Der autoritäre Konformismus der akademischen Jugend

von Andreas Urban

Ein besonders auffälliges und traurig stimmendes Phänomen während der vergangenen zwei Jahre – neben einer weitgehend staatstragend gewordenen Linken – ist der nahezu vollständige Ausfall junger Menschen, insbesondere Studierender, als kritische gesellschaftliche Kraft. Während in den späten 1960er-Jahren in Deutschland der Protest gegen eine staatliche Notstandsgesetzgebung gerade von Studierenden getragen wurde, sind es heute Studierende, die selbst noch die ohnehin bereits immer enger werdenden kritischen Räume an den Universitäten aushöhlen und torpedieren. Besonders eindrücklich zu beobachten war dies in letzter Zeit etwa anlässlich einer Corona-Ringvorlesung an der Universität Wien, die speziell von Studierenden, allen voran von deren Vertreter/innen in der ÖH, massiv angefeindet wurde und wird. Was sind die Gründe für dieses sonderbare Verhalten der akademischen Jugend?

Zunächst einmal scheinen wir derzeit die Ernte von vier Jahrzehnten Postmodernisierung und eines damit einhergehenden Verlustes intellektueller Kapazitäten einzufahren. Vor allem die Desavouierung eines jeglichen Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffs sowie die darauf gründende Ideologie der Virtualität und der kulturellen Konstruiertheit (und daher auch Dekonstruierbarkeit) aller gesellschaftlichen Entitäten hat inzwischen zu einer weitgehenden Abkoppelung von der gesellschaftlichen Realität geführt – mit dem Effekt einer weit verbreiteten Unfähigkeit, Dinge und Sachverhalte adäquat einzuordnen, geschweige denn realistisch einzuschätzen. Nicht zuletzt methodische Fähigkeiten, Quantitatives und Qualitatives miteinander zu vermitteln, scheinen weitgehend verloren gegangen zu sein. In der Corona-Krise lässt sich dies bereits daran ablesen, dass viele Bürger/innen völlig groteske Vorstellungen von den individuellen Risiken einer Corona-Infektion haben. Eine Überschätzung des Sterberisikos bis um den Faktor 50 oder 60 – so etwa die Ergebnisse einer Studie an der Universität Salzburg – sind da durchaus keine Seltenheit. Genauso wenig fällt ihnen auf, wie fehlerhaft und oftmals geradezu hanebüchen die medial und politisch kolportierten Zahlen und Statistiken bezüglich Corona sind (als „Erkrankte” geführte positiv Getestete, die medizinisch sinnbefreite Hochrechnung positiver Tests zu einer „7-Tage-Inzidenz” etc.). Hier zeigen sich also durchaus handfeste, historisch gewachsene, nicht zuletzt durch Kulturindustrie und „soziale Medien” begünstigte bzw. verstärkte Denkschwächen.

Hinzu kommt ein weiteres Generationenspezifikum: Die heutigen Studierenden, die in den 1990ern oder noch später geboren wurden, erleben in der Corona-Krise zum ersten Mal in ihrem Leben etwas „Historisches”. An 9/11 können sich die meisten von ihnen vermutlich gar nicht mehr erinnern, geschweige denn an 1989. Das sollte man nicht unterschätzen. Das schon angesprochene postmoderne Denken, das seinem Wesen nach auch extrem ahistorisch ist, kommt hier noch erschwerend hinzu. Nun haben schon die meisten Menschen (nach einer polemischen, aber treffenden Formulierung des Philosophen und Gesellschaftstheoretikers Robert Kurz) das durchschnittliche historische Gedächtnis eines Dreijährigen. In der jungen, im postmodernen Vakuum des neoliberalen Finanzmarkt-Kapitalismus sozialisierten Generation scheinen sich die Fähigkeiten, historische Bezüge herstellen zu können, jedoch immer noch weiter zu verflüchtigen. Das mag ein sehr pauschaler Befund sein und wie jeder pauschale Befund etwas unfair. Aber der Tendenz nach dürfte es stimmen. Wenn einem etwa Uni-Lektoren berichten, dass deren Studierenden häufig nicht einmal wissen, in welchem Jahr der Zweite Weltkrieg geendet hat, dann ist das schon bezeichnend.

Zu all dem gesellen sich schließlich noch objektive gesellschaftliche Tendenzen, insbesondere die sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zuspitzende kapitalistische Krisendynamik. In der jungen Generation, auch wenn (oder vielleicht auch weil?) diese die Krisenphänomene zu verdrängen neigt, schlägt sich dies in beträchtlichen Zukunfts- und insbesondere auch sozialen Abstiegsängsten nieder. Letzteres macht vor allem Angehörigen aus der einstweilen noch halbwegs gut situierten (linksliberalen) Mittelschicht zu schaffen, die in der Krise nicht zufällig die typische Reaktion des Kleinbürgers zeigen, nämlich nach unten zu treten. Gewisse sozialrassistische Elemente z.B. in der Impfdebatte, wo es ganz offensichtlich auch darum geht, die unbotmäßige Unterschicht zu disziplinieren, kommen wohl nicht zuletzt daher. Aber auch was die Reaktion auf Corona insgesamt betrifft, ist ein Zusammenhang zur zunehmenden Krisenhaftigkeit der Verhältnisse nicht zu übersehen, insofern Corona eine willkommene Projektionsfläche für alle möglichen Zukunftsängste zu bieten scheint. Es geht auch darum, im Angesicht der eigenen Perspektivlosigkeit, zumal vor dem Hintergrund des Klimawandels und des geopolitischen Abstiegs des Westens, sich endlich als genau das zu beweisen, was man nicht ist: kontrolliert, handlungsfähig und „solidarisch“.

Beeindruckend ist dabei der autoritäre Konformismus, den die Jungen in ihrem Verhalten an den Tag legen. Auch das hat vermutlich mit dem identitären Bedürfnis zu tun, das sich z.B. an die Maßnahmen und deren Befolgung heftet. Endlich sind wir ein (pseudo)solidarisches Kollektiv, das gemeinsam gegen eine globale Bedrohung kämpft, und die Teilhabe am Kollektiv kann noch dazu extrem leicht nach außen hin demonstriert, gewissermaßen veräußerlicht werden, z.B. durch das Maskentragen oder das Impfen (Letzteres zeigt sich etwa im stets in vorauseilendem Gehorsam praktizierten Vorweisen des Impfpasses, im Tragen von „Geimpft”-Buttons, im Posten von Selfies mit Oberarmpflaster auf Social Media etc.). Umso aggressiver reagiert man dann natürlich auf diejenigen, die sich durch Missachtung der Regeln außerhalb dieses Kollektivs stellen oder die – horribile dictu – die Impfung ablehnen. Und fast noch schlimmer sind aus dieser Perspektive diejenigen, die versuchen, mit Argumenten und „Fakten” an den Grundlagen dieses identitätsstiftenden Kollektivs zu rütteln (z.B. eine auch kritische Sichtweisen integrierende Corona-Ringvorlesung).

Die Aussichten sind unter diesen Bedingungen (auch über die Corona-Krise hinaus) freilich alles andere als rosig. Denn es besteht – jedenfalls in absehbarer Zeit –  wenig Hoffnung auf Besserung. Es bleibt im Grunde nur, einfach weiterzumachen und zu hoffen, dass irgendetwas der Kritik an einem sich immer irrationaler gebärdenden Corona-Regime doch noch auf fruchtbaren Boden fällt. Und zum Teil tut es das auch. Die Frage ist allerdings, wie lange eine emanzipatorische Kritik und Praxis möglich bleibt, wenn die Räume dafür, etwa an den Universitäten, immer kleiner werden und es allen voran junge Menschen und Studierende sind, die sich zu den Totengräbern solcher kritischen Räume gesellen.

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