Konzentrat der Konvention

von Franz Schandl

Kaum ein Begriff hat in den letzten Jahren eine so steile Karriere hingelegt wie der des Bürgers und in seinem Windschatten der des Bürgerlichen. Eine bestimmte Eigenschaft ist zu einer überbestimmten und übereinstimmenden Überzeugung geworden.

Bürger ist also kein kritischer Begriff, sondern eine affirmative Instanz. Die Bürger sind auch keine zu kritisierende gesellschaftliche Klasse mehr, sondern etwas, das wir alle zu sein haben. Alles wird gedacht und formuliert mithilfe dieser sonderbaren Menschenkategorie, in die alles, was sich äußert, zu schlüpfen hat. Der Terminus scheint allen Strapazen gewachsen zu sein. Nie war der Begriff bedeutender als heute, nie erschien er so selbstverständlich wie gegenwärtig. Nicht selten sind einstige Kämpfer gegen das Bürgerliche seine Fanatiker von heute. An allen Ecken und Enden, in allen Ritzen und Poren klebt das Bürgerliche. Bürger, also bürgerlich zu sein, das haben wir zu wollen.

Es bürgert. Auch intellektuell. Man lese etwa bloß die seltsame Hymne von Byung-Chul Han, der ja nicht gerade als angepasster Geist bekannt sein dürfte: „Ein guter Bürger ist gut aus seiner Gesinnung heraus. Er teilt die moralischen Werte wie Freiheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit. Sein Handeln gegen das herrschende politische System mag von diesem kriminalisiert werden. Aber er ist trotzdem aufgrund seiner moralischen (im kantischen Sinne) Gesinnung ein guter Bürger und auch ein Patriot, Land- und Menschenliebender.“ (Kapitalismus und Todestrieb, Berlin 2019, S. 93) Da findet alles zusammen, was durcheinandergeht. Diese Sätze bergen schon eine geballte Ladung bürgerlicher Selbstbezüglichkeit. Kontaminiertes Konzentrat der Konvention.

Getue und Gerede

Der Schauspieler Peter Weck, so teilte uns der ORF am 15. August 2020 mit, ist „gutbürgerlich in Wien aufgewachsen“. Da kommen gleich heimelige Gefühle auf. Damit wir uns merken, was wir uns zu merken haben, pickt man das Wort „gut“ wie unabdingbar vorne an. Gutbürgerlich suggeriert allerdings, etwas Besseres zu sein, zu etwas Besserem zu gehören. Genauso ist es gemeint. Auch das Gerede vom gutbürgerlichen Essen sollte befremden. Was ist das Gegenteil davon? Das schlecht proletarische? Kein Essen an sich ist bürgerlich, nur Standesdünkel, also sich privilegierendes Getue, kann ein gutes Essen zu einem bürgerlichen aufwerten. Es ist der wohl eher grobe als feine „Sinn für Distinktion“ (Bourdieu), der solch Aneignung auch gleich mit einer Bezeichnung markieren muss. Wenn Bürger mehr Zeit und mehr Geld haben, sich qualitativ hochwertige Speisen zu leisten, entsprechend zu kochen oder gar sich bekochen zu lassen, dann deutet das nicht auf den Charakter ihres Essens, sondern auf den der Gesellschaft, in der jene dermaßen situiert sind. Wenn Bürger sich einen bestimmten Komfort aneignen, ist das noch kein bürgerlicher Komfort.

Wie kommt das „gut-bürgerlich“ überhaupt zu seinem Gut, oder besser noch zu seinen materiellen und ideellen Gütern? Ausbeutung? Knechtung? Raub? Raubbau? Raubgut? Kolonialismus? Imperialismus? Hat das mit dem Aufstieg des Bürgerlichen gar nichts zu tun? Verdeckte Seiten müssen übersehen werden, werden eskamotiert. Das Bürgerliche selbst wird seiner Gewordenheit entledigt, eine gesamte Epoche wird enthistorisiert. Es ist mittlerweile geradewegs so, wie Erich Fromm schreibt, dass selbst die Linke „das Ideal eines bürgerlichen Lebens für alle aufrichtete“ und so sein Ziel „der universale Bourgeois als Mann und Frau der Zukunft“ ist. (Haben oder Sein, München 1979, S. 14)Laut Paolo Flores d’Arcais erkennt „Demokratie nur eine Spielerfigur an: den Bürger“ (Die Linke und das Individuum. Ein politisches Pamphlet, Berlin 1997, S. 16). „Es braucht Bürgerpower“, so Thomas Mayer im Standard vom 8. August 2020.

Der Superterminus ist Folge eines analytischen Supergaus, gänzlich befreit von jeder historischen Reflexion ist er vielmehr Resultat einer sprachlichen Usurpation voluminösen Ausmaßes. Warum muss sich jedes menschliche Anliegen, sei es eine Aktion gegen Lärm oder für bessere Luft, heute als Bürgerinitiative verkleiden? Was ist an dem Anliegen bürgerlich oder besser: Warum muss es so wahrgenommen werden? Die fetischistische Vokabel ist weniger ein Begriff als ein Übergriff, der alles überfällt, was er überfallen kann. Das Vokabular ist derartig inflationär geworden, dass man sich kaum vorzustellen vermag, das sei Zufall.

Der Begriff des Bürgers hat den Menschen weitgehend überflüssig gemacht, und das ist tatsächlich nicht zufällig, auch wenn es keinem Plan folgt. Norm in Zeiten des Kapitals ist eben der Bürger. Das ganze Bürgergerede von der bürgerlichen Küche über die bürgerlichen Tugenden, die Bürgergesellschaft bis hin zu Bürgerinitiativen, Bürgerlisten und Bürgerbeteiligung bringt das zum Ausdruck. Eine ganz spezifische Kategorie Mensch wird zur einzig zulässigen erklärt. Erdenbewohner oder Terraner, das ist keine gültige Kategorie. Weltbürger wiederum wäre sowieso ein Widerspruch in sich. Bürger oder Mensch, das ist jedenfalls kein vernachlässigbarer, sondern ein essenzieller Unterschied. Muss ein Mensch nicht ein Bürger, zumindest ein Staatsbürger sein? In der bürgerlichen Gesellschaft: Ja! Sonst droht die nackte Existenz. Das will niemand. In den Flüchtlingsbooten des Mittelmeers wird diese Differenz oftmals zu einer zwischen Leben und Tod.

Das Abgefeimte liegt darin, dass eine Sonderkategorie sich zur Kategorie par excellence ermächtigt. Der Begriff ist schillernd, weil changierend: Einmal als Gegensetzung zum Menschen, und das andere Mal als Gegensetzung zu anderen sozialen Kategorien (Adel, Proletariat). Das Bürgerliche hat also in der bürgerlichen Gesellschaft einen allgemeinen Anspruch und einen besonderen Anstrich. Und es tritt auch forsch als beides auf. Karl Marx hat diese Ermächtigung bereits in seinen Frühschriften beschrieben: „Keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft kann diese Rolle spielen, ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. Nur im Namen der allgemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren.“ (MEW, Bd. 1, S. 388)

Bürger als Begriff

Der Bürger ist Produkt der okzidentalen Stadt. „Aber die Stadt“, schreibt Max Weber, „ist Marktansiedelung.“ (Wirtschaft und Gesellschaft (1919), Neu-Isenburg 2005. S. 924) Die Stadt wird selbst zu einem Wirtschaftsverband, „mit eigenem Grundbesitz, Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft“ (S. 928). Wirtschaft und Verwaltung reichen sich die Hand. Politik wird fortan zu einer festen Größe. Der Begriff des Bürgers entstand ursprünglich in Distanz zu Adel und Klerus, die Bürger begreifen sich primär als aufstrebende Gruppe von Eigentümern und Händlern, nicht als Abstammungsgemeinschaft oder Glaubensklüngel. Es geht also ums gesellschaftliche Haben, das dieses Dasein bestimmt. Doch schon im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen wurde eine andere Abgrenzung viel manifester, die zur Klasse der Lohnarbeiter, den Habenichtsen des Proletariats. „Die jüngste der großen Entgegensetzungen ist diejenige des Arbeiters und des Bürgers als des besitzlosen und des besitzenden Menschen. Ein besitzloser Bürger ist in der Tat ein hölzernes Eisen“, schrieb der Historiker Ernst Nolte (Was ist bürgerlich? und andere Artikel, Abhandlungen, Auseinandersetzungen, Stuttgart 1979, S. 17).

Der Verweis auf die Antike schuldet sich hingegen einem neuzeitlichen Konstrukt, mit der Genese des modernen Bürgertums haben Athen und Rom wenig bis nichts zu tun. Sie sind nicht Vorläufer, sondern Namensgeber. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass der Bürger zur Burg gehört. Etymologisch ist das eindeutig. Es handelt sich ursprünglich um Bewohner einer befestigten Siedlung mit Stadtrecht. Die Burg soll verstanden werden als spezifisch abgeschotteter Herrschaftsraum von Stadtbürgern. Das entsprechende Bürgerrecht, einstens exklusiv, wurde in den Jahrhunderten Gruppe um Gruppe erweitert. Bürgerliche Emanzipation bestand gerade darin, diesem Stand, dieser Klasse zugehörig sein zu dürfen. Heute wird das Bürger-Vokabular nicht hinterfragt, sondern vorausgesetzt und multifunktional eingesetzt. Man spricht so. Ein positiver Begriff ist Voraussetzung, um satisfaktionsfähig zu sein. Da finden sich alle, bis hin zu HC Strache: „Unser Anspruch ist es, eine Bürgerbewegung zu sein.“ (Die Presse vom 5. Juli 2020) Nichts anderes ist zu erwarten. Nicht jeder Bürger ist Populist, aber jeder Populist ist Bürger.

Nicht jeder Bürger gehört zum Bürgertum. Als Citoyen bezeichnet er etwa den Staatsbürger, der aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und mitgestalten möchte. Nicht bloß als gegenseitige Kunden am Markt treten solche Leute auf, sondern auch als Kunden, also Klientel des neuzeitlichen Staates. Insofern wäre es naheliegender, die Identität von Bourgeois und Citoyen zu untersuchen, als deren Differenz hervorzuheben. Das integrative Moment ist zweifelsohne bedeutender. Im deutschen Terminus des Bürgers sind die beiden ja eingeschmolzen. Unter Bürger verstehen wir also den auf Eigentum und Staat projizierten Menschen. Die Bestimmung zum Bürger ist sowohl eine programmatische Aussage als auch eine affirmative Vorgabe.

Bürgerlich ist weniger eine Haltung als eine Handlung. Doch durch den Zwang, immer wieder adäquate Handlungen zu Ware und Wert, in Konkurrenz und Geld, für Markt und Staat zu setzen, wird die Haltung quasi synchronisiert zu den Handlungen. Was immer wir vertreten, zuerst äußern wir uns praktisch als Waren- und Rechtssubjekte. Da vermögen wir auch wenig zu entscheiden, da haben wir einfach entschieden zu sein. Wir sind, was wir tun.

Bin ich also ein Bürger? – Na ja, sein will ich keiner, aber aussuchen kann ich’s mir nicht so recht, die proletarische Herkunft schützt da wenig. Soziologisch und phänomenologisch müsste ich als sogenannter Bildungsbürger Teil des linksliberalen Mainstreams sein, wogegen ich mich wehre als auch verwehre. Aber Wollen und Resultat sind nicht immer eins. Es geht auch gar nicht darum, Bürger (wieder) zu einem Schimpfwort werden zu lassen, wie das in Teilen der alten Arbeiterbewegung der Fall gewesen ist. Wichtig wäre dennoch, den Begriff als analytische Kategorie zu reetablieren, d.h., die Liturgie des Bekenntnisses abzustreifen, nicht nur nicht zu akzeptieren, sondern sich von ihr dezidiert abzusetzen. Die Bürgerei ist jedenfalls nicht weniger abschreckend wie die Arbeitertümelei. Im Gegenteil, sie ist noch um einen Zacken verrückter.

Eigener Herr

Im Zeitalter der Aufklärung war das Bürgersein einem engen Personal vorbehalten. „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d.i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (dass es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: dass er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk oder schöne Kunst oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d.i. dass er in den Fällen, wo er von Andern erwerben muss, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen, was sein ist, erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich dass er niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts diene.“ (Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis (1793), Frankfurt 1977 (stw), S. 151)

In einer Anmerkung dazu heißt es weiter: „Derjenige, welcher ein opus verfertigt, kann es durch Veräußerung an einen anderen bringen, gleich als ob es sein Eigentum wäre. Die praestatio operae aber ist keine Veräußerung. Der Hausbediente, der Ladendiener, der Taglöhner, selbst der Friseur sind bloß operarii, nicht artifices (in weiterer Bedeutung des Worts) und nicht Staatsglieder, mithin auch nicht Bürger zu sein qualifiziert. Obgleich der, welchem ich mein Brennholz aufzuarbeiten, und der Schneider, dem ich mein Tuch gebe, um daraus ein Kleid zu machen, sich in ganz ähnlichen Verhältnissen gegen mich zu befinden scheinen, so ist doch jener von diesem, wie Friseur vom Perückenmacher (dem ich auch das Haar dazu gegeben haben mag), also wie Taglöhner vom Künstler oder Handwerker, der ein Werk macht, das ihm gehört, so langeer nicht bezahlt ist, unterschieden. Der letztere als Gewerbtreibende verkehrt also sein Eigentum mit dem Anderen (opus), der erstere den Gebrauch seiner Kräfte den er einem Anderen bewilligt (operam). – Es ist, ich gestehe es, etwas schwer die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können.“ (Ebenda)

Da verharren wohl nicht wenige in einer natürlichen oder selbst verschuldeten Unmündigkeit. Politische Autonomie und ökonomische Autarkie gehören (nicht nur bei Kant) zusammen. Wobei Autarkie nicht rural gemeint ist, sie funktioniert in erster Linie über Markt und Handel. Wer etwas zu verkaufen hat, ist ein Bürger, wer nichts zu verkaufen hat, ist kein Bürger, möchte aber auch einer werden. Es ist schon bezeichnend, dass das emanzipatorische Ziel aller Bürgerei darin liegt, nicht Herrschaft abzuschaffen, sondern zum „eigenen Herrn“ aufzusteigen. D.h., das Prinzip der Herrschaft anzuerkennen und für sich selbst in Anspruch zu nehmen, es zumindest partiell ausüben zu dürfen.

Bürger sein heißt, sein eigener Herr sein zu können, ja besser noch: zu müssen. Auch das ist ein kategorischer Imperativ: „Sei Bürger!“, sagt das bürgerliche Programm. Und wie wir es sind, und wenn wir es nicht sind, scheitert das nicht am Unwillen, sondern am Unvermögen. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung genannten Selbstbeherrschung, also Selbstknechtung ist es, die Bürger auszeichnet. Arbeitskraftverkäufer tun sich, auch wenn sie sich redlich mühen, schwer, eigene Herren zu sein, die Auslieferung ist da zu offensichtlich, sie verkaufen nämlich via Arbeitskraft sich selbst und keine von ihnen geschiedenen Waren. Lohnarbeiter sind Sklaven der bürgerlichen Freiheit.

Betriebe und Büros (inklusive Homeoffices) sind jene Orte, wo erwachsene Menschen den Großteil ihres Lebens verbringen, wo sie dienen müssen, um leben zu können. Das Bürgerrecht der Lohnabhängigen verflüssigt sich dort schnell, denken wir bloß an Entlassung und Degradierung, Mobbing und Zurechtweisung. Übereignung ist dort konstitutionell. Auf jeden Fall ist man angestellt, um anzustellen, wozu man angestellt ist. Arbeit und freie Aktivität sind nicht eins. Betriebe und Büros sind elementare Räume bürgerlicher Lebensbestimmung, nicht die Wahlurne, die politische Partei oder gar irgendeine Zivilgesellschaft. Freiheit muss am realen Betriebssystem gemessen werden, nicht an ideologischen Standards.

Das sind nun Bosheiten, die heute aber niemanden als Wahrheiten interessieren oder gar einleuchten sollen. Der bittere Begriff etwa des unselbstständig Erwerbstätigen offenbart mehr, als seinen Erfindern je bewusst gewesen ist. Er streicht nämlich den „freien Bürger“ entschieden durch. Er verrät die Unselbstständigkeit der Betroffenen, womit nicht gesagt ist, dass die Selbstständigen sind, was sie von sich behaupten. Selbstständigkeit und Markt sind letztlich unvereinbar. Das Verständnis, das der Markt von sich zulässt, ist die Anpassung der Akteure an ihn. Diese entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Im Bürger werden Menschen zu Geschäftsträgern ihrer Interessen, zu Waren- und Rechtssubjekten. Untertanen, also mündige Bürger zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht tun, was ihnen passt, sondern was ihnen passiert. Mehr lassen wir nicht zu. Bürgerliche Freiheit heißt Freiheit für den Markt.

Aufstieg als Karriere

Emanzipation wurde folglich (de)formiert zur Karriere, die mehr pro forma als de facto jedem und jeder offensteht. Je höher man sich an der Leiter zu positionieren versteht, desto leichter können Freiräume (auch, aber nicht nur) aufgrund finanzieller Potenz genutzt werden. Bürgerliche Freiheit ist etwas, das man sich kaufen kann. Das Ziel aller Nichtbürger besteht darin, Bürger zu werden, vom Unselbstständigen zum Selbstständigen aufzusteigen. Es ist immer noch ein Unglück, Arbeiter und Arbeiterin zu sein. Ob beschäftigt oder erwerbslos. Reales bürgerliches Arbeiterbewusstsein hat (im Gegensatz zum halluzinierten revolutionären Klassenbewusstsein) das auch entsprechend erfasst und die Proletarier stets dazu angehalten, wenn geht, sich eben nicht als Glied der Klasse fortzupflanzen, sondern der Klasse zu entkommen, also aufzusteigen. Umtypisierung durch Qualifizierung insbesondere der Abkömmlinge war das Ziel der Proletarier, das mit dem „eigenen Herrn“ haben sie durchaus ernst genommen. Der ganze Arbeitskampf, betrachtet man ihn retrospektiv und nicht in seinen unmittelbaren Selbstbeschreibungen, ist daher auch auf nichts anderes rausgelaufen als auf einen Kampf, um den Status des Bürgers verliehen zu bekommen. Der Klassengegensatz, so scharf und schroff er auch ausgeprägt war und empfunden wurde, war nie ein antagonistischer, sondern ein immanenter, der keiner dialektischen Lösung im Weg gestanden ist. Diese Durchlässigkeit kannte materielle, aber keine formellen Schranken. Jede und jeder kann Bürger werden, sofern er oder sie es kann.

Bürger bezeichnet jedenfalls nicht bloß eine typische Gruppe, sondern auch alle anderen, selbst atypische Konglomerate wollen und sollen sich als Bürger verstehen. Nicht Entbürgerlichung stand auf der Tagesordnung, sondern Verbürgerlichung, auch wenn dem mittlerweile zusehends äußere Grenzen gezogen werden. Die Arbeiterbewegung war jedenfalls der Prototyp aller bürgerlichen Bürgerrechtsbewegungen. Man wollte aufgrund der Subordination unter die Verwertung nicht auch noch politisch und rechtlich diskriminiert werden, sondern als spezifische Sorte Bürger akzeptiert werden. Die Erfolge aller sozialdemokratischen Fraktionen liegen auf dieser Ebene. Sie haben aus Arbeitern Bürger gemacht, essenziell, wenn auch abgeschwächt, gilt das ebenso für die zu Bürgerinnen gewordenen Arbeiterinnen. Einhergegangen ist das jedoch mit dem Verlust der Besonderheit. Solch Attitüde nimmt aktuell (von linksradikalen Restbeständen abgesehen) niemand mehr ernst.

Die Bürger werden übrigens nicht besser, wenn die Innen darauf bestehen, auch solche sein zu dürfen. Zu den eigenen Herren gesellen sich folglich die eigenen Herrinnen. So will es eine gleichberechtigende Binnenlogik, und die hat durchaus auch ihre Meriten. Doch die Bürgerei wird damit lediglich vertieft. Transformatorisch ist da nichts zu gewinnen, gar nichts. Die Integration der Arbeiter- und Frauenbewegung in den bürgerlichen Kosmos ist übrigens eine beachtliche Leistung dieser Epoche, sowohl eine des Systems als auch ihrer Bewegungen. Allerdings um den Preis, dass alles, was weiter reichte und weiter dachte, stets marginalisiert werden musste.

Natürlich könnte man dies auch gleich diversen Apologeten das bürgerliche Zeitalter als unendliche Erfolgsgeschichte lesen. „In Wahrheit hat die bürgerliche Revolution dort, wo sie wirklich stattfand, nicht aufgehört. Sie hat das gebracht, was in hegelianisch-marxistischer Terminologie durchaus als ,qualitativer Sprung‘ in der sozialen Entwicklung zu bezeichnen wäre; nämlich die formale Gleichstellung aller Menschen als Menschen vor dem Recht, die Beseitigung der ständischen Schranken, was Heiratsfähigkeit, Zugang zu den Ämtern, Besteuerung etc. betrifft. Sie hat mit der Konstituierung des freien gleichberechtigten Stimmbürgers, des Citoyen, zugleich einen Anspruch gesetzt, die weiter bestehenden faktischen Ungleichheiten des Standes- und Klassenvorurteils, der Einkommens- und Bildungsunterschiede etc. durch andauernde Kritik und systemimmanente Mobilisierung der Unterschichtsinteressen einzuebnen.“ (Robert Schediwy, Empirische Politik. Chancen und Grenzen einer demokratischen Gesellschaft, Wien, München, Zürich 1980, S. 149f) Da wird es immer besser und der Fortschritt hört nie auf. Selbst wenn das stimmen sollte (was es so nicht tut!), offenbart das einen Scheuklappenblick, der von allen ökologischen und sozialen, kulturellen und emotionalen Verwüstungen absieht. Dieser Blick ist im wahrsten Sinne des Wortes beschränkt, völlig blind gegenüber den multiplen Destruktionen.

Vokabelmixmaschine

Die kulturindustriellen Serien, denen wir frontal ausgesetzt sind, gleichen Flächenbombardements von Begriffen und Bildern. In ihren Reden betätigt die Bürgerei einen Mixer, der alles zu Mus macht. Man denke nur an das allseits gesegnete Wort „liberal“. Das hat inzwischen zu dem grotesken Ergebnis geführt, dass alle Liberale geworden sind oder doch als Liberale auftreten müssen. Das Gutwort ist freilich ein Dummwort, weil es einfach unterschiedlichste Aspekte und Anliegen in die gleiche Kiste steckt, dadurch aber auch wiederum über eine Raffinesse sondergleichen verfügt.

Die obligaten Ergüsse sind zweifellos ähnlich destruktiv wie die Zustände, für die sie herhalten. Der Treppenwitz der Geschichte geht so: Je mehr die bürgerliche Gesellschaft vulgo Kapitalismus ihr immenses Zerstörungspotenzial entfaltet, es an allen Ecken und Enden kracht und krächzt und ächzt, desto mehr werden kontrafaktisch „unsere Werte“ als die ultima ratio beschworen. Geradezu rituell und unisono. Dieser Widerspruch fällt gar nicht erst auf. Derweil erodiert das Bürgertum auch selbst. Die Stärke der Bürgerlichkeit resultiert also nicht aus der Kraft der bürgerlichen Klasse, sie scheint eher dem Reflex einer sterbenden Gesellschaftsformation geschuldet zu sein, die in ihrer Panik gar nicht anders kann, als sich fortlaufend in Erinnerung zu rufen, repetierend, sich immer wieder als existent zu behaupten. Die Botschaft ist weniger Aussage als Befehl. Ich schreie, also gehorcht mir.

Die bürgerliche Welt offenbart keine verkürzte Utopie, sie ist vielmehr eine konkrete Dystopie. Die kapitalistische Modernisierung ist an ihrem Ende und daher sollte man sich auch ihres halluzinogenen Vokabulars entledigen. Wir schwimmen im Begriffsbrei der Bürgerei. Emanzipation braucht eine neue Sprache. Adäquat wäre heute demnach, nicht zu fragen, ob man Bürger verschreckt, sondern festzustellen, dass Bürger schrecklich sind. Das Pathos ist ranzig. Es gilt, nicht mehr auf den engagierten Bürger zu setzen, sondern diese Kultfigur ins Museum zu verfrachten. Solange wir diese Hülle nicht abstreifen, landen wir unweigerlich dort, wo wir schon sind. Der Bürger ist keine Appellationsinstanz, sondern ein Abstoßungspunkt. Nicht anzurufen ist das Bürgerliche, sondern abzuberufen.