den Sammelband mit aufgenommen hat.

5 Von dem Autorenduo stammt bereits folgender ausführlicher Aufsatz, der auch dem Buchbeitrag zugrunde liegt: Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Online in zwei Teilen: https://wertkritik.org/beitraege/corona-als-krisen-symptom-teil1 und https://wertkritik.org/beitraege/corona-als-krisensymptom-teil-2″>

6 Vgl. zur Regression des Denkens besonders die VI. und VII. These aus ihren Elementen des Antisemitismus in Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Max Horkheimer Gesammelte Schriften Bd. 5, 3. Aufl. Frankfurt/M. 2003, S. 217 ff.

7 Ebd., S. 286.

Diskussion zu den Büchern
Schwerer Verlauf und Corona als gesellschaftliches Verhältnis

mit Andreas Urban und Karl Reitter

13. 11. 2023, 19.00 Uhr
„Das freie Wort“, Rögergasse 24-26, 1090 Wien