Willkommen im Arbeitslager!

von Martin Mair

Bereits bei ihrer Gründung 1993
weist die EU steigende Erwerbslosenzahlen auf. Auch wenn die Union in der
Sozialpolitik keine Regelungskompetenz hat, so war doch im Laufe der Jahre in
vielen Staaten eine ähnliche Entwicklung festzustellen: Statt den Staat in die
Verantwortung für die ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zu nehmen, für die
Aufteilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung oder gar den Aufbau
alternativer Beschäftigungsfelder zu forcieren, war wie aus dem Nichts in
vielen Staaten ein Dogmenwechsel festzustellen. Bei der abrupten Einführung von
Hartz IV zeigte sich das 2004 am deutlichsten. Die Blaupause für die Politik
lieferte die „OECD Jobs Strategy“ von 1996, die 1997 von der dänischen
Präsidentschaft unter dem Schlagwort der „Aktivierung“ propagiert wurde.

Folgende Grundannahmen oder
Glaubenssätze stehen dahinter:

Lohnarbeit ist das beste Mittel gegen
Armut.


Der Arbeitsmarkt ist unflexibel – Sozialsystem und Arbeitnehmerrechte sind ein
Hindernis.


Wachstum fördert Beschäftigung – Beschäftigung fördert Wachstum.

Aus der alten „aktiven
Beschäftigungspolitik“ der 80er Jahre wurde die „aktivierende
Arbeitsmarktpolitik“:


Grund für Arbeitslosigkeit sind nicht mehr fehlende Arbeitsplätze, sondern dass
die Chancen des freien Marktes nicht genutzt würden.


Statt der Politik ist jeder einzelne Mensch als Marktteilnehmer selbst für sein
Schicksal verantwortlich.


Statt der Solidarität aller (Arbeitszeitverkürzung), gilt die
Eigenverantwortung im Wettbewerb, die Differenzierung als höchster Wert.


Aus dem „Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit“ wird unter dem Motto „kein
Recht auf Faulheit“ die Pflicht sich durch Betreuer fördern und fordern zu
lassen.


Statt bei Mangel an „Arbeitskräften“ nach dem Pull-Prinzip Lohn zu erhöhen,
herrscht das Push-Prinzip in Form von noch mehr Druck.


Statt Vermittlung in volle und regulär bezahlte Arbeit am „ersten Arbeitsmarkt“
gilt bereits verbesserte Arbeitsmarktnähe, prekäre Leih- oder Teilzeitarbeit
oder Arbeit am „zweiten Arbeitsmarkt“ als Erfolg.

Was nicht hinterfragt, aber
geradezu eskalierend verschärft wird, ist, dass „Integration“ nur durch
Erwerbsarbeit (Arbeitszwang) möglich sei, Arbeitslose keine eigenständigen
politischen Akteure sind (keine Vertretung) und natürlich, dass das
kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem mit dem Wachstumszwang
keinesfalls in Frage gestellt werden darf. Als Ausgleich wird „Decent Work“ in
Aussicht gestellt („Soziale Säule“).

Was seither mehr oder weniger
zumindest in den Kernstaaten der EU festzustellen ist:


Verringerung der Bezugsdauer und Senkung der Bezugshöhe,


Verschärfung des Sanktionenregimes,


Verschlechterung der Kriterien für „zumutbare Jobs“, prekäre Arbeit wird
zumutbar,


Ausbau des „zweiten Arbeitsmarktes“ mit reduzierten ArbeitnehmerInnenrechten
(„Workfare“),


Auslagerung von Aufgaben an private, gewinnorientierte Agenturen –
„Kursindustrie“, teilweise sogar börsennotiert!

Damit es keine Ausweichmöglichkeit
gibt, werden die Bereiche des „Sozialstaates“ enger verzahnt:


Anbindung der Sozialhilfe an das verschärfte Regime der Arbeitsagentur,


Verschärfung des Zugangs zur Invaliditätspension, selbst Behinderte werden „fit
2 work“ erklärt (GB),


Verschlechterungen bei der Alterspension, Erhöhung des Pensionsalters,


verstärkte Datenerhebung und automatischer Datenaustausch,


Förderung privater Sozialversicherungen (Pensionsvorsorge),


Verringerung von Freiräumen und Ausstiegsmöglichkeiten.

Aus grundlegenden, auch kollektiven
Menschenrechten werden individuelle Pflichten:


Aus „Jeder Mensch ist gleich an Rechten und Würde geboren und hat daher das
Recht auf frei gewählte gute Arbeit“ wird „der Mensch erlangt seine Würde erst
durch die Arbeit. Arbeit um jeden Preis ist Bürgerpflicht“.


Statt Recht auf Gesundheit und freie Behandlungswahl wird die Pflicht zum
Erhalt der „Arbeitsfähigkeit“ und Zwangsrehabilitation mit Case-Management.


Aus Unschuldsvermutung wird Schuldvermutung: An der Arbeitslosigkeit ist der
Arbeitslose schuld, Defizitorientierung („Vermittlungshindernisse“ =
individuelle Schuldzuschreibung).


Einschränkung der Privatsphäre und des Selbstbestimmungsrechts,


Tendenz zur Ersetzung festgelegter Rechte und Pflichten durch „Vereinbarungen“
auf ungleicher Machtbasis,


höhere Hürden beim Rechtszugang.

Die fehlende Regelungskompetenz der
EU wird 2000 als Teil der Lissabon-Strategie durch die „Open Method
Coordination“ ausgeglichen. Geradezu krebsartig wuchern die Agenturen,
Konferenzen, Untersuchungen und Berichte mit denen EU-Staaten gelobt oder
gerügt werden. Im „Europäischen Semester“ fordert die EU planwirtschaftlich
höhere Erwerbsquoten speziell für marktabsente Gruppen wie Frauen, Ältere,
Gesundheitlich angeschlagene und Migrantinnen.

Außerhalb der EU-Kernstaaten kommt
die teure „Aktivierung“ weniger zum Zug. Die EU-Kommission machte 2016 eine
„Öffentliche Konsultation betreffend der Dienstleistungen für
Langzeitarbeitslose“. Nur in Englisch.

Immer mehr Menschen werden so im
Namen von Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung auf den Arbeitsmarkt
getrieben. Möglichst alle Lebensbereiche, gerade die „unproduktiven“, in
schlecht bezahlte, prekäre Erwerbsarbeit umgewandelt. Auf Kosten der
Versicherten und Steuerzahlenden subventionierte Arbeit wird Unternehmen billig
wie Dreck nachgeworfen.

Alle Stakeholder sind am Gewinn
versprechenden Geflecht der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik beteiligt und
haben Lobbygruppen in Brüssel. Alle? Bis auf die Betroffenen selbst; die
Erwerbsarbeitslosen. Ressourcen für eine EU-weite Vernetzung bekommen die
Arbeitsloseninitiativen nicht. Die Hürden für Projektförderungen sind zu hoch.
Dafür gibt es als Feigenblatt der Sozialbranche von der EAPN (Europäisches
Armutsnetzwerk) einmal im Jahr in Brüssel wohlorganisierte Treffen, wo
Politiker sich ausgesuchte Vorzeigearme anhören können. Alles fernab der
Kontrolle durch das Europäische Parlament. Die politische Verantwortung
verschwindet im von den Lobbyistengruppen bearbeiteten Institutionengeflecht.
Nicht einmal die Europäische Grundrechteagentur darf einen kritischen Blick in
Form von Untersuchungen und Berichten auf den Stand der „Sozialen
Menschenrechte“ in der EU werfen. Wie wunderbar. Das Soziale ist das, was über
bleibt, wenn überhaupt …