Tilman Tarach: Teuflische Allmacht (Rezension)

Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Edition Telok: Berlin/Freiburg 2022, 224 S., 14,80 €

von Hermann Engster

„Der christliche Judenhass war zwar schlimm“, so geben die Kirchen notgedrungen zu, „aber erst richtig furchtbar war der Antisemitismus der gottlosen Nazis.“ Mit dieser Lebenslüge einer Zweiteilung der Judenfeindschaft räumt Tarach gründlich auf. Er hat eine fulminante Studie vorgelegt, für die er eine enorme Masse sowohl an empirischem Material als auch an Forschungsliteratur verarbeitet hat. Was in zahllosen Untersuchungen belegt ist, präsentiert Tarach in komprimierter Form: neben den Kapitalverbrechen Hunderttausender gefolterter und verbrannter „Hexen“, „Ketzer“ oder sonstiger Abweichler ist der vom Christentum zu verantwortende mörderische Antisemitismus das größte.

Tarach zeichnet dessen Geschichte nach, die schon sehr früh beginnt. Ausgehend von Jesu Diktum „Ihr habt den Teufel zum Vater und tut das, wonach es euren Vater verlangt“ (Johannes 8,44) malten schon früh sog. Kirchenväter und dann Theologen wie Luther und weitere am Feindbild der Juden als Gottesmörder.

Dazu ein kleiner Exkurs zur Erklärung, wie es zu diesem Wahnwitz kam: Jesus selbst bezeichnete sich selbst nie als Gott oder Gottes Sohn, auch nicht als Messias, sondern als „Menschensohn“, ein im damaligen Griechischen ungewöhnlicher Ausdruck, der aus dem Semitischen stammt und so viel wie „jemand wie ich“ bedeutet. Ansätze zur Vergöttlichung Jesu finden sich in aber schon in den neutestamentlichen Briefen und im späten Johannesevangelium. Auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 wurde dann die Wesenseinheit (und nicht nur die Wesensähnlichkeit) Jesu mit Gott verkündet, und weil Drei eine so schöne Zahl ist, wurde der Heilige Geist dazugesellt, (mit dem allerdings auch fromme Christen wenig anzufangen wissen).

Spätestens seit dieser geistlichen Großtat war die jüdische Kollektivschuld – bekräftigt durch die Selbstverfluchung des die Kreuzigung Jesu fordernden Mobs: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (Matthäus 27,25) – für alle Zeiten festgeschrieben und die Bestrafung der Juden bis zur Vernichtung allen frommen Christen als heilige Pflicht auferlegt. Der Rezensent selbst hat noch in seiner Jugend in der Karfreitagsliturgie „für die treulosen Juden“ (pro perfidis Iudaeis) und deren Bekehrung gebetet; heute wird auf das Attribut „perfidus“ verzichtet und die Bekehrung durch „Erleuchtung“ ersetzt, nämlich, dass die Juden endlich die Wahrheit des Christentums erkennen mögen (was sie nicht tun und damit abermals den Vorwurf der typisch jüdischen Halsstarrigkeit auf sich ziehen).

Das ist der traditionelle christliche Antisemitismus. Was aber macht seine moderne Erscheinungsform aus?

Diese „Modernität“ hat ebenfalls ihren Ursprung in einem Motiv im Neuen Testament. Dieses Motiv hat lange Zeit keine Rolle gespielt, dann aber, wenn auch erst spät, sich als ebenso folgenschwer erwiesen wie die bisherigen: das Motiv der Juden als „Strippenzieher“, die Vorstellung also, dass einflussreiche, mächtige Juden im Geheimen die Geschicke von Staat und Gesellschaft nach ihren Interessen lenken. Der Ort dieser Giftquelle findet sich wieder im Evangelium des Johannes. Der Gouverneur Pilatus, dem die theologischen Zwistigkeiten der Juden egal sind, findet keine Schuld an Jesus und will ihn freilassen. Die obersten Kleriker, die Hohepriester, aber setzen ihn unter Druck und drohen: „Wenn du diesen freilässt, dann bist du kein Freund des Kaisers“ (Joh. 19,12) – als ob der Divus Augustus Imperator, dessen Herrschaft von Ägypten bis Schottland und von Portugal bis zum Euphrat reicht, um die Meinung von eifernden Klerikern einer abseitigen und unbedeutenden Provinz sich scheren würde.

Hat dieses Motiv also lange Zeit kaum eine Rolle gespielt, so entfaltet es seine Perfidie erst im 19. Jahrhundert, also in der Zeit der sich durchsetzenden kapitalistischen Finanzwirtschaft. Die schwer durchschaubaren Kapitalmechanismen und Konkurrenzverhältnisse, die wenigen Menschen große Gewinne bescheren, den meisten aber Verlust und Armut, diese abstrakten Mechanismen werden geheimnisvollen Akteuren zugeschrieben, und wieder einmal müssen die Juden dafür herhalten. Diese waren schließlich seit dem Mittelalter die einzigen, die ein bestimmtes Geschäft betreiben durften, das Christen verboten war, nämlich Geld gegen Zins zu verleihen, und sie wurden in diesem Gewerbe auch sehr erfolgreich: die sog. Hofjuden als Finanzverwalter der Fürsten, prominentestes Beispiel Jud Süß Oppenheimer am Hof des Herzogs von Württemberg; und später die für die kapitalistische Ökonomie immer bedeutsamer werdenden Bankiers, von denen Rothschild zum Oberherrn der „Zinsknechtschaft“ wird. Da aber für die Wirtschaft Kapital unentbehrlich bleibt, wird zur eigenen Entlastung der Gegensatz vom „schaffenden Kapital“ des ehrlichen Arbeiters und des im Dienst der Nation stehenden Unternehmers zum „raffenden Kapital“ des an der Börse spekulierenden Juden konstruiert.

Ein weiteres Element des modernen Antisemitismus ist die „Verwissenschaftlichung“ durch die sog. Rassenlehre im 19. Jahrhundert. Konnten Jüdinnen und Juden noch mit der christlichen Taufe sich das Entrébillet zur christlichen Gesellschaft verschaffen – Beispiel Heinrich Heine, der aber zeit seines Lebens an seinem Judentum festhielt („Ich bin zwar getauft, aber nicht bekehrt“, schrieb er einem Freund) – so saßen sie durch die pseudowissenschaftlichen Erkenntnisse der Rassenforschung in der Falle, aus der es kein Entkommen gab und deren einziger Ausgang später in die Gaskammern von Auschwitz führen sollte.

Den Nazi-Oberen war freilich durchaus klar, wie Tarach mit Zitaten belegt, dass es so etwas wie eine jüdische Rasse nicht gibt. Dennoch hielt man am Rassebegriff fest, weil er propagandistisch sich effizient nutzen ließ, und lieferte, allen voran Julius Streichers Hetzblatt „Der Stürmer“, die entsprechenden Karikaturen des sog. typischen Juden. Wie aber war, wenn es doch keine „jüdische Rasse“ gab, festzustellen, wer Jude war? Man machte es an der Religionszugehörigkeit fest. Die Kirchen stellten bereitwillig ihre Taufregister zur Verfügung, wodurch zum einen der begehrte Ariernachweis ausgestellt werden konnte, zum andern aber auch die zum Christentum konvertierten Jüdinnen und Juden zur späteren „Sonderbehandlung“ ausgesiebt werden konnten. Man ging mit bürokratischem Verfolgungseifer die Dokumente über Generationen hinweg durch und verstieg sich wegen der zahllosen religiös gemischten Ehen dabei zu Klassifizierungen von Voll-, Halb-, Viertel- und Achteljuden.

Auch hier war, was kaum bekannt ist, aber von Tarach offengelegt wird, die katholische Kirche vorbildhaft vorangegangen, indem sie die Tür zum Rassenantisemitismus aufstieß. Hatten die Juden laut dem Evangelisten Johannes den Teufel zum Vater, so wurden sie folglich zum Teufelsvolk dämonisiert, und schon der als heilig titulierte Kirchenvater Augustinus schrieb ihnen bestimmte Körpermerkmale zu, wenn er die Juden als „triefäugige Schar“ diffamierte; ebenso bezeichnete der ebenso heilige Hieronymus (347-420) Christen jüdischer Herkunft als „Halbjuden“ (semiiudaei).

Dies setzte sich im Mittelalter fort und erreichte im Spanien des 16. Jahrhunderts eine vorbildhafte Systematik durch den Jesuitenorden. Dieser ist der größte katholische Orden und ragt vor den anderen hervor durch Intelligenz und taktisches Geschick. Seit dem 16. Jahrhundert durfte nach seiner Ordensverfassung nur Mitglied werden, wer bis in die fünfte Generation nachweisen konnte, keine jüdischen Vorfahren zu haben. Tarach zitiert Daniel Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“, 1998), wonach die Mitgliedschaftskriterien der Jesuiten in ihrer Akribie sogar die Nürnberger Gesetze übertrafen und resümiert: „So viel zur täuschenden qualitativen Unterscheidung zwischen dem sogenannten Antijudaismus der Kirche und dem modernen rassistischen Antisemitismus.“

Zur Verbreitung des christlichen Antisemitismus trug eine entsprechende Propaganda bei. Zu den abscheulichsten Diffamierungen zählten, um nur ein einzelnes Beispiel zu nennen, die Gerüchte von Ritualmorden an christlichen Kindern, in deren Blut die Juden angeblich ihre Mazzen tunkten, gern zum Passahfest. Ein bitterer jüdischer Witz erzählt: In Frankfurt sollen Juden ein christliches Mädchen ermordet haben, der christliche Mob tobt in den Gassen, und in der Synagoge versammelt sich voller Furcht vor einem Pogrom die Gemeinde. Da stürzt der Rabbiner herein und ruft: „Ich habe eine gute Nachricht: Das ermordete Mädchen war jüdisch!“

Dieses Motiv des Kindermords heckt fort bis zu den auf sog. israelkritischen Demonstrationen gebrüllten Parolen vom „Kindermörder Israel“ – eines der vielen Klischees, die, wie Tarach zeigt, auch der islamische Antisemitismus aus dem christlichen Fundus bezieht.

So bietet der islamische Antisemitismus, dem Tarach ein eigenes Kapitel widmet, nichts Neues, im Gegenteil, er bewegt sich zumeist auf dem vulgären Niveau des „Stürmers“. Die Legende der Brunnenvergiftung taucht nun in modernisierter Fassung auf, wenn die Palästinensische Autonomiebehörde warnt, dass Israel Lebensmittel verteile, die Hormone enthielten, welche die männliche Potenz schwächten (wovor arabische Männer sich anscheinend am meisten fürchten); oder dass Israelis in arabischen Staaten krebserregende Büstenhalter verkaufen würden. Es ist offenbar möglich, sogar das Niveau eines „Stürmer“ zu unterbieten.

Ein besonders trickreiches Phänomen ist das, was Tarach als „delegierten Antisemitismus“ bezeichnet. Da Judenhass hierzulande nicht mehr offen ausgelebt werden darf, delegiert man ihn an die Akteure im Nahen Osten. Diesen Weg gehen zuweilen auch die beiden großen Kirchen, die NGOs unterstützen, von denen manche offen antizionistisch eingestellt sind, zum Boykott Israels aufrufen und den Hass gegen den jüdischen Staat schüren. Eine besonders obskure und scheinheilige Rolle spielt hier die katholische Bewegung „Pax Christi“.

Der evangelisch fundierte „Ökumenische Rat der Kirchen“ solidarisierte sich mit dem 2009 von christlichen Palästinensern verfassten „Kairos-Palästina-Dokument“. Darin stehen viele schöne und sicher auch ehrlich gemeinte Worte zu Liebe und Frieden, aber auch Aufrufe zur Pflicht der Christen zum Boykott Israels und zur Solidarität mit den Palästinensern, die auch Selbstmordattentätern gilt, denn, so wird im Text erklärt: „Wir haben Hochachtung vor allen, die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben.“ Diese Nationalhelden, postum zu Märtyrern samt Paradiesgarantie verklärt, haben in Israel mit ihren Sprenggürteln vollbesetzte Busse und ganze Hochzeitsgesellschaften massakriert – Massenmorde, die seit der Errichtung des Sicherheitszauns durch Israel nicht mehr geschehen sind.

Zurück zu Europa! Tarach räumt endgültig auf mit der kirchlichen Legende, dass die industriell betriebene Vernichtung der Jüdinnen und Juden ein Werk der „gottlosen Nazis“ gewesen sei. Eine von Johannes Paul II. eingesetzte Kommission kam nach langer zäher Arbeit schließlich zum erwünschten Ergebnis: „Die Shoah war das Werk eines typisch neuheidnischen Regimes. Sein Antisemitismus hatte seine Wurzeln außerhalb des Christentums.“

Das Gegenteil ist der Fall: Hitler gehörte bis zu seinem Ende der katholischen Kirche an, er betonte immer wieder – Tarach belegt das mit zahlreichen Zitaten – die zentrale Rolle der Religion in Partei und Staat und dass er, der Führer, es selbst sei, der das Christentum zu seiner wahren Bestimmung führen werde (weshalb der Rabbi Jehoschua alias Jesus von beflissenen „Rasseforschern“ bald den Ariernachweis erhalten sollte). Für die Aufnahme in die SS war Kirchenzugehörigkeit nicht nötig, erforderlich hingegen das Bekenntnis zu Gott.

Entsprechend quälend gestaltete sich die Auseinandersetzung der Kirchen mit dem von ihnen über fast zweitausend Jahre befeuerten und, als der deutsche Staat die Sache in die Hand nahm, in die Krematorien der Vernichtungslager mündenden Antisemitismus. Nach und nach zunehmend selbstkritisch, selber belastet von dem glühenden Judenhasser Luther, ließ sich die evangelische Kirche vernehmen, erwartungsgemäß verdruckst und verlogen die katholische.

Die bizarrste Blüte im katholischen Verdrängungseifer trieb der Geist des Papstes Benedikt XVI. hervor, der im Feuilleton ehrfürchtig als „Intellektueller“ gerühmt wird. Nach seinem Besuch in Auschwitz verkündete er, sicher aufrichtig bedrückt von dem besichtigten Grauen: Das, was die Nazis hier den Juden angetan hatten, war nur die Vorstufe dessen, was sie als ihr Hauptwerk geplant hätten, nämlich die Auslöschung des Christentums überhaupt. Mit andern Worten: Sie hatten an den Juden erst einmal geübt, bevor sie sich an ihre Hauptarbeit zu machen gedachten.

Zum Schluss des Rezensenten eigene juristische (und sicherlich laienhafte) Betrachtung: Heranzuziehen wäre der Straftatbestand des „Crime against humanity“: Verbrechen gegen die Menschheit (nicht „Menschlichkeit“, wie fälschlicherweise wiedergegeben wird – als hätten es die Nazis an Menschlichkeit fehlen lassen, als sie die Juden in die Gaskammern schickten: das „Understatement des Jahrhunderts“, wie Hannah Arendt trocken bemerkte; „Menschheit“ hingegen ist eine objektive Kategorie). Dieser Straftatbestand wurde in den Nürnberger Prozessen definiert und ist inzwischen völkergewohnheitsrechtlich anerkannt (selbst von Staaten, deren Existenzgrundlage der permanente Verstoß dagegen ist, inkl. den Staaten, die Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, umzingeln). Ergo: Der vom Christentum – seinen Kirchen und Funktionären samt Gläubigen – erzeugte und durch fast zweitausend Jahre wütende Antisemitismus ist ein solches Menschheitsverbrechen. Doch wo fände sich wohl ein Ankläger?

Und wie sehen Jüdinnen und Juden selbst die ganze Angelegenheit? Die bündige Antwort gab der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“

Tarachs Buch liest man mit gesträubten Haaren wie einen Horrorroman, nur dass der Horror nicht fiktional, sondern Bestandteil unsrer eignen Geschichte ist. Wer knapp bei Kasse ist, dem legt der Göttinger Rezensent die Empfehlung seines Lokalheiligen Georg Christoph Lichtenberg nahe: „Wer zwei Paar Hosen hat, versetze eines und kaufe dieses Buch.“