Die Utopie eines nicht-faschistischen Bürgers

„Äußeres weist innen auf Verschüttetes.“ (Reto Hänny)

von Götz Eisenberg

Im Jahr 1977 führten ein paar Freunde und ich ein langes Gespräch mit Peter Brückner. Wir waren mit einem VW-Käfer nach Hannover gefahren und saßen nun in der geräumigen Altbauwohnung um einen Teetisch. Ein Tonband lief, und Peter Brückner erzählte uns seine Lebensgeschichte. Ab und zu tapste sein Sohn Simon herein, der gerade laufen lernte. Peter ging damals bereits mit dem Plan schwanger, ein autobiographisches Buch zu schreiben, das 1980 unter dem Titel Das Abseits als sicherer Ort im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist. Eine Passage aus diesem Gespräch fiel mir dieser Tage ein, als ich begann, über einen Text nachzudenken, den ich zum Heft der Streifzüge zum Thema Bürger beisteuern könnte. Brückner sprach über seine Entzweiung mit Alexander Mitscherlich, in dessen Umfeld er sich in den frühen 1960er Jahren bewegte. Mitscherlich habe seit dem Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von der Entstehung eines Menschentypus geträumt, der fähig sein würde, sich in andere einzufühlen und eine neue, friedliche Welt zu gestalten. Mitscherlich habe damals den Leuten prophezeit, sie würden bei seinem Auftauchen erschrecken, weil dieser Typus ihre Ordnung der Dinge in Frage stellen würde. Als der von ihm vorausgesagte Typus in der antiautoritären Revolte auftauchte, habe Mitscherlich ihn nicht erkannt, sei selbst erschrocken und habe sich distanziert.

Ich glaube nicht, dass damals in unserem Gespräch der Begriff „nicht-faschistischer Bürger“ fiel, aber seither geistert er oder das, was mit ihm gemeint ist, durch meine Gedanken. Aktualisiert wurde mein Vorhaben, etwas über diesen Menschentyp zu schreiben, durch die Lektüre von Sándor Márais Autobiographie Bekenntnisse eines Bürgers. Dieses Buch ist durchzogen und getragen von einer Idee der Bürgerlichkeit, die mit Unabhängigkeit und Freiheit assoziiert ist. Damals in Brückners Wohnung dachten wir in Kategorien des Klassenkampfes, die uns den Blick auf das verstellten, was mit der anthropologischen „Mutation“ gemeint sein könnte. Dabei wusste oder ahnte Brückner längst, dass der Typus des „Genossen“, der damals im Schwange war, nicht allzu weit entfernt von jener Bürgerlichkeit war, die den Faschismus möglich gemacht hatte. Helmut Lethen berichtet in seiner Autobiographie voller Scham von seinen Heldentaten als KPD/AO-Genosse, die zum Beispiel darin bestanden, das Büro von Peter Szondi zu stürmen, seinen Schreibtisch abzuräumen und ihm seine Bücher zu klauen. Ähnliches erlebte Adorno in Frankfurt, als die Lederjacken-Fraktion des SDS das Institut für Sozialforschung besetzte. Mir fällt gerade eine Szene aus einem soziologischen Seminar ein, an dem ich Mitte der 1970er Jahre teilnahm. Der Dozent ließ Bücher herumgehen, die er aus seiner privaten Bibliothek mitgebracht hatte. Einzelne Teilnehmer behandelten diese Bücher äußerst grob und warfen sie sich zu. Einzelne Exemplare fielen zu Boden. Irgendwann verbat sich der Dozent diese Behandlung seiner Bücher und forderte uns zu einem behutsamen Umgang mit ihnen auf. Er erntete Gelächter und Unverständnis. In den Köpfen der zu Genossen verpuppten Bürgersöhne geisterte eine Vorstellung vom Proletarier herum, der unsentimental war und sich ungehobelt benahm. Diesem Typus versuchte man sich anzunähern. Niemand hatte in dieser Atmosphäre den Mut, dem Dozenten beizuspringen. Auch ich nicht. Ich schämte mich – und schämte mich zugleich meiner Scham.

Rückblickend werden wir sagen müssen, dass Mitscherlich und Adorno am Gestus des antiautoritären Rebellen womöglich zeitig etwas wahrgenommen hatten, was dann in der sogenannten proletarischen Wende deutlich zutage trat, als der alte autoritäre Charakter im Gewand des gestählten Genossen seinen traurigen Urständ feierte. Freud hatte diesen Mechanismus „nachträglichen Gehorsam“ genannt: Ein Sohn, der gegen den Vater rebelliert hat, um sich von ihm zu lösen und einen eigenen Weg zu gehen, zollt ihm oft, wenn er selbst Mann geworden ist, einen „nachträglichen Gehorsam“, indem er sein Leben nun doch nach dem Vorbild des Vaters einrichtet. Diese Dynamik hat sich hinter dem Rücken vieler ehemaliger Rebellen abgespielt. Herbert Marcuse sprach von einem „psychischen Thermidor“: einer Selbstblockierung, die eine mögliche Befreiung innerlich verneint. Die Akteure verbargen das vor ihrem Bewusstsein, indem sie die alten bürgerlich-autoritären Haltungen zu proletarischen Tugenden umdeklarierten.

* * *

Was könnte das sein, ein nicht-faschistischer Bürger? Die entscheidende Frage lautet: Wie werden Verdrängung und Triebverzicht im Subjekt durchgesetzt? Ohne sie ist laut Freud keine Kultur möglich – mit ihnen mitunter allerdings auch nicht. Wird Triebverzicht gewaltsam erzwungen, wie es „schwarze Pädagogik“ programmatisch betrieb, entstehen Menschen, die eine Neigung davontragen, das, was sie in sich selbst niederhalten, aus sich herauszusetzen und an Sündenböcken zu verfolgen. Alles, was nicht sichtlich ihresgleichen ist, kitzelt in ihnen einen Verfolgungs- oder gar Vernichtungsimpuls hervor. Je rigider die Erziehung, desto heftiger das Verlangen, sich am anderen für eigene Verzichtleistungen schadlos zu halten: „Der da, der grenzt sich nicht so ein wie ich! Der lebt sich aus, während ich mich ständig am Riemen reiße!“ Beim zwanghaft selbstbeherrschten Menschen entsteht eine Art Juckreiz unterdrückter Gefühle. Nietzsche hat diesen Mechanismus in einem Selbstbeherrschung betitelten Aphorismus in seiner fröhlichen Wissenschaft prägnant beschrieben. Ständig fühlt der zwanghaft selbstbeherrschte Mensch sich bedroht, überall sieht er Kräfte am Werk, die ihn in Frage stellen. Ressentiments und Lustfeindlichkeit schlagen dem um sein Glück Betrogenen aus allen Poren. Wie die Wünsche nach einem Mehr an Lust und Befriedigung, die ihn von innen bedrohen, so drängen draußen die Kellerratten der Revolution „aus der Tiefe“ heraus. Die Wiener Rockband Drahdiwaberl hat in ihrem Stück Psychoterror aus dem Jahr 1981 diesen Typ treffend beschrieben.

* * *

Nun soll und kann der Sozialcharakter des autoritären Bürgers und Kleinbürgers – der verschärften Variante des Bürgers – nicht den Faschismus erklären. Sagen wir es so: Diese Form der Subjektausstattung gehört zu den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit des Faschismus, ohne ihre massenhafte Verbreitung wäre er nicht möglich gewesen. Daher rührt bei Reich, Fromm, Mitscherlich, Adorno und anderen das Bestreben darüber nachzudenken, wie Menschen beschaffen sein müssten, die für derlei nicht anfällig wären. Erstrebenswert wäre ein Subjektaufbau, der einen kleinen Grenzverkehr mit dem „Anderen“ der Person, ihrem verfemten Teil – in der Psychoanalyse würde man sagen: mit dem Unbewussten – möglich macht. Innen wird im Prozess des Erwachsenwerdens vieles verschüttet. Erwachsenwerden geht in unserer Kultur mit Wunschvernichtung und Ich-Einschränkungen einher, die ein Tribut an Herrschaft darstellen und geschichtlich längst nicht mehr nötig wären. Denk- und wünschbar wäre eine Form von Triebverzicht, die durch Einsicht zustande käme. Sándor Márai ging bei einem längeren Englandaufenthalt auf, „dass freiwillige Disziplin mit einer gewissen relativen Freiheit gleichbedeutend ist“ und Demokratie und Selbstbeherrschung zusammengehören. Sublimierung, in der die ursprünglichen Triebziele verwandelt und gebändigt fortleben, träte an die Stelle einer rigiden Triebunterdrückung. Der Menschentyp, den ich mangels anderer Begriffe als nicht-faschistischen Bürger bezeichne, würde die schäbigen Seiten des Bürgers überwinden und seine besten Züge aufbewahren. Er wäre im Hegel’schen Sinn eine gelungene dialektische Aufhebung der Widersprüche des bürgerlichen Subjekts. Er könnte es ertragen, dass in ihm verschiedene Teilpersonen koexistieren und gelegentlich im Streit miteinander liegen. Wenn innen nicht gewaltsam Einheit hergestellt wird, muss sie auch draußen nicht herrschen. Die dem getretenen, geduckten und unterdrückten „kleinen Mann“, an den Wilhelm Reich seine berühmte Rede gerichtet hat, eigene Wut auf die Differenz könnte sich zurückbilden und schließlich absterben, wenn den Menschen von den Verhältnissen weniger Bosheit eingepresst würde. Voraussetzung dafür ist ein gewisses Maß an Angstfreiheit und ökonomisch-sozialer Sicherheit. Insofern ist der Sozialstaat, der die Lebensrisiken einigermaßen abfedert, Voraussetzung der Demokratie. Unter dem Einfluss von übergroßer Angst regredieren Menschen auf einfachere Mechanismen der psychischen Regulation wie Spaltung, Projektion und Verleugnung. Das Differenzierungsvermögen bildet sich zurück und weicht einem Bedürfnis nach übersichtlichen Freund-Feind-Verhältnissen. Wenn der nicht-faschistische Menschentypus zum dominierenden Sozialcharakter werden soll, wäre es nötig, den Kindern einen freundlichen Empfang zu bereiten und ihnen verlässliche Räume zur Verfügung zu stellen, in denen sie die Stufen ihrer psychischen Geburt durchlaufen und sich zu Menschen in einer menschlichen Welt entwickeln können.