Erdogans imperialistische Eskalation

von Tomasz Konicz

Die Zeit scheint günstig für einen neuen Angriffskrieg des Nato-Partners Türkei. Den ungeklärten Bombenanschlag von Istanbul ausnutzend (www.bbc.com/news/world-europe-63615076), greift die türkische Luftwaffe seit Tagen die Rojava genannten kurdischen Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien an. Duzende von Menschen sind den Luftschlägen zum Opfer gefallen (twitter.com/YPJ_Info/status/1594707983870660609). Inzwischen drohen türkische Stellen offen damit, eine neue Offensive gegen Rojava zu starten – es wäre nach der Invasion Afrins 2018 und dem Landraub im Oktober 2019 der dritte Angriffskrieg des türkischen Staates gegen die selbstverwaltete Region.

Die Türkei beitreibt dabei – unter Tolerierung oder gar mit Unterstützung des Westens und Berlins (www.thetimes.co.uk/article/syria-un-refuses-to-investigate-claims-of-white-phosphorus-use-in-turkish-offensive-3bv7qdmxz) – eine Politik der ethnischen Säuberungen (https://www.konicz.info/2022/06/30/toter-winkel/ ), bei der Hunderttausende von Kurden vertrieben werden, um diese Pufferregion mit islamistischen syrischen Milizen zu besiedeln. Zudem hat Ankara immer wieder betont, dass die syrischen Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei leben, in diese eroberten und von Islamisten kontrollierten Gebiete abgeschoben werden sollen. Die Türkei will somit Rojava gänzlich zerschlagen, Nordsyrien erobern und ethnisch säubern, um diese Region als eine „Abschiebezone“ für Flüchtlinge zu betreiben.

Die jüngsten Angriffe gegen Rojava bilden dabei nur die aktuelle Eskalationsphase des ohnehin andauernden türkischen Krieges gegen die kurdische Freiheitsbewegung, der in der westlichen Öffentlichkeit – insbesondere beim engen türkischen Partner Deutschland – verbissen ignoriert wird. Die Streitkräfte der Türkei sind tief in den Nordirak vorgestoßen, wo sie gegen die Rückzugsgebiete der kurdischen Guerilla vorgehen. Hierbei soll die türkische Armee Massenvernichtungswaffen, vor allem Giftgas, einsetzen, während sie die Überlebenden des Genozids des „Islamischen Staates“ an den Jesiden in ihren Flüchtlingslagern und Dörfern angreift (Näheres hierzu in der kommenden Konkret, 12/2022).

Bombenanschlag in Istanbul – viele Frage offen.

Schon der Bombenanschlag von Istanbul, bei dem Mitte November sechs Menschen ums Leben kamen, wirft erhebliche Fragen auf. Die PKK und die syrischen Kurden haben sich von diesem Terroranschlag klar distanziert. Laut jüngsten Berichten soll es sich bei der mutmaßlichen Attentäterin, die der Öffentlichkeit präsentiert wurde, um die Schwester eines hochrangigen Kommandanten der syrischen Miliz SNA handeln, die maßgeblich von der Türkei unterstützt wird (www.gerceknews.com/turkey/suspected-bomber-of-istanbul-attack-says-she-is-the-sister-of-a-sna-commander-217624h). Diese Milizen üben faktisch die Kontrolle vor Ort in den türkisch besetzten Regionen Nordsyriens aus.

Die türkische Oppositionspartei HDP sprach von dem Hintergrund dieser evidenten Ungereimtheiten von „Duzenden von unbeantworteten Fragen und Inkonsistenzen“ (www.gerceknews.com/turkey/hdp-taksim-bombing-a-scheme-for-endorsing-governments-new-offensive-concept-217630h). Hierdurch entstehe der Eindruck, dass der Terroranschlag dazu diene, die türkischen „Attacken und die Kriegspolitik“ gegen Rojava zu legitimieren, so HDP-Sprecherinnen.

Geopolitische Schaukelpolitik Erdogans

Die geopolitische Konstellation ist derzeit günstig für Erdogan, um eine neue Runde ethnischer Säuberungen zu entfachen. Die Türkei ist ein wichtiger Faktor beim Krieg um die Ukraine, wo Erdogan bei seinem geopolitischen Balanceakt mit Moskau und dem Westen kooperiert und auf beiden Seiten der Front zu profitieren versucht (www.jpost.com/middle-east/article-722988). Die Türkei, die Drohnen an Kiew liefert, will mit Russland energiepolitisch zusammenarbeiten, um zu einer regionalen Energiedrehscheibe aufzusteigen. Ankara ist auch Garantiegeber des Getreideabkommens in der Ukraine. Kurz vor der aktuellen Eskalation hat die Türkei sogar die Beziehungen zu Israel normalisiert.

Der Westen und Moskau „brauchen“ Erdogan schlicht angesichts des Krieges im Osten, während Berlin als traditioneller Verbündeter des türkischen Regimes ohnehin kaum Druck auf Erdogan ausüben wird. Erdogan nutzt somit die ihm gegebenen geopolitischen Machthebel, um seine imperialistische Politik vorantreiben zu können. Die Luftangriffe der Türkei gegen Rojava wären ohne die Zustimmung sowohl Russlands wie der Nato und der USA schlicht nicht möglich.

Antikurdische Kooperation zwischen Teheran und Ankara?

Faktisch findet derzeit eine mörderische – inoffizielle? – Kooperation zwischen den Regimes in Ankara und Teheran statt, die sich gegen die kurdischen Minderheiten in der Region richtet (www.jpost.com/middle-east/article-722970). Während die türkische Luftwaffe Rojava bombardiert und die Armee im Nordirak ihren schmutzigen Krieg führt, greifen die Truppen des Iran Ziele in der kurdischen Region des Nordostirak an (twitter.com/sotiridi/status/1594461604246355969), um die kurdische Bewegung im Iran zu schwächen. Die Kurden Irans bilden das Rückgrat der Massenproteste, die eine revolutionäre Stimmung in der „Islamischen Republik“ aufkommen ließen. Zudem häufen sich in den sozialen Medien Berichte (twitter.com/ArioMirzaie/status/1594664787593543682), wonach die iranischen Revolutionsgarden in den kurdischen Gebieten des Iran regelrechte Massaker verüben würden (twitter.com/FazelHawramy/status/1594695514725154817), um der Aufstandsbewegung im Mullah-Staat das Genick zu brechen. Auch aus dem Iran sickern Berichte über Gaseinsätze gegen Demonstranten durch (twitter.com/factnameh/status/1594720071523278848).

Beide autoritären Regime sind derzeit aufgrund zunehmender innenpolitischer Instabilität in ihrem Bemühen vereint, die kurdische Befreiungsbewegung zu vernichten, da deren poststaatliche, auf Emanzipation und Frauenbefreiung abzielende Perspektive auch auf die Bevölkerung dieser Staaten ausstrahlt. Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“, unter der die Aufstandsbewegung des Iran kämpft, ist gerade von kurdischen Feministinnen geprägt worden. Und auch die Herrschaft Erdogans und seiner islamischen AKP in der Türkei ist angesichts einer schweren Wirtschaftskrise und einer Inflation von mehr als 80 Prozent (www.reuters.com/markets/asia/turkeys-inflation-hits-24-year-high-855-after-rate-cuts-2022-11-03/) alles andere als stabil. Die äußere Expansion dient somit Ankara als Ventil, um innere Spannungen zu überbrücken.

USA in Syrien

Eine neue Runde ethnischer Säuberungen, bei denen die westlichen Partner wie gewohnt wegsehen, ist genau das, was Erdogan innenpolitisch braucht. Wie prekär die Lage der syrischen Kurden ist, macht allein der Umstand deutlich, dass es faktisch nur die USA sind, die einem erneuten Angriffskrieg Erdogans im Weg stehen könnten. Immer noch hat Washington Truppen in Nordostsyrien stationiert, die gemeinsam mit den kurdischen Kräften den von der Türkei mitunter offen unterstützten „Islamischen Staat“ besiegten.

Nordsyrien ist faktisch aufgeteilt in eine türkische Besatzungszone in Idlib und Afrin, in eine russische Einflusssphäre im Westen und um Aleppo, sowie die restlichen Selbstverwaltungsgebiete der Kurden im Osten, wo US-Truppen präsent sind. Ohne Tolerierung durch Washington kann Erdogan nicht darauf hoffen, einen neuen Eroberungszug in Rojava zu führen. Zugleich sind Ankara und Teheran aber in dem geopolitischen Ziel vereint, die im Anstieg begriffene, abgetakelte Hegemonialmacht USA aus der Region zu verdrängen, um den eigenen imperialen Ambitionen freien Lauf lassen zu können.

Der dritte Verrat?

Hierzu etwas Hintergrund: Diese Aufteilung Nordsyriens in Einflusssphären etablierte sich im Gefolge des syrischen Bürgerkrieges, als das Assad-Regime sich nur mittels der militärischen Intervention Russlands an der Macht halten konnte. Die Reste der Aufstandsbewegung gegen Assad, die im Verlauf des Bürgerkrieges zunehmend von islamistischen Kräften dominiert wurde, finden sich in den türkischen Besatzungsgebieten. Der erste syrische Eroberungszug der Soldateska Erdogans gegen den Kanton Afrin erfolgte 2018 mit der Zustimmung Putins, da diese nordsyrische Selbstverwaltungsregion sich in der russischen Einflusssphäre Syriens befand (www.konicz.info/2018/01/21/afrin-erdogans-werk-und-putins-beitrag/). Im Gegenzug dafür erhielt Moskau Zusagen über Pipelinedeals, den Bau von russischen Atomreaktoren und Waffenkäufe. Den Preis für diesen dreckigen imperialistischen Deal mussten somit die Kurden zahlen, die aus Afrin, übrigens mit Zustimmung Merkels (www.konicz.info/2020/01/25/tuerkei-merkels-zivilisatorischer-tabubruch/), vertrieben wurden.

Den zweiten Verrat an den Kurden Syriens beging US-Präsident Donald Trump, der im Oktober 2019 ebenfalls Erdogan grünes Licht für einen weiteren Einmarsch in Rojava gab (de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkische_Milit%C3%A4roffensive_in_Nordsyrien_2019). Die Preisgabe der Kurden Syriens durch Washington erfolgte übrigens nur wenige Wochen nachdem diese unter hohen Verlusten die syrische Stadt Rakka eingenommen hatten, die als letzte Bastion und Hauptstadt des „Kalifats“ des auch von den USA bekämpften „Islamischen Staates“ in Syrien firmierte.

Es stellt sich somit aktuell die Frage, ob die Selbstverwaltung in Rojava nun ein drittes Mal in Serie verraten und verkauft wird – diesmal durch die Biden-Administration, die sich vor allem auf den Krieg in der Ukraine konzentriert und dorthin einen Großteil ihrer Ressourcen fließen lässt. Ehemalige US-Generäle beklagen inzwischen offen zunehmende Engpässe beim US-Militär bei der Versorgung mit Waffensystemen und vor allem Munition (//www.youtube.com/watch?v=0nvyZ88d_V0). Erdogan hat somit auch in dieser Hinsicht einen idealen Zeitpunkt für seine imperialistische Aggression gewählt.

Und Annalena? Abgetaucht!

Übrigens: Auf Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock, die eigentlich eine „feministische Außenpolitik“ führen wollte, sollten kurdische Feministinnen ohnehin nicht zählen (/twitter.com/Ezgi_Guyildar/status/1594313715704291331). Deutschland hat – schon seit dem türkischen Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg19 – eine lange, blutige Tradition der Kooperation mit dem türkischen Staat. Seit dem Ausbruch der aktuellen türkischen Terrorkampagne gegen Rovaja ist die Außenministerin, die sich gerne mit den Parolen der kurdischen Freiheitsbewegung schmückt (de.wikipedia.org/wiki/Frau,_Leben,_Freiheit#Deutschland), bei diesem Konflikt schlicht abgetaucht.

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