Poesie als Tauschwert

von Hermann Engster

Die Welt muss romantisiert werden. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.

(Novalis)

Joseph von Eichendorffs Gedicht Sehnsucht, 1834 geschrieben, ist eines der schönsten Gedichte der deutschen Romantik:

Sehnsucht

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen

In der prächtigen Sommernacht.

Adorno hat diesem Gedicht in seinen Noten zur Literatur einen Essay gewidmet, gedankenreich, aber auch, bei allem Respekt, allzu verklärend. Das Gedicht ist ein Spätwerk, es ist geschrieben, als sich die Epoche der Romantik dem Ende zuneigt, als Heine sich mit Spott von ihr löst – Eichendorff schmäht ihn deswegen als „Totengräber der Romantik“ – und der politischen Dichtung sich zuwendet.

Nach mittlerweile fast vier Jahrzehnten romantischer Dichtung erscheinen die Bilder in Eichendorffs Gedichten als abgeleitet und konventionell. Sie haben nicht die Blütenfrische der Brentano’schen Poesie, aber gerade in ihrer Reife bergen sie in sich die Essenz dieser Dichtungsepoche. Eben weil sie Spätfrüchte sind, erscheint in ihnen das Problematische der Romantik besonders stark ausgeprägt. Betrachten wir also das Gedicht genauer, Vers für Vers, Wort für Wort.

Ihr werdet es wissen, dass eure Phantasie es ist, welche für euch die Welt erschafft.

(Friedrich Schleiermacher)

Die erste Strophe zeigt den Sprecher in der für die romantische Dichtung charakteristischen Pose: Er steht nachts am Fenster, einsam, kein Du neben ihm, und blickt in die Ferne. Was ihn dorthin lockt, lassen gleich im ersten Vers drei Glanz-evozierende Worte aufleuchten: schienen – golden – Sterne. Zu den lockenden Signalen des Lichts kommen solche der Töne hinzu: Zunächst das Horn des Postillions in der Stille. Von dessen Klang geht ein Sog aus, den Eichendorff noch durch die Verwendung des altertümlichen Präteritums entbrennte verstärkt. Denn es ist nicht einfach Ferne, es ist eine weite Ferne, und je weiter diese ist, desto geheimnisvoller erscheint sie, desto stärker wirkt der Lockruf dorthin. Das Herz als das symbolisch bedeutsamste Organ des Menschen entbrennt, und mit dem Seufzer ach spricht das Ich einen heimlich in seinem Innern verborgenen Wunsch aus: sich aufmachen und mitreisen – den Wunsch jedoch formuliert im Konjunktiv Irrealis, dem Modus, der das Unerreichbare und Unerfüllbare ausdrückt.

Das Aufbruchssignal des Posthorns findet seine Fortsetzung im Lied der gegenüber am Bergeshang wandernden Gesellen. So wenig wahrscheinlich es ist, dass eine Postkutsche eine Nachtfahrt unternimmt, so wenig realistisch ist es auch, dass Handwerksgesellen nachts durch die Berge streifen. „Genug, Poesie hat ihre eigenen Gesetze“, fertigte der alte Goethe einen Kritiker ab, der ihn auf den Widerspruch hinwies, dass im Vorspiel auf dem Theater im Faust der Theaterdirektor mit dem Dichter noch darüber diskutiert, welches Stück dieser schreiben solle, während an der Theaterkasse schon die Eintrittskarten dafür verkauft würden.

Akzeptieren wir das also als bloße Äußerlichkeit, müssen jedoch erkennen, dass im weiteren Verlauf sich weitere Widersprüche auftun. Betrachten wir nun das Weitere nüchtern-realistisch und bedenken dabei, dass es in der Dichtung nicht darum geht, Sachverhalte präzis darzustellen, sondern darum, Bilder im Bewusstsein der Leserinnen und Leser zu erzeugen und gedankliche und emotionale Verbindungen zu knüpfen – und so Sinn zu konstituieren.

Der Bergeshang ist sicher einige hundert Meter vom Haus des Betrachters entfernt. Nicht unwahrscheinlich ist, dass er ihren bloßen Gesang zu hören vermag. Gänzlich unwahrscheinlich erscheint freilich, dass er dessen Text versteht. Doch er tut es bis in die Details. Die beiden Gesellen singen von den Stationen ihrer Wanderung, die sie offenbar vor kurzem begonnen haben. Sie singen von der romantisch wilden Natur, die sie durchwandern wollen, den Impressionen deutscher Waldlandschaft mit den dazu gehörigen Naturbildern: den nächtlich rauschenden Wäldern, ihren schwindelerregenden Schluchten, den über Felsen sprudelnden Quellen.

Und sie singen vom Ziel ihrer Wanderung, dem Sehnsuchtsland Italien mit seinen Marmorbildern, den Gärten mit dämmernden Lauben, mündend in der Vision von Palästen im Mondschein und den vom Klang der Lauten begleiteten Liebesständchen, denen die Mädchen am Fenster lauschen. Das Gedicht schließt, so Adorno, wie die Schlusskadenz einer Sonate, in der das Motiv von den Waldesquellen im Motiv der rauschenden Brunnen verwandelt und verklärt wiederkehrt. Es ist ein Weg von der wilden „deutschen“ Natur, versinnbildlicht von den hinabstürzenden Quellen, in die Kulturlandschaft Italiens, nun versinnbildlicht in der Vorstellung des leise rauschenden Brunnens als der gleichsam kultiviert eingehegten Quelle. Und die erste und letzte Strophe schließen sich zusammen im Erlebnis der prächtigen Sommernacht – einem zwar durch und durch abgenutzten Bild, und hier doch unwiderstehlich.

Mögen hätt‘ er schon wollen, aber dürfen hat er sich nicht getraut.

(Karl Valentin)

Das also glaubt der Sprecher im Gesang der Gesellen zu vernehmen. Doch es sind seine eigenen Sehnsüchte, die in seinem Herzen entbrennen und die er in die Lieder der fahrenden Gesellen hineinprojiziert.

Damit nicht genug. Eine weitere Beobachtung erweist sich von Bedeutung: Das Gedicht ist in der Zeitform des Präteritums gehalten! Es erzählt keine Gegenwart, sondern eine Erinnerung an Vergangenes. Der Sprecher in dem Gedicht erinnert sich wehmütig an eine verpasste Chance: aufbrechen und reisen. Die Erinnerung wird umso schmerzlicher, als er schon damals den Sprung in die Ferne, ins Abenteuer nicht gewagt hat. Die Poesie wird zum Ersatz für die verfehlte Realität. Sie ist die Imagination eines Als-Ob.

Ein anderes, in derselben Zeit geschriebenes und noch berühmteres Gedicht ist dieses:

Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst‘.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Die erste Strophe ruft das Bild der heiligen Hochzeit herauf: den altgriechischen Mythos von der Vermählung des Himmelsgottes Uranos mit der Erdgöttin Gaia. Der Sprecher weiß natürlich, dass das nicht wirklich geschah, sondern ein Mythos ist, und deshalb verwendet er den Konjunktiv Irrealis: Es war nicht so, aber scheint, als wäre es gewesen: als hätt‘ der Himmel … Die Verse sind hypotaktisch konstruiert und gehen über die Zeilenenden ineinander über, es sind Enjambements, veranschaulichend die Umarmung von Himmel und Erde.

Die zweite Strophe beschreibt im Indikativ die Wirklichkeit der irdischen Nacht. Es sind Verse des ruhigen Gleichlaufs, im Unterschied zur ersten Strophe parataktische Verse, jede Verszeile enthält einen Satz. Das Paradox-Erregende in den Versen ist jedoch, dass die Ruhe der Natur durch dynamische Verben ausgedrückt wird: ging – wogten – rauschten. Diese Bewegung geht auf den Sprecher selbst über und verlockt ihn zum Aufbruch: Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande … Doch nun wechselt der Modus des Sprechens vom Indikativ in den Konjunktiv: Als flöge sie nach Haus. Es ist hier jedoch nicht der Konjunktiv Irrealis des Eingangsverses, sondern der Konjunktiv Potentialis: der Konjunktiv, der eine Möglichkeit ausdrückt, die Wirklichkeit werden, ein Begehren, das erfüllt werden könnte.

Aber die Seele fliegt nicht wirklich nach Haus, sondern in der sehnsuchtsvollen Erinnerung war es so, als flöge sie nach Haus. Das Ich verbleibt im Modus des Als-Ob. Auch hier regiert wieder das Präteritum. Keine erlebte Gegenwart wird erzählt, sondern eine vergangene Sehnsucht. Diese Spannung des nicht erfüllten Vergangenen wird noch verstärkt durch eine raffinierte Reimtechnik. Haben wir in der zweiten Strophe, welche die in sich ruhende Erde schildert, reine Reime, so fallen bei sorgsamem Lesen in der ersten und letzten Strophe unreine Reime auf, sog. Assonanzen: Himmel – -schimmer / spannte – Lande. Das ist bewusst gewählt; denn im Entwurf der ersten Strophe schrieb Eichendorff traumestrunken, das er dann durch Blütenschimmer ersetzte.

Es sind also wieder Merkmale, die das Sprechen im Modus des Als-Ob halten: Es sind die Zeitform des Präteritums, die verschiedenen Konjunktive in den Strophen eins und drei sowie die unreinen Reime.

Und wo, wäre zu fragen, bleibt der Mond? In einer früheren Fassung hat Eichendorff in einer eigenen Strophe ihn ins Gedicht eingebaut, in der endgültigen aber gestrichen. Vom Mond erscheint nur sein Glanz, der den Blütenschimmer erzeugt. Fromme Innigkeit und literarisches Raffinement gehen hier Hand in Hand.

Exkurs zu Robert Schumanns Vertonung der Mondnacht

Adorno hat in seinem oben erwähnten Essay Schumanns Vertonungen der Eichendorff-Lieder „kongenial“ genannt. In der Mondnacht hat er dies allerdings nicht, wie bei andern Liedern, an der Komposition selbst ausgeführt. Sehen wir uns also die Noten an.

Für das Lied ist als Haupttonart E-Dur angegeben. Das angekündigte E-Dur ist es jedenfalls nicht, und bis kurz vor Schluss ist man unsicher, in welcher Tonart man sich befindet. Dieses Schweben zwischen den Tonarten ist der adäquat komponierte Konjunktiv Irrealis.

Die Schluss-Sequenz ist von höchstem Raffinement. Auf die Worte nach Haus erklingen in den Bässen Oktavgänge: Die Seele fliegt nach Haus. Der Schlusston des Gesangs – Haus – enthält nun den Grundton E, doch wird dieser durch die tiefalterierte Septime (D statt Dis) in der rechten Hand des Klaviers irritiert. Das Nachspiel zeigt im viertletzten Takt den Durchgang A im Bass der linken Hand; als Auftakt zum letzten Takt spielt die rechte Hand eine Terz, die linke Hand leere (offene) Quinten, also ohne die die Tonart festlegende dazugehörige Terz. Dadurch wird wieder der Eindruck des unbestimmten Schwebens erzeugt, obwohl man die Tonika (E etc.) gleichsam spüren kann. Wir hören die Akkorde in der rechten Hand als gebrochene Akkorde, abwärts schwebend im verhallenden decrescendo bis zum pianissimo. Der Schlussakkord selbst zeigt in der linken Hand wieder die leere Quint im Bass. Das ist kein selbstgewisser affirmativer Schluss: Es ist eine winzige Nuance, eine staunenswerte Finesse, die das Einmünden in die Grundtonart kaum merkbar in der Schwebe hält.

Den Zauber der Mondnacht erlebt die Seele, als ob sie nach Haus flöge. Es ist dies ein wahrhaft kongenial komponierter Konjunktiv Potentialis. Wie ist das zu deuten? Auch für einen tiefgläubigen Katholiken, der Eichendorff war, ist die Heimkehr zu Gott keine Selbstgewissheit, sondern „nur“ eine durch Christi Sühneopfer besiegelte Hoffnung – dass wir das ewige Leben erben, das wir erhoffen (Paulus, Brief an Titus 3,7). Das mag als individuelle

Erklärung für den Sprecher und den Autor selbst ausreichen. Doch steckt in einer Zeit der durch Aufklärung und Religionskritik ins Wanken geratenen Religiosität nicht auch etwas Allgemeines, Gesellschaftliches? Das ist nur zu fragen, nicht zu beantworten.

(Noten: https://www.musicaneo.com/de/sheetmusic/sm-2164_nr_5_mondnacht.html

Dank an Ulla Henkelmann für die musikalische Analyse.)

Zurück zum Gestus des Als-Ob! Dieser findet sich in der gesamten romantischen Dichtung, und dies schon früh wie z.B. in Brentanos Gedicht Auf dem Rhein von 1800 mit dem Vers Der Fischer sang … als ob ichs selber wär. Oder in der zur selben Zeit gedichteten Ballade Die Lore Lay mit ihren Schlussstrophen, in denen der Sprecher der drei Ritter gedenkt, die, der Lore Lay folgend, aus der Felswand in den Tod stürzen:

Wer hat dies Lied gesungen?
Ein Schiffer auf dem Rhein,
Und immer hat‘s geklungen
Von dem Dreiritterstein:

Lore Lay!
Lore Lay!
Lore Lay!
Als wären es meiner drei.

Der Ort, an dem sich die Angst vor den in der eigenen Imagination heraufbeschworenen Dämonen (so in Eichendorffs Waldgespräch) und die Furcht vor der Moderne überkreuzen, ist der Wald. In der Verlorenheit im Wald – und die Wälder damals sind nicht die Baumplantagen von heute – spiegelt sich die Orientierungslosigkeit inmitten der eigenen Gegenwart wider. So in Eichendorffs Gedicht mit dem Titel In der Fremde, einem beliebten Topos seiner Dichtung:

In der Fremde

Ich hör die Bächlein rauschen
Im Walde her und hin,
Im Walde in dem Rauschen
Ich weiß nicht, wo ich bin.

Die Nachtigallen schlagen
Hier in der Einsamkeit,
Als wollten sie was sagen
Von der alten, schönen Zeit.

So geht es weiter: Es ist ihm, als ob er im Mondenschimmer das Schloss, wo er zu Hause war, im Tal sähe – und ist doch so weit von hier; und es scheint ihm, als ob im Garten dort die Liebste auf ihn wartete – und ist doch lange tot.

Glotzt nicht so romantisch!

(Brecht)

Rüdiger Safranski hat in seinem großen Romantik-Buch (Romantik. Eine deutsche Affäre, 2007) dieses Als-Ob-Sprechen als den grundlegenden Gestus der Romantik herausgestellt. Es ist ein Als-Ob, das der empirischen Wirklichkeit sich nicht stellt und in eine andere, höhere – vergangene? kommende? – jedenfalls poetische Realität sich imaginiert.

Wie aber ist die empirische Wirklichkeit in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, der Hoch-Zeit der Romantik, beschaffen? Einige Stichworte mögen genügen:

  • Die Erfahrung der Französischen Revolution mit ihren Verkündigungen von Freiheits- und Bürgerrechten, in Deutschland vorangetrieben durch Napoleon
  • Das Umschlagen der Französischen Revolution in Terrorherrschaft; Napoleons Eroberungspolitik, die Befreiungskriege gegen ihn und sein Scheitern
  • Das Streben nach nationaler Einheit als Voraussetzung für eine allgemeine demokratische Verfassung Deutschlands
  • Die Re-Etablierung der Fürstenherrschaft durch den Wiener Kongress mit dem Bruch des Versprechens von mehr Freiheit und Bürgerrechten
  • Die mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 einsetzende massive Verfolgung aller, die für Bürgerrechte und Demokratie eintreten
  • Der grassierende Antisemitismus
  • Die sich entwickelnde kapitalistische Produktionsweise, die alles zur Ware macht
  • Die Verelendung der Arbeiterschaft
  • Die Entwicklung kritischer Gesellschaftstheorien und sozialrevolutionärer Bewegungen

Unpolitisch sein, heißt politisch sein, ohne es zu merken.

(Rosa Luxemburg)

Um all das scheren sich die Romantiker keinen Deut. Es findet in ihrer Literatur und ihren philosophischen Konzepten keinerlei Niederschlag, allenfalls indirekt durch Verschweigen. Das klingt verallgemeinernd, trifft aber zu – mit einer Ausnahme.

Diese ist eine Frau, Bettina von Arnim. Sie lenkt den Blick nicht wie ihre Dichterkollegen auf die Idealität von Traumwelten, sondern auf die Realität der irdischen Gassen. Bei der Cholera-Epidemie in Berlin engagiert sie sich für soziale Hilfsdienste in den Armenvierteln und pflegt Erkrankte. Aus Anlass der Thronbesteigung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1840 veröffentlicht sie 1843 ein Buch mit dem Titel Dies Buch gehört dem König. Es ist im Grunde ein offener Brief an den König. Sie will ihm die erbärmlichen sozialen Zustände in Preußen vor Augen halten und ihn zu gerechterem Handeln bewegen. Das Buch ist eine Mischung von poetischer Fiktion und Schilderung sozialer Realität und ist die erste Sozialreportage der deutschen Literatur. Ernüchtert von der gescheiterten Revolution von 1848 verfasst Arnim 1852 eine Schrift, in der sie für die Gleichstellung der Frauen, die Emanzipation der Juden und für die Abschaffung der Todesstrafe eintritt. Das Buch wird schon vor seinem Erscheinen von der preußischen Zensur verboten.

Ihre Dichterkollegen hingegen pflegen ihre Traumwelten, phantasieren sich zurück in ein verklärtes Mittelalter mit seiner einheitlichen Religion und der gemütvollen Einheit von Fürst und Volk, einem Wahn, der noch ein halbes Jahrhundert später in Wagners Meistersingern von Nürnberg spukt. Sie üben regressive Zivilisationskritik, übersteigern und verabsolutieren das Gefühl, ergehen sich in weltanschaulich-philosophischen Phantastereien, neigen zu religiösen Überspanntheiten, werden sogar katholisch wie Friedrich Schlegel und Clemens Brentano, flüchten sich in Phantasiewelten. Das hat Heine schon 1827 satirisch aufgespießt in seinem Gedicht mit dem ironischen Titel:

Wahrhaftig

Wenn der Frühling kommt mit dem Sonnenschein,
Dann knospen und blühen die Blümlein auf;
Wenn der Mond beginnt seinen Strahlenlauf,
Dann schwimmen die Sternlein hintendrein;

Wenn der Sänger zwei süße Äuglein sieht,
Dann quellen ihm Lieder aus tiefem Gemüt; –
Doch Lieder und Sterne und Blümelein,
Und Äuglein und Mondglanz und Sonnenschein,
Wie sehr das Zeug auch gefällt,

So macht’s doch noch lang keine Welt.

Und sie verklären mit geradezu religiöser Verzückung das, was sie eben besonders gut können: das Dichten. Repräsentativ dafür ist Friedrich von Hardenberg, der sich selbst Novalis nennt, literarisch und philosophisch einer der Vordenker seiner Epoche. Ein Beispiel von vielen anderen aus seinen Blütenstaubfragmenten von 1798:

Dichter und Priester waren im Anfang Eins. Und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der echte Dichter ist aber immer Priester, so wie der echte Priester immer Dichter geblieben. Und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeiführen?

Die Poesie mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke – der Erhebung des Menschen über sich selbst. Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizismus gemein. …
Der Poet ist der transzendentale Arzt.
Poesie = Gemütserregungskunst.

Was hier – und nicht nur bei Novalis, sondern auch bei seinen Philosophie- und Literaturkollegen – sich kundtut, ist nicht nur eine Reduzierung der Literatur aufs Emotionale, sondern auch eine maßlose Selbstüberschätzung der Schriftsteller selbst und ihres Tuns: eine Phantasmagorie der Kunst als Heilsversprechen. Das heckt fort in Richard Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal als der Vision einer neuen Kunstreligion, die an die Stelle der ausgelaugten christlichen treten soll, über Stefan Georges Dichtungspriestertum bis hin zu Botho Strauß‘ tragisch umwölktem Geraune.

Affäre: Angelegenheit; [unangenehmer, peinlicher] Vorfall; Streitsache

Duden-Definition

Kein anderes Land in Europa, und wohl in der ganzen Welt, hat aus extremem Subjektivismus heraus jemals eine bestimmte Schriftstellerei derart größenwahnsinnig stilisiert. Dieser Irrationalismus als Flucht vor der Realität ist fürwahr „eine deutsche Affäre“, wie Safranski ironisch untertreibend formuliert. Dieser Grundzug der deutschen Romantik, seit langem bekannt, ist jedoch erst 150 Jahre später, nach den Erfahrungen von Nationalsozialismus, deutschem Imperialismus und Shoah, gründlich aufgearbeitet worden.

Georg Lukács hat die Dichtung und insbesondere die Philosophie (Schleiermacher, Novalis, Schelling, Fichte), überhaupt die ganze romantische Richtung scharfsinnig (oft aber auch historisch-materialistisch allzu kurzschließend) der Verantwortung für den Absturz Deutschlands in den Irrationalismus und den Faschismus geziehen (Die Zerstörung der Vernunft, 1954); Isaiah Berlin hat weiterhin nach den problematischen Wurzeln des Geistes der Romantik gegraben (The Roots of Romanticism, 1999); Peter Hacks schließlich hat mit mephistophelischem Sarkasmus die reaktionären politischen Verstrickungen der Schriftsteller aufgedeckt, dazu auch die Quellen ihrer poetischen Inspiration benannt, als da sind Alkohol, Opium, Marihuana (Zur Romantik, 2001); es sind Quellen, aus denen auch Novalis in seinen Hymnen an die Nacht sich Treibstoff für seinen dichterischen Flug holt: aus der goldnen Flut der Trauben, … des Mandelbaums Wunderöl, und dem braunen Safte des Mohns. Und der Zeitgenosse Goethe selbst, trotz guter Beziehungen zu den Protagonisten der Romantik und Anerkennung der poetischen Schönheiten im Einzelnen, nannte die Romantik als ganze wegen ihrer „elementarischen Übersteigerung“ rundweg „das Kranke“.

Der Dichter als Seher, Priester, transzendentaler Arzt – so neu ist diese Selbstüberschätzung einer Künstlersparte freilich nicht. Darüber hat sich schon vor zweieinhalb Jahrtausenden Sokrates mokiert:

Sokrates: So stelle ich denn auch bei den Dichtern in kurzer Zeit fest, dass sie nicht aus Weisheit hervorbrachten, was sie hervorbrachten, (…) sondern aufgrund einer besonderen Veranlagung und in göttlicher Begeisterung wie die Seher und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viele Dinge, ohne zu wissen, was sie sagen. (…) Und zugleich bemerkte ich, dass sie wegen ihrer Dichtung glaubten, sie seien auch sonst ganz besondere kluge Leute – was sie nicht waren. (Platon, Apologie des Sokrates)

Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht’s doch noch lang keine Welt. Für den Tauschder Realität gegen die Phantasie haben die Romantiker als Tauschwert die Poesie sich eingehandelt. Sie haben Gedichte von virtuosem Raffinement, ergreifender Wehmut und betörender Musikalität geschaffen. Diese Gedichte sind, um ein von Adorno nur sparsam, aber dann von ihm umso bedeutsamer platziertes Wort zu verwenden: unwiderstehlich.

So wäre denn alles gut und alle Romantik-Liebhaber – und wer wäre das, mehr oder minder verhohlen, nicht? – zufrieden?

Walter Benjamin konstatiert in seinem Essay Über den Begriff der Geschichte im VII. Kapitel:

Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist. Der historische Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten.

Was wäre dann, so ist zu fragen, die Kehrseite der Schönheit romantischer Poesie? Vorangestellt hat Benjamin diesem Kapitel ein Zitat aus Brechts Dreigroschenoper, das den Blick darauf lenkt:

Bedenkt das Dunkel und die große Kälte,
In diesem Tale, das von Jammer schallt.