Zwischenspiel in Türkis

von Franz Schandl

Sie regiert in den meisten Bundesländern. Sie stellt die meisten Bürgermeister. Von 1945 bis 1970 kam der Kanzler aus ihren Reihen. Auf den Österreich zustehenden EU-Kommissar hat sie sowieso ein Abo. Seit 35 Jahren sitzt sie nun schon ununterbrochen auf der Regierungsbank. Opposition hält diese Formation nicht aus, widerspricht ihrem Naturell, das mit Ämtern und Funktionen eng verwoben ist. Sie sind der Nektar ihrer Macht. Überall, von oben bis ganz unten sitzen „ihre Leute“. Die stickige Atmosphäre der Nachkriegszeit ist jedenfalls primär mit ihrem Namen verbunden. Die Rede ist von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), die 1945 als Nachfolgepartei der Christlichsozialen gegründet worden ist. Tatsächlich verstand und gerierte sie sich über Jahrzehnte nicht nur als Staatspartei, sondern wie ihr Name sagt als die Partei des Volkes.

Trotzdem hatte die Partei zwischendurch nicht viel zu lachen. Niederlagen pflasterten ihren Weg. Die alte Stammwählerschaft ging zusehends verloren. Aus dem kontinuierlichen und scheinbar unabwendbaren Abstieg hat erst Sebastian Kurz die ÖVP herausgerissen. Kurzfristig ist es ihm und seinen jungen Mitstreitern sogar gelungen, aus der Volkspartei wirklich eine Partei zu machen. Bis dahin war sie bloß eine Dachorganisation von Landesorganisationen und Bünden (Arbeiter- und Angestelltenbund, Bauernbund, Wirtschaftsbund, Seniorenbund etc.-). Die galt es auszutarieren, was mitunter schwierig gewesen ist. Viel Kraft musste für interne Zwistigkeiten verwendet werden. Energie, die oft in der Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern fehlte.

Doch Kurz ist Geschichte. Mittlerweile kräht kein Hahn mehr nach ihm. War da was? Bereits in einigen Jahren werden die meisten nicht mehr wissen, was da und wer das gewesen ist. Und tatsächlich, man wüsste nicht, worauf man verweisen könnte. Das Phänomen ist verpufft. Da ging es dem Wunderwuzzi nicht viel besser als seinem ehemaligen Vize, den auf Ibiza verunglückten Heinz-Christian Strache (FPÖ). Die Nullnummer und die Lachnummer sind definitiv Geschichte. Die „Leuchtrakete“ (ÖVP-PR) ist ausgebrannt. Die von Kurz lukrierten Stimmen waren konjunktureller Natur. Wie gewonnen, so zerronnen. Da war kein Fundament, keine Substanz, da war nichts. Niemand weint dem „Jahrhunderttalent“ (ÖVP-PR) nach. Was als Ära geplant gewesen ist, erwies sich als Zwischenfall.

Solche Intermezzi sind freilich chronisch geworden. Von der alten Langeweile des öffentlichen Betriebs ist nichts übrig geblieben. Politik ist nicht nur kurzweilig, sie ist, zumindest in der Alpenrepublik, richtiggehend rasant geworden. Wir leben zusehends in einer Übergangszeit der Episoden. Diese gleichen politischen Telenovelas, die man sich, ist man unverdrossen genug, reinzieht. Hatte man vor einer Generation noch das Gefühl, dass sich gar nichts tut, so glaubt man inzwischen, dass überhaupt nichts mehr zur Ruhe kommt – auch wenn sich nichts wirklich bewegt. Eingeflochten in den immerwährenden medialen Theaterdonner, hechelt die politische Besetzung von Event zu Event, von Talk-Show zu Interview. Die Aufregung steigt und die Reflexion sinkt.

Meinungsumfragen – zum Teil bestellt und manipuliert – waren es, die Sebastian Kurz an die Spitze von Partei und Staat pushten und Wahlerfolge, die ihn dort hielten. Ein Land war entzückt und entzündet. Sebastian war eine Projektion. Doch nun ist der Projektor abgeschaltet und die Projektion dahin. Die Fans sind enttäuscht und abgezogen. So eine Chance und dann das. Kurz erwies sich so nicht als der Glücksfall, als der er gestern noch gegolten hat. Noch im August 2021 ließ er sich an einem Parteitag abfeiern. Drei Monate später war er weg. Nicht nur fast weg, sondern ganz weg. Seine Mentoren in den Bundesländern haben ihn fallengelassen als sie die Brisanz belastender Chats erkannten und auch sahen, dass dem Chef jahrelange Verfahren und Anklagen drohen. Vor die Entscheidung gestellt, ob Kurz gehen soll oder die Regierung flöten geht, war klar wie die Entscheidung ausfallen würde. Schließlich wollte man das Kanzleramt retten und nicht in die Opposition abgeschoben werden.

Sebastian Kurz hatte weder eine Botschaft noch eine Sendung, auch wenn er mit seinen Botschaften dauernd auf Sendung gewesen ist. Denn er verstand sein mediales Handwerk ganz blendend, ja er wurde sogar immer besser, gab sich diesbezüglich kaum Blößen. Nichts so gekonnt zu sagen, ist freilich auch eine Kunst, ja heutzutage ein politisches Vermögen. Akzente setzt diese Politik keine. Betreffend Migration hat man ungeniert die Inhalte der ausländerfeindlichen FPÖ übernommen. International steht man treu zur USA und trotz Neutralität zur NATO, die Europäische Union ist sowieso sakrosankt. Auf Interviews getrimmte ÖVP-Ministerinnen betonen immer wieder „glühende Europäerinnen“ zu sein.

Eigenständig an Kurz war gar nichts. Kein Anflug an Originalität streifte den Mann. Seine Reden zur Lage der Nation sind Makulatur. Sie strotzen von typischen Sprüchen, die Politiker halt aufsagen: Werte anrufen, Wirtschaft ankurbeln, Standort sichern, Digitalisierung vorantreiben, Klimawandel aufhalten; nachhaltig ist man sowieso und gendern tut man auch. Mit den Grünen hat man sich auf die Formel der ökosozialen Marktwirtschaft verständigt. Eine k24FVJlassisch rechte Partei ist die ÖVP aber nicht mehr, sie hat sich doch in den letzten Jahren liberalisiert, auch in gesellschaftspolitischen Fragen. Mit konservativer Hegemonie hat ihre Vorherrschaft also wenig zu tun, eher mit einem liberalem Eintopf, wie er gegenwärtig fast überall serviert wird.

Insbesondere aber ging es um die performative Leistung. Die Anhängerschaft war konditioniert auf die Strahlkraft des Helden. Früher brauchte man derlei weniger, weil die Wählerschaft in Lager eingeteilt gewesen ist, die sich auch entsprechend verhielten. Heute haben wir es immer mehr mit amorphen Massen zu tun, die sich recht beliebig zusammensetzen und oft nur kurzen Bestand haben. Postmoderne Anhänglichkeit ist nicht zählebig sondern schnelllebig, mal da, mal dort, mal irgendwo, mal nirgendwo. Auch wählen die Enkel, sofern sie überhaupt wählen, nicht unbedingt das, wofür die Großeltern votierten. Der Aufbau einer substanziellen Wählerschaft ist schwierig, zuletzt ist das Bruno Kreisky (SPÖ) und ansatzweise Jörg Haider (FPÖ) gelungen.

Sebastian Kurz als „Donau-Claudillo“ oder gar „Baby-Hitler“ zu beschreiben, führt in die Irre. Er hatte gar nichts von einem schweren Burschen. Die Operationen, die er setzte, ermöglichte, veranlasste oder zuließ waren nichts Außergewöhnliches. Für die Clique um Kurz war der eigene Vorteil stets die Hauptsache. Ganz primitiv ging es um Gier und Geld, um Macht und Einfluss. Dieses Spiel beherrschte die türkis lackierte Volkspartei wie die alte schwarze. Das taktische Manöver agierte allerdings ohne strategisches Kalkül und Sicherheitsgurte. Die Chancen digitalen Agierens haben sie zwar erkannt, aber dessen systemische Indiskretion sträflich unterschätzt. Das rächt sich jetzt bitter. Dieser lässige Umgang war weniger einer überbordenden kriminellen Energie geschuldet als einer Verstrickung in das ordinäre österreichische Patronagewesen. Man züchtete und sicherte sich Loyalitäten durch gezielte Protektion. Zügig vergab man Posten und Pfründe. Neu ist das nicht, neu war bestenfalls die Unverfrorenheit. Indes war die Dummheit dann doch größer als die Frechheit, da man völlig übersehen hatte, dass in der digitalen Dimension nichts verschwindet. Keine SMS, die nicht auftauchen könnte, kein Chat, der endgültig geschreddert werden kann. So prallte das „Geilomobil“ (ÖVP-PR-Jargon aus ferneren Kurz-Tagen), das auf der Siegerstraße stets das Tempo erhöhte, bei einem Überholmanöver an einen von der Staatsanwaltschaft aufgestellten Laternenmasten.

Dass Kurz wegen dieser Touren letztlich das Handtuch warf, lässt ihn als Leichtgewicht sondergleichen erscheinen. Das Zeug zum Orbán oder zum Netanjahu (den er oft als Vorbild nannte), hatte er nicht. Von Steherqualitäten keine Spur. Sebastian Kurz war vielmehr selbst ein Glücksritter, der im richtigen Moment an die Spitze gespült wurde und es sich im Erfolg dieser Woge bequem machen wollte. Doch da täuschte er sich. Seit Beginn der Pandemie etwa konnte er nicht mehr durch die Welt jetten, sondern sollte zu Hause die Gesundheitskrise schultern. Die Lust an der Macht wurde ihm laufend versalzen. Zusehends nervte ihn das alles. Bloß wenige Momente klammerte er sich an seine Funktionen. Dem ständigen Räuber- und Gendarmspiel des Investigierens hat er sich nach Übersee entzogen.

Die Nachfolger räumen den Müll weg, vor allem die diversen durch die Kurz-Company hinterlassenen Skandale (SMS-Affären, Protektion, Postenschacher), fordern größere Putztruppen. Der anstehende parlamentarische Untersuchungsausschuss lässt einiges an Ungemach erwarten. Vorerst leckt man die Wunden und versucht sich in Schadensbegrenzung. Ansonsten ist die alte Hackordnung in der ÖVP (Länder-Bünde-Parteizentrale) wieder hergestellt. War da was? Der Aufbruch erwies sich als Schein. Die ÖVP ist wieder dort, wo sie vor Kurz gewesen ist. Die Erosion der schwarzen Regimenter wurde durch diesen kurzen türkisen Frühling nur unterbrochen.

Karl Nehammer, der neue Mann an der Spitze von Partie und Regierung, probiert es mit einem Imagewechsel. Der ehemalige Parteisekretär und Innenminister, vormals Kurzens Grobian, der schon mal mit der Flex die Infektionskette durchschneiden wollte und Maßnahmenkritiker als „Lebensgefährder“ titulierte, will nun partout auf diese zugehen und aktuell als moderater Befreier von der Pandemie sein Glück versuchen. Ob das aufgeht, ist fraglich. Letztes Wochenende setzte es eine herbe Niederlage bei den Gemeinderatswahlen in Tirol. Und zwar nicht gegen die klassischen Konkurrenten SPÖ, FPÖ oder Grüne, sondern gegen die impf- und maßnahmenkritische Liste MFG (Menschen-Freiheit-Grundrechte). Die konnte in 51 Gemeinden zur Wahl antreten und respektable Ergebnisse oft jenseits der 10 Prozent erzielen.

Gekürzte Fassung in Freitag (Berlin), Nr. 9, 3. März 2022