Der Sozialstaat als Erziehungsanstalt*

von Peter Samol

Das Vorhandensein von Arbeitslosigkeit ist in kapitalistischen Gesellschaften eigentlich der Normalzustand. Während des 70-jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland betrug die Zeit der Vollbeschäftigung gerade einmal zwölf Jahre. Das war von 1961 bis 1973, ist also schon sehr lange her. Danach nahm die Arbeitslosigkeit in Deutschland stetig zu; genauso wie in allen anderen Industrieländern. Bereits gegen Ende 1973 überstieg sie hierzulande die Millionen- und im Jahr 1982 die Zweimillionengrenze. Auf dem Höchststand im Jahr 2005 lag die Zahl der Arbeitslosen knapp über fünf Millionen.

Wer arbeitslos wird, d.h. seine Arbeitskraft nicht im Rahmen einer bezahlten Berufstätigkeit verkaufen kann und auch kein Vermögen besitzt, droht von allem, was ihm oder ihr bis dahin selbstverständlich war, abgeschnitten zu werden und sozial am Rand zu stehen. In dieser Situation bleibt einem in der Regel nichts anderes übrig, als sich an die sozialstaatlichen Institutionen zu wenden. Sofern der Job kein Minijob war, hat man ja auch zuvor regelmäßig Beiträge an die Arbeitslosenversicherung abgeführt. Damit beginnt allerdings ein verwaltetes Leben, bei dem man den zuständigen Behörden nahezu vollkommen ausgeliefert ist. Dabei galt immer schon der Grundsatz, dass Sozialleistungen die Aufnahme von Arbeit nicht unattraktiv machen dürfen. In diesem Sinne ist es nur folgerichtig, dass die sozialstaatlichen Leistungen um so restriktiver werden müssen, je schlimmer es in der Arbeitswelt zugeht. Schließlich sollen sie stets unattraktiver sein als die Jobs, die im Angebot sind. Dieser Logik folgten auch die berühmt-berüchtigten Hartz-Reformen in den Jahren 2002 bis 2005. (…) Seitdem sind Arbeitslose in zwei Anspruchsklassen sortiert. Zum einen in die Kurzzeitarbeitslosen mit Bezug von Arbeitslosengeld I (kurz: ALG I), zum anderen in die viel schlechter gestellten Langzeitarbeitslosen mit Bezug von Arbeitslosengeld II (ALG II), das im Allgemeinen als Hartz IV bezeichnet wird. Seit der Einführung beziehen jährlich etwa 4,5 Millionen arbeitsfähige Menschen diese Leistung. Zählt man deren Angehörige hinzu, beträgt die Zahl der Hartz-IV-Empfänger sechs Millionen. Das sind rund acht Prozent der Bevölkerung. Diese Zahlen blieben über die Jahre hinweg nahezu konstant und wurden selbst in Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs kaum reduziert.

Jedem kann in relativ kurzer Zeit blühen, zum Empfänger dieser Leistung zu werden. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit (bzw. maximal zwei Jahren sofern man über 50 Jahre alt ist) führt daran kein Weg vorbei, es sei denn, man verfügt über ein größeres Vermögen, das man fast vollständig aufbrauchen muss, bevor man Hartz IV beziehen darf. Immer mehr Menschen, die arbeitslos werden, müssen Hartz IV sogar von Anfang an beantragen, weil sie entweder die Anwartschaftszeiten für das Arbeitslosengeld I nicht erfüllen oder während ihrer Arbeitstätigkeit so wenig verdient haben, dass sie zusätzlich zum Arbeitslosengeld I auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Eins von beidem trifft auf über 60 Prozent der Antragsteller zu. Der Hauptgrund für diesen großen Anteil ist die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse. (…)

Jeder Hartz-IV-Bezieher ist dazu verpflichtet, zur Aufhellung der eigenen Vermögensverhältnisse beizutragen, damit die Bedürftigkeit festgestellt werden kann. Alles was sie oder er besitzt muss offengelegt werden. Hierzu muss ein 16-seitiges Antragsformular ausgefüllt werden. Die darin zu beantwortenden Fragen sind umfangreicher als die jährliche Einkommenssteuererklärung. Sämtliche Einkünfte, das gesamte Vermögen, die Wohnverhältnisse, Wertgegenstände – alles muss offengelegt werden. Es gibt für den Antragsteller auch kein Bankgeheimnis mehr, denn die Jobcenter fordern häufig Einsicht in sämtliche Kontoauszüge der letzten drei Monate. Besitzt man Ölgemälde, Antiquitäten, Edelmetalle oder vielleicht eine wertvolle Briefmarkensammlung? Ein vorhandenes Kraftfahrzeug darf nicht mehr als 7.500 Euro wert sein, sonst muss es verkauft werden. Es ist schlimmer als wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür stünde. Außerdem muss man Angaben zu dritten Personen machen, beispielsweise zu Lebenspartnern, Mitbewohnern oder Vermietern. Kommt man all diesen Informationspflichten nicht nach, können Leistungen wegen fehlender Mitwirkung gestrichen oder gar nicht erst gewährt werden. Generell muss man jedes Vermögen bis auf ein geringes Schonvermögen aufbrauchen. Durch Datenabgleiche wird außerdem ermittelt, ob Hartz-IV-Empfänger bei der Minijob-Zentrale gemeldet sind, eine Rente beziehen oder einen Freistellungsauftrag der Bank abgegeben haben. Ferner: Wurden sämtliche anderen Ansprüche an den Sozialstaat ausgeschöpft? Generell müssen alle staatlichen Transferleistungen vorrangig bezogen werden und werden gegebenenfalls vollständig vom Arbeitslosengeld abgezogen. Außerdem muss jede noch so geringfügige Einkommensänderung innerhalb der Bedarfsgemeinschaft sofort gemeldet werden, was dann zu einer Neuberechnung der ausbezahlten Leistungen führt. Und sei es auch nur, weil ein Kind Zeitungen austrägt, um sein Taschengeld aufzubessern. (…)

Mitwirkungspflichten

Die Aufnahme einer neuen Arbeit gilt im Hartz-IV-Bezug als absolut vorrangiges Ziel. Dabei ist es sowohl gleichgültig, worin die neue Arbeit besteht als auch unter welchen Bedingungen und zu welchem Gehalt sie verrichtet werden soll. Für Empfänger von ALG II ist grundsätzlich jede Arbeit bzw. Eingliederungsmaßnahme zumutbar. Prekäre Arbeit sowieso, aber auch Ein-Euro-Jobs und sogar unbezahlte Praktika. Das entsprechende Angebot nicht anzunehmen, gilt als Nicht-Kooperation und wird umgehend mit Leistungskürzungen sanktioniert.

Die einzigen Gründe für die Nichtaufnahme einer Arbeit, die von Seiten des Jobcenters akzeptiert werden, sind a) wenn der Erwerbsfähige zu der angebotenen Arbeit körperlich, geistig oder seelisch nicht in der Lage ist, b) wenn die Erziehung eines Kindes bzw. die Pflege von Angehörigen gefährdet sind oder c) wenn der angebotene Job sittenwidrig ist. Trifft keiner dieser Gründe zu, muss jede Arbeit, gleich zu welchem Lohn, angenommen werden. Gibt es nicht genügend Arbeitsstellen, kann auch die Teilnahme an einer so genannten Arbeitsgelegenheit verordnet werden. Für eine Arbeitsgelegenheit gibt es keinen Lohn, sondern lediglich weiterhin Arbeitslosengeld II plus eine Mehraufwandsentschädigung von ein bis zwei Euro pro Stunde. Dieses Geld ist nicht als Entlohnung gedacht, sondern dient pauschal dazu, den Aufwand für Arbeitskleidung, Fahrtkosten und dergleichen zu erstatten. Allgemein bekannt sind diese Maßnahmen unter der Bezeichnung Ein-Euro-Job. Sie wurden im Jahr 2005 gemeinsam mit Hartz IV schnell und flächendeckend eingeführt. Die Arbeitszeit in einem Ein-Euro-Job beträgt in der Regel 30 Wochenstunden. Diese soll nicht überschritten werden, damit noch Zeit für Bewerbungen bleibt. Abgeleistet wird die Arbeit bei Kommunen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Denkmalpflegeeinrichtungen oder bei Umweltschutzverbänden etc. Heute gibt es noch knapp 100.000 dieser Arbeitsgelegenheiten. (…) Die Pflicht zur aktiven Beteiligung an allen angebotenen Maßnahmen zur angeblichen Wiedereingliederung in die Arbeitswelt schließt auch die Teilnahme an zugewiesenen Trainingsmaßnahmen ein. Eine echte berufliche Weiterbildung findet dabei jedoch nicht statt. Selbst der Bundesrechnungshof kommt zu dem Schluss, dass Jobcenter planlos Kurse verteilen und durch ihr nicht zielgerichtetes Vorgehen und die mangelnde Rücksichtnahme auf die Belange der Leistungsberechtigten eine unverzügliche Eingliederung nicht fördern, sondern sogar gefährden. Die Kurse dienen eher dem Zweck, die Teilnehmer aus der Arbeitslosenstatistik zu entfernen und damit gute Vermittlungserfolge vorzutäuschen.

Verfolgungsbetreuung

Der Bezug von Hartz IV ist automatisch mit der Betreuung durch einen Fallmanager, wie der zuständige Sachbearbeiter genannt wird, verknüpft. Ursprünglich stammt diese Bezeichnung aus der Sozialarbeit. Dort sind Fallmanager damit beauftragt, auffällige Menschen wieder in den Bereich normalen Sozialverhaltens zurück zu dirigieren. Die Verwendung derselben Tätigkeitsbezeichnung für die Betreuung von Hartz-IV-Empfängern legt nahe, dass deren andauernde Arbeitslosigkeit auf eigenes Fehlverhalten zurückzuführen sei. (…) In diesen Sinne soll der Fallmanager „Teacher, Preacher, Cop and Friend“ sein. Die ersten drei Rollen bezeichnen den jeweiligen Fallmanager eindeutig als Klügeren oder Mächtigeren, der sein Gegenüber ungefragt belehren darf (Teacher, Preacher) und gegebenenfalls auch Zwangsmaßnahmen anwendet (Cop). Als Freund (Friend) zeigt er sich nur dann, wenn man seinen Erwartungen Folge leistet. Seine Kernaufgabe ist die laufende Überprüfung der individuellen Anpassungsbereitschaft an die Arbeitswelt. Der Fallmanager verfügt über einen großen Ermessensspielraum hinsichtlich der Pflichten und Sanktionen, die er den Hilfeempfängern auferlegen kann. Damit hat er das Schicksal ganzer Familien in seiner Hand. Für die einzelne Hartz-IV-Empfängerin ist es reine Glückssache, ob ihr Gegenüber eine Drohkulisse aufbaut oder aber freundlich und hilfsbereit ist. Sie kann sich ihren Fallmanager nicht aussuchen. (…) Die Tendenz zu Misstrauen und Unfreundlichkeit ist bereits in den Hartz-Reformen und den sich daraus ergebenden Strukturen angelegt. Besteht doch die Grundannahme eindeutig darin, dass die meisten Langzeitarbeitslosen angeblich nicht arbeiten wollen und hierin die Ursache für ihre Lage zu suchen sei. Die Praxis von Androhung und Bestrafung ist in vielen Jobcentern bittere Realität. (…) Für leichte Pflichtverstöße wird der Regelzuschlag um 10 Prozent gekürzt. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Meldeversäumnisse wie das unentschuldigte Nichterscheinen oder zu spät kommen zu einem Termin im Jobcenter. Oder auch, wenn Papiere verspätet oder gar nicht eingereicht werden. Solche leichten Pflichtverstöße machen etwa drei Viertel aller Sanktionen aus. Schwere Pflichtverstöße werden mit 30 Prozent Kürzung sanktioniert. Sie machen das restliche Viertel der jährlich verhängten Sanktionen aus.

Ein schwerer Pflichtverstoß ist etwa die Weigerung, eine zumutbare Arbeit oder Arbeitsgelegenheit anzutreten bzw. zu Ende zu führen. Das gleiche gilt für eine Trainingsmaßnahme. Selbst ein in Form und Inhalt unangemessenes Bewerbungsschreiben kann bereits als Nichtannahme eines Beschäftigungsangebotes und damit als schwerer Pflichtverstoß gewertet werden. (…) Selbst bei höchster Not können Sanktionierte nirgendwo mehr Ansprüche auf irgendeine Unterstützung geltend machen. Sie erhalten keine Sozialhilfe, kein Wohngeld und auch sonst keinerlei staatliche Hilfe mehr. Die Kürzungen drücken damit aus, dass es faktisch kein unverbrüchliches Recht mehr auf das Existenzminimum gibt. Stattdessen hat man sich durch Wohlverhalten als würdig zu erweisen, überhaupt leben zu dürfen. Widersprüche gegen Hartz-IV-Sanktionen haben keine aufschiebende Wirkung. Das ist absolut ungewöhnlich und verstößt gegen die sonst übliche, allgemeine Verwaltungsordnung. In dieser haben Widersprüche und Klagen gegen belastende Verwaltungsakte nämlich grundsätzlich eine aufschiebende Wirkung. Dieser Rechtsgrundsatz wurde für Hartz-IV-Empfänger ausdrücklich aufgehoben, was in der Konsequenz eine massive Entrechtung bedeutet.

Die Folge: Selbst wenn sie am Ende nach durchschnittlich sieben Monaten Recht bekommen, müssen sie zuvor die ganze Zeit unter den gravierenden Auswirkungen der Sanktionen leiden. (…) Am 5. November 2019 verkündete der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts einstimmig, dass die Regelungen im Sozialgesetzbuch II, wonach Unterstützungsleistungen bis auf Null gekürzt werden dürfen, verfassungswidrig seien. Das Gericht stellte damit klar, dass das Existenzminimum geschützt ist. Sanktionen bis zu einer Minderung von 30 Prozent erklärt es allerdings weiterhin für erlaubt. (…) Trotz dieser in ihrer Tendenz positiven Entwicklung ist es allerdings verwunderlich, dass es fast 15 Jahre gedauert hat bis endlich festgestellt wurde, was eigentlich evident ist. Außerdem blieb das Verfassungsgericht inkonsequent, indem es Sanktionen bis zur 30-Prozent-Schwelle weiterhin erlaubt. Auch durch diese wird schließlich ein „Existenzminimum“, das sowieso schon mit fragwürdigen Methoden viel zu knapp berechnet wurde, unterschritten. Weniger vom Minimum ist schließlich definitiv unter dem Minimum. Man darf vermuten, dass dieses fragwürdige Zugeständnis dem Funktionieren des Hartz-IV-Systems geschuldet ist. Denn ein zentraler Bestandteil sind eben Drohkulissen und Sanktionen. Ohne das Druckmittel der Zahlungskürzung wären viele Maßnahmen nämlich schlicht wirkungslos.

  • Auszug aus dem Buch:

Peter Samol

Die Leistungsdiktatur – Wie der Konkurrenzdruck unser Leben zur Hölle macht

Schmetterling Verlag Stuttgart 2021

234 Seiten, 16,80 Euro