Friedrich Engels, Freund

von Hermann Engster

Amicus certus in re incerta cernitur.
Der wahre Freund erzeigt sich in unsichrer Zeit.
(Marcus Tullius Cicero, 106 – 43 v.u.Z.)

Dear Frederick! Lieber Mohr! – so redeten Karl Marx und Friedrich Engels bisweilen einander in ihren Briefen an. (Mohr in Anspielung auf Marx‘ dunklen Teint.) So lautet auch der Titel des von Klaus Körner im letzten Jahr in Auswahl herausgegeben, mit Kommentaren und einer Einleitung versehenen Briefwechsels beider (erschienen bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt). Es sind bewegende Zeugnisse einer persönlich tiefen und intellektuell produktiven Freundschaft, die 1844 im Pariser Exil begann und bis zu Marx‘ Tod 1883 in London währte. Sie geben zudem anschauliche Einblicke in die Entstehung von Marx‘ Monumentalwerk Das Kapital und die Verwicklungen beider in die politischen Kämpfe ihrer Zeit.

Es gibt, so stellt Körner fest, „kein zweites Paar politischer Denker und Kämpfer im 19. Jahrhundert, das über vier Jahrzehnte so eng zusammengearbeitet hat und in seinen Ideen und Gedanken so übereinstimmte wie Marx und Engels“; und er zitiert Marx‘ Tochter Eleanor, die meinte, die Identität der Ansichten beider sei so groß gewesen, dass man beide nur in einer gemeinsamen Biographie darstellen könne.

Dabei sind sie sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, in Herkunft, Ausbildung, Beruf, Arbeitsweise, Lebensform. Marx stammt aus einem jüdischen Elternhaus in Trier, soll zunächst Jurist werden, wirft sich dann aber auf die Philosophie, will Philosophie-Professor werden, was aber, da er als linker Demokrat gilt, von dem ultrakonservativen Kultusminister verhindert wird. Er geht nach Paris, das unter europäischen Intellektuellen als Zentrum liberaler und sozialistischer Ideen gilt, und wird zum Kapitalismus-Kritiker.

Ganz anders Engels‘ Weg. Er entstammt einer konservativen protestantischen Fabrikantenfamilie in Barmen, sein Vater ist Mitinhaber einer Baumwollspinnerei mit Niederlassung in Manchester. Schon als 19-Jähriger prangert Friedrich das soziale Elend seiner Zeit an und schreibt in seinen Briefen aus dem Wupperthal von 1839:

In Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kinde gibt.

Er absolviert im weltoffenen Bremen eine kaufmännische Lehre, besucht neben seinem Wehrdienst in Berlin Vorlesungen an der Universität, findet Kontakt zu junghegelianischen Zirkeln, lernt bei einem Praktikum in Manchester mit Entsetzen die Fabrikhölle des Kapitalismus kennen, was er in seinem erschütternden Bericht über Die Lage der arbeitenden Klasse in England verarbeitet. Er nimmt teil am bewaffneten Kampf in Baden und der Pfalz, flüchtet dann nach England. Es kommt zu einer leidlichen Versöhnung mit dem erzürnten Vater, der ihm eine Stelle für Büroarbeiten in der Filiale in Manchester verschafft, dies mit entsprechend schmalem Salär. Engels ist also, anders als oft behauptet wird, kein „reicher Fabrikant“, sondern muss als Angestellter selbst sehen, wie er über die Runden kommt. Erst später, als er Teilhaber wird, kommt er zu Wohlstand.

Die Kritik am Kapitalismus führt Marx und Engels zusammen. Ihr großes gemeinsames Ziel ist die europäische Revolution. Doch scheint die Zeit dafür noch nicht gekommen, da das kapitalistische System noch nicht voll entwickelt ist, und Marx widerspricht heftig Mitstreitern, die meinen, Agitation reiche aus, um eine Revolution ausbrechen zu lassen. Als Zwischenstufe, so Marx, müsse erst eine bürgerliche Revolution gegen die Feudalherrschaft erfolgen, doch mit dem Scheitern der 1848/49er-Revolution zerschlägt sich diese Aussicht. Dies alles ist seit 1844 in den Briefen dokumentiert, gut kommentiert vom Herausgeber, der auch die zahlreichen französischen und englischen Einsprengsel übersetzt.

Marx‘ Arbeitsplatz wird der Lesesaal des Britischen Museums, ein idealer Ort, denn hier kann er neben der vollständig vorhandenen wissenschaftlichen Literatur auch Einblick nehmen in die Berichte der Unternehmen, die ihm eine immense Fülle an empirischem Material liefern, von dem das Kapital nur so überquillt. Marx arbeitet äußerst penibel und selbstkritisch und ist bemüht, seine theoretischen Aussagen ständig mit neuen Belegen abzusichern.

Die Lage des arbeitenden Marx in England

Marx lebt mit seiner Frau Jenny, die er sehr liebt, in London; sechs Kinder haben sie, von denen drei sterben. Über Wasser hält er sich und seine Familie zunächst mit Zeitungsartikeln, die finanziell wenig einbringen. Ständig ist er von Schulden bedrängt, häufig führt ihn der Gang ins Pfandhaus. Er schreibt am 8. Oktober 1853 an Engels:

Lieber Engels,

D’abord [übrigens] muß ich dich bitten – wo möglich – mir umgehend wenigstens ein Minimum an Geld zu schicken. Vor zwei Wochen zahlte Spielmann [ein Londoner Bankier] endlich mit einem Abzug von beinahe 2 £. In der Zwischenzeit ist die Schuldenlast gestiegen, das Nötigste so komplett ins Pfandhaus gewandert und die Familie so abgerissen, daß schon seit 10Tagen kein sou mehr im Haus. Daß Spielmann mich betrogen hat, davon habe ich jetzt Beweise in der Hand, aber à quoi bon [was nützt es]? … Freitag und heute nur mit Geldlaufereien zum Teufel gegangen … Den Freitagsartikel habe ich in der Nacht geschrieben; dann von 7 Uhr morgens bis 11 meiner Frau diktiert und dann mich auf die Beine nach der City gemacht. … Ich muß sehen, wie ich mich diese Tage durchschlage. Kredit für Lebensmittel … nicht vorhanden.

Als Engels später Mitinhaber der Firma in Manchester wird und zu einigem Wohlstand kommt, kann er Marx besser unterstützen. Am 22. Januar 1875 schreibt er:

In den ersten Tagen des Februar werde ich Dir 5 £ schicken und bis auf weiteres kannst Du jeden Monat darauf rechnen. Wenn ich dafür auch mit einem Puckel voll Schulden ins neue Bilanzjahr eintrete, c’est égal. Ich wollte nur, du hättest mir die Geschichte 14 Tage früher geschrieben. Mein Alter hatte mir das Geld für ein Pferd zu Weihnachten zur Verfügung gestellt, und da ich ein gutes fand, hab‘ ich es vorige Woche gekauft. Hätte ich Deine Geschichte gewußt, so hätt‘ ich noch ein paar Monate gewartet und die Unterhaltskosten gespart, indes never mind, das braucht nicht gleich bezahlt zu werden. Aber es ist höchst ärgerlich, daß ich hier ein Pferd halten soll, während Du mit Deiner Familie im Pech sitzest. Übrigens versteht es sich von selbst, daß du Dich durch die Zusage der 5 £ monatlich nicht abhalten läßt, auch außerdem in schweren Fällen an mich zu schreiben, denn was irgend möglich ist, das tu ich.

Fünf £entsprächen heute etwa 250 €.Zu Marx‘ finanziellen Schwierigkeiten kommt der Ärger über seine Verwicklung in den Kölner Kommunistenprozess von 1852. In ihm sind elf Mitglieder des „Bundes der Kommunisten“ wegen Verschwörung und Aufruhrs angeklagt. Die Anklage operiert mit gefälschtem Beweismaterial und meineidigen Zeugen. Marx wird mit hineingezogen und schreibt im selben Brief:

Dieser ganz infame Klatsch … wird natürlich begierig aufgegriffen, um die eigene Jämmerlichkeit mir gegenüber und das feige Zurückziehen zu decken. … Wenn ich bequem, wenigstens sorglos, lebte, würde ich natürlich pfeifen auf diese Gemeinheiten. Aber den bürgerlichen Dreck jahrelang und noch mit diesem und ähnlichem Dreck gewürzt zu bekommen, c’est un peu fort [das ist ein bisschen zu stark]. … Du siehst, wie nötig es ist, meine Broschüre [i.e. „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess zu Köln“] nach Deutschland zu bringen.

Gepeinigt wird Marx von Krankheiten; neben rasenden Kopfschmerzen, denen er lesend, denkend, schreibend mit ungeheurer Anstrengung sein Werk abringt, plagen ihn Leber- und Gallenentzündungen, dazu quälende Furunkel. Im Brief vom 22. Mai 1854 schreibt er:

Lieber Engels,

Meine Geschichte – jetzt 14 Tage alt – hat die Krise erreicht. Ich konnte wenig sprechen, und selbst das Lachen tut mir weh von wegen großer Eiterbeule zwischen Nase und Mund … Der Teufel soll solche Sch… 14 Tage am Kopf durchmachen. Da hört aller Witz auf. In den letzten acht Tagen mußte ich Lesen und Rauchen total aufgeben … Zur Vermehrung des Pechs seit Freitag (Donnerstag nacht) alle drei Kinder die Masern, so daß das Haus in wahres Lazarett verwandelt.

Ein von ihm besonders geliebtes Kind, Musch genannt, stirbt, und er schreibt an Engels am 6. April 1855:

Lieber Engels,

Der arme Musch ist nicht mehr. Er entschlief (im wörtlichen Sinne) in meinen Armen heute zwischen fünf und sechs Uhr. Ich werde nie vergessen, wie Deine Freundschaft diese schreckliche Zeit uns erleichtert hat. Meinen Schmerz um das Kind begreifst du.

Und sechs Tage später, am 12. April, schreibt er:

Lieber Engels,

Das Haus ist natürlich ganz verödet und verwaist seit dem Tode des teuren Kindes, das eine belebende Seele war. Es ist unbeschreiblich, wie das Kind uns überall fehlt. Ich habe schon allerlei Pech durchgemacht, aber jetzt erst weiß ich, was ein wirkliches Unglück ist. Ich fühle mich broken down. Zum Glück hatte ich seit dem Begräbnistag so tolle Kopfschmerzen, daß Denken und Hören mir vergangen ist.

Unter all den furchtbaren Qualen, die ich in diesen Tagen durchgemacht habe, hat mich immer der Gedanke an Dich und Deine Freundschaft aufrecht gehalten und die Hoffnung, daß wir noch etwas Vernünftiges in der Welt zu tun haben.

Dessen ungeachtet arbeitet er mit größter Anstrengung an seinem Hauptwerk, dem Kapital. Am 2. April 1858 schickt er seinem dear Frederick einen ausführlichen Entwurf (bei Körner sechs Seiten lang) zum ersten Teil, der mit der Hauptsache schließen soll:

3. Das Kapital. Dies ist eigentlich das Wichtigste dieses ersten Hefts, worüber ich am meisten Deine Ansicht haben muß. Heute aber kann ich nicht fortschreiben. Der Gallendreck macht mir schwer, die Feder zu führen, und das Herabsenken des Kopfs auf das Papier macht mich schwindlig. Also for next time. Salut. Dein K.M.

Engels‘ Wunde, Marx‘ Herzlosigkeit und Reue

Engels ist mit zwei Frauen in Liebe verbunden. Zum einen mit der irischen Baumwollspinnerin Mary Burns, mit der er (nach allgemeiner Meinung) bis zu ihrem Tod im Jahr 1863 verheiratet ist; zum andern mit ihrer jüngeren Schwester Lydia, genannt Lizzy; diese heiratet Engels einen Tag vor ihrem Tod am 11. September 1878; beide Schwestern leben zeitweilig gemeinsam mit Engels in seinem Haushalt in Manchester. Als Mary unvermutet stirbt, schreibt Engels an Marx einen Tag danach am 7. Januar 1863:

Lieber Mohr,

Mary ist tot. Gestern Abend legte sie sich früh ins Bett, als Lizzy sich gegen 12 Uhr schlafen legen wollte, war sie schon gestorben. Ganz plötzlich, Herzleiden oder Schlagfluß. Ich erfuhr es erst heute morgen, am Montag war sie noch ganz wohl. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie mir zumute ist. Das arme Mädchen hat mich mit ihrem ganzen Herzen geliebt. Dein F.E.

Einen Tag danach, am 8. Januar, antwortet Marx:

Lieber Engels,

Die Nachricht vom Tode der Mary hat mich ebenso überrascht als [=wie] bestürzt. Sie war sehr gutmütig, witzig und hing fest an Dir.

Mag der Teufel wissen, daß nichts als Pech in unsern Kreisen sich ereignet. Ich weiß auch absolut nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Meine Versuche, in Frankreich und Deutschland Geld aufzutreiben, sind gescheitert … Abgesehn davon, daß wir nichts mehr kreditiert erhalten, außer Metzger und Bäcker, was auch mit Ende dieser Woche aufhört … dazu haben die Kinder keine Kleider und Schuhe, um auszugehn. (…)

Engels ist tief getroffen von dieser schnöden Antwort und antwortet am 13. Januar:

Lieber Marx,

Du wirst es in Ordnung finden, daß diesmal mein eignes Pech und Deine frostige Auffassung desselben es mir positiv unmöglich machten, Dir früher zu antworten.

Alle meine Freunde, einschließlich Philisterbekannte [Philister=Spießbürger], haben mir bei dieser Gelegenheit, die mir wahrhaftig nahe genug gehen mußte, mehr Teilnahme und Freundschaft erwiesen, als ich erwarten konnte. Du findest den Moment passend, die Überlegenheit Deiner kühnen Denkungsart geltend zu machen. Soit! [Sei’s drum!]

Du weißt, wie meine Finanzen stehn, Du weißt auch, daß ich alles tue, Dich aus dem Pech zu reißen. Aber die größere Summe, von der Du sprichst, kann ich jetzt nicht auftreiben, wie Du auch wissen mußt. Es sind drei Wege offen …

Elf Tage später, am 24. Januar, schreibt Marx zurück:

Lieber Frederick,

Ich hielt es für gut, einige Zeit verstreichen zu lassen, bevor ich dir antwortete. Deine Lage einerseits, meine andrerseits machten es schwer, die Situation „kühl“ aufzufassen.

Es war von mir sicher unrecht, daß ich dir diesen Brief schrieb, und ich bereute ihn, sobald er abgeschickt war. Es geschah dies jedoch keineswegs aus Herzlosigkeit. Meine Frau und Kinder werden mir bezeugen, daß ich beim Eintreffen Deines Briefs (der frühmorgens kam) so sehr erschüttert war als [=wie] beim Todesfall der mir Nächsten. Als ich Dir aber abends schrieb, geschah es unter dem Eindruck sehr desperater Umstände. Ich hatte den broker im Haus vom landlord [broker: ein vom Vermieter zwangsweise einquartierter Aktienhändler als Untermieter], einen Wechselprotest vom Metzger, Mangel an Kohlen und Lebensmitteln im Haus und Jennychen [Marx‘ Frau] im Bett liegen. Unter solchen circumstances weiß ich mir generally nur durch den Zynismus zu helfen. (…)

Zwei Tage darauf, am 26. Januar, antwortet Engels:

Lieber Mohr,

Ich danke Dir für Deine Aufrichtigkeit. Du begreifst selbst, welchen Eindruck Dein vorletzter Brief auf mich gemacht hat. Man kann nicht so lange Jahre mit einem Frauenzimmer [nach damaligem Sprachgebrauch nicht abwertend] zusammenleben, ohne ihren Tod furchtbar zu empfinden. Ich fühlte, daß ich mit ihr das letzte Stück meiner Jugend begrub. Als ich Deinen Brief erhielt, war sie noch nicht begraben. Ich sage Dir, der Brief lag mir eine Woche lang im Kopf, ich konnte ihn nicht vergessen. Never mind, Dein letzter Brief macht ihn wett, und ich bin froh, daß ich nicht auch mit der Mary gleichzeitig meinen ältesten und besten Freund verloren habe. Nun zu Deinen Angelegenheiten. Ich ging gleich heute zu Watts … Mit ihm ist es nichts. … Seine Gesellschaft pumpt nicht mehr. Er gab mir eine andre Adresse …

Großmut: griech. megalopsychia, lat. magnanimitas, die Charaktereigenschaft einer Persönlichkeit, Handlungen gegen die eigene Person vergeben zu können. Grimms Wörterbuch: groszmuth ist edelmuth mit selbstbesiegung. (Wikipedia)

Friedrich Engels, Vollender

Ständig drängt Engels seinen Freund, endlich das Kapital fertig zu schreiben, und schließlich erscheint 1867 in Hamburg der erste Band. Doch bleibt der erhoffte finanzielle Erfolg aus. Nach vier Jahren wird die Erstauflage von tausend Exemplaren verkauft. Resigniert bemerkt Marx, das Kapital werde ihm nur so viel einbringen, wie er für die Zigarren bezahlt habe, die er bei der Arbeit geraucht habe. Engels, Mitinhaber der Firma geworden, kann Marx nun stärker unterstützen. Nach seinem Umzug nach London treffen sich die Freunde täglich, sodass der Briefwechsel spärlich wird. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit den Sozialdemokraten. Marx plagen zunehmend Gesundheitsprobleme, mit dem Tod seiner geliebten Frau Jenny 1881 verliert er den Lebensmut. Am Nachmittag des 14. März 1883 findet ihn seine Haushälterin Helene Demuth tot in seinem Sessel vor.

Wo aber sind die weiteren Arbeiten zum Kapital? Helene Demuth zeigt Engels verschnürte Manuskript-Konvolute, die Grundlagen für Band zwei und drei des Kapital, einiges davon ausgearbeitet, vieles aber nur skizzenhaft hingeworfen. Es ist eine ungeheure Arbeit, die Engels auf sich nimmt, alles zu ordnen und auszuformulieren, zumal Marx eine furchtbar unlRe: eserliche Handschrift hat. 1885 gibt Engels den zweiten Band des Kapital heraus, erst 1894 folgt der ungleich arbeitsaufwändigere dritte.

Sozialdemokraten und Kommunisten, die ihm ratsuchend schreiben oder ihn in London aufsuchen, gibt er bereitwillig Auskunft, beschränkt sich aber auf Marx‘ Wirken und theoretische Fragen und gibt ihnen keine taktischen politischen Ratschläge – diese Probleme müssen sie vor Ort selbst lösen. Seine Auffassung von der Revolution ändert sich. Statt Straßenkämpfen mit Barrikaden wie in der Frühzeit kann er sich auch andre Formen einer Revolution vorstellen. Unabdingbar dafür sei, so konstatiert er in seiner Kritik des Erfurter Programms der SPD von 1891, die Abschaffung der Monarchie und die Gründung einer demokratischen Republik; denn nur in dieser könne die Arbeiterschaft zur Herrschaft kommen:

Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, daß unsre besten Leute unter einem Kaiser Minister werden sollten …

Es geht ihm um die revolutionär-demokratische Vollendung der nationalen Einigung, die unter Bismarck reaktionär war und unvollendet geblieben ist. Die Sozialdemokraten aber folgen Lassalle und machen ihren Frieden mit Kaiser und Kapital. Sie bauen auf eine Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft durch staatliche Sozialgesetzgebung und müssen seitdem, notgedrungen, alles daransetzen, das Funktionieren des Kapitalismus zu gewährleisten, weil von dessen Erträgen auch einiges für die Lohnabhängigen abfällt, und wenn es für diese prekär wird, dürfen sie soziale Reparaturarbeiten verrichten.

Engels‘ Einstellung zum Staat bleibt deshalb negativ: Der Staat sei ein Instrument der herrschenden Klasse und die herrschende Monarchie deren bizarrste Staatsform:

Aber das Faktum, daß man nicht einmal ein offen republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft. … Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Es ist selbstredend, daß sie sich weder von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern, ihren Gegnern und Ausbeutern, befreien lassen kann, noch von den Kleinbürgern und Kleinbauern, die, von der Konkurrenz der großen Ausbeuter erdrückt, keine andre Wahl haben, als entweder diesen oder den Arbeitern Heeresfolge zu leisten.

Engels‘ pessimistische Hellsicht findet ihre Bestätigung in der revolutionären Situation in Deutschland von 1918/19: Aus Furcht vor einem Aufstand des Proletariats verbündet sich die Sozialdemokratie mit den kompromittierten Eliten von Adel, Bourgeoisie und Militär. Als das Proletariat nicht klein beigibt, lässt der sozialdemokratische Reichwehrminister Noske die aufständischen Arbeiterinnen und Arbeiter niedermetzeln, denn wie er, selbstgefällig in eine tragische Pose sich werfend, bekennt: „Einer musste ja den Bluthund machen.“

Am 17. März 1883 hält Engels seine großartige Grabrede auf Marx, mit der auch Körner seine Ausgabe der Briefe beschließt. Marx, betont Engels, war vor allem Revolutionär, und er schließt mit den Worten:

Und deswegen war Marx der bestgehaßte und bestverleumdete Mann seiner Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus. Bourgeois, konservative wie extrem-demokratische, logen ihm um die Wette Verlästerungen nach. Er schob das alles beiseite wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn äußerster Zwang da war.

Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann kühn sagen: Er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen persönlichen Feind.

Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so auch sein Werk!

Am 5. August 1895 stirbt Engels in London im Alter von 74 Jahren. Die Urne mit seiner Asche wird vor der Küste des von ihm gern aufgesuchten Seebads Eastbourne ins Meer versenkt.

Von allem, was die Weisheit
zum Glück des ganzen Lebens bereithält,
ist das Größte die Freundschaft.
(Epikur, 341 – 271 v.u.Z.)