Der Rechtshegelianer

von Franz Schandl

Aufgewachsen ist der 1968 geborene Herbert Kickl als Kind einer Arbeiterfamilie in der Kärntner Industriegemeinde Radenthein. Später studierte er Philosophie und schrieb an einer Diplomarbeit über Hegels „Phänomenologie des Geistes“. „Die wunderbare Dialektik von Hegel hat fast etwas Spielerisches, ganz was Leichtes“, sagte er der Zürcher Weltwoche im Sommer 2019. Und die Kronen Zeitung ließ er in einem Interview wissen: „So ist das dialektische Prinzip Hegels ein Teil von mir geworden, ich habe es verinnerlicht, es wurde zu einer Konstante in meinem Leben.“

Mitte der Neunziger hat ihn Jörg Haider so fasziniert, dass er aus dem Studium in die Politik wechselte. Lange stand er in der FPÖ allerdings in der zweiten Reihe, gehörte weder zu Haiders aufgeputzter Buberlpartie noch kam er aus den schlagenden Burschenschaften, die vor allem die oberen Ränge des Parteiapparats besetzen. Letzteres sei nicht unbedingt seine Welt, ließ er einmal verlauten. Kickl wurde jedenfalls Haiders Adlatus, auch sein Redenschreiber, einige markige Sprüche sind von ihm, so bezeichnete er nach den Sanktionen gegen die erste Regierungsbeteiligung der FPÖ 2000 unter Wolfgang Schüssel (ÖVP) den damaligen französischen Präsidenten Chirac als „Westentaschen-Napoleon“. Später sind ihm griffige Formeln und Wahlslogans wie „Daham statt Islam“ eingefallen, oder: „Mehr Mut für unser Wiener Blut“, wahrliche Lowlights angewandter Lyrik. Als Haider in einer Mischung aus Größenwahn und Depression 2005 die Partei spaltete und das „Bündnis Zukunft Österreich“ gründete, zog Kickl nicht mit, sondern konsolidierte mit Heinz-Christian Strache die verbleibende FPÖ.

Anders als seine Vorgänger Haider und Strache ist der Herbert ein Asket, kein Gierschlauch und kein Hasardeur , so etwas wie Ibiza könnte ihm nie passieren, auch kein Autounfall im Vollrausch. Da ist er einfach zu intelligent und zu berechnend. Seinen Kick holt Kickl sich beim Klettern. Und wahrscheinlich auch bei seinen Auftritten, denn zweifellos gehört er zu den besten und schärfsten Rednern des österreichischen Nationalrats. Er sagt viel Dummes, aber es ist nicht alles dumm, was er sagt.

Bisher war die FPÖ vor allem als ausländerfeindliche Bewegung in Erscheinung getreten. „Festung Österreich“ lautet das neue alte Schlagwort. Auch als Autofahrer-Partei war sie über viele Jahre verhaltensauffällig. Die „Klimaterroristen“ genannten Klimaaktivisten sollte man, sofern sie sich ankleben, am Besten gleich einsperren. Eine Forderung, die übrigens auch von Teilen der ÖVP zu hören ist. Natürlich steht Kickl am rechten Rand des politischen Spektrums. Aber das darf nicht dazu führen, zu übersehen, dass die Partei mittlerweile breit aufgestellt ist. Die eifrige Dechiffrierung rassistischer oder antisemitischer Essentials greift (wie schon immer) zu kurz, um diese Strömung adäquat zu erfassen. Wer die FPÖ darauf reduziert, analysiert dürftig.

In gar nicht so wenigen Fragen repräsentiert sie heute entweder die Stimmung der Mehrheit oder die einer großen Minderheit, die jeweils weit über ihr angestammtes Potenzial hinausreicht. Neben Asyl und Auto wäre etwa auch die Pandemie zu nennen, die Haltung gegenüber Putin, die österreichische Neutralität, die Genderdebatte. Sanktionen gegen Russland lehnt Kickl dezidiert ab, vehement verteidigt die einstige Pro-NATO-Partei nunmehr die österreichische Neutralität. So wildern die Freiheitlichen inzwischen auch in Gebieten, die man eher als Terrain der Linken eingeschätzt hätte. Doch die gibt es in Österreich nicht in nennenswertem Umfang.

Sowohl in ihrer beharrlichen Kritik der Corona-Maßnahmen als auch bezüglich des Ukraine-Kriegs positionierte sich die FPÖ entschieden gegen den öffentlichen Mainstream. „Und die Schwurbler hatten doch recht…“, lässt Kickl nun selbstbewusst in Zeiten der auslaufenden Pandemie plakatieren. Methodisch versucht er einmal mehr einen negativen Begriff positiv umzupolen. Und das gelingt vorzüglich. Insbesondere weil er den Angriffen offensiv begegnet und gar nicht erst meint, sich verteidigen oder entschuldigen zu müssen. Schon den Populismus-Vorwurf hat man in ein Kompliment transformiert und somit völlig desavouiert. Aktuell liegt der spröde Kickl sowohl im Ranking des beliebtesten als auch des unbeliebtesten Politikers auf Platz Eins.

Von der blanken Hetze bis zur seriösen Kritik zieht einer hier sämtliche Register. Und während der Mainstream, idealtypisch vertreten durch Alexander Van der Bellen nicht einmal ahnt, dass und wie er polarisiert, weiß Kickl sehr wohl, dass er das tut und wie er es einsetzt. Während die FPÖ das Feindbild-Spiel beherrscht, beherrschen es jene, die nicht wissen, dass sie es ebenfalls spielen, nicht. Strategische Kompetenz und taktisches Geschick ist Herbert Kickl nicht abzusprechen. Die Gesamtkonstellation ist für die FPÖ so günstig wie noch nie. Das zeigte auch die Landtagswahl am letzten Sonntag in Niederösterreich, einem Flächenland, wo sich die FPÖ früher immer sehr schwergetan hat. Da hat die ÖVP fast 10 Prozent verloren, und auch die SPÖ ihr schlechtestes Wahlergebnis nach 1945 eingefahren. Die FPÖ hingegen hat über 9 Prozent zugewonnen und kratzt an der 25 Prozent-Marke.

Der Cordon sanitaire wird zusehends löchrig und immer wieder erstaunt, wer da aller in den Tross der FPÖ wechselt bzw. ihr jetzt schon heimlich zuarbeitet. Die äußeren Projektionsflächen der medialen Apparate und ihr Untergrund sind eben alles andere als deckungsgleich. Viele halten sich bedeckt. Aber es köchelt. Derweil sollte man gar nicht überrascht sein, sondern vielmehr die Logik dieser Entwicklung genauer unter die Lupe nehmen. Denn wer überrascht ist, gibt auch zu verstehen, dass er oder sie mit diesem oder jenem Ereignis partout nicht gerechnet hätte. Doch derlei Vorkommnisse werden sich häufen, vor allem, wenn die Zuwächse der FPÖ weiter anhalten. Dagegen spricht zur Zeit nichts. Die FPÖ wird zusehends wählbarer.

Das Schlimme ist, dass die FPÖ von sich selbst eine realistischere Einschätzung hat als ihre Gegner. Es scheint als könnte man bloß noch auf den nächsten Fehltritt warten. Mittlerweile entwickelt sich aber nicht einmal mehr der vermeintliche Griff in öffentliche Kassen, etwa die Mega-Abzocke der steirischen Landespartei, zu einem bundesweiten Skandal. Das tangiert lediglich marginal. Der FPÖ ist gelungen, dass sie weitgehend immun ist. Skandalisierung ist zu einer stumpfen Waffe geworden. Keine Affäre wird die FPÖ umbringen. Was ankommt, ist, dass die Kickl-Partei derzeit die einzige ist, die wenig zu vorauseilendem Gehorsam und obligaten Unterwerfungsgesten neigt. Sie weigert sich konsequent den Kotau vor den etablierten Medien zu machen. Und das kommt gut an, nicht nur im eigenen Lager. Reale Distanz und relative Autonomie wirken als Surplus und Herbert Kickl erscheint aktuell als dessen Mastermind.