Nachruf Ruth Klüger – Wienerin, Amerikanerin, Göttingerin

Und Jüdin. „In Birkenau bin ich Appell gestanden und hab Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon.“ So berichtet sie in ihren Lebenserinnerungen „weiter leben“. Ein Titel mit bedeutsamer Lücke: weiter leben statt weiterleben. „Schnoddrig“ wurde ihr Stil genannt. Ein Fehlurteil. Schnoddrig ist das Berlinerische. Ruth Klügers Sprache zu eigen ist das Wegwerfend-Kurzangebundene, Grimmig-Trockene, eine der sympathischen Facetten des schillernden Wienerischen. „Ich komm‘ nicht von Auschwitz her, ich stamm‘ aus Wien. Mein Urschleim ist der 7. Bezirk“, beharrte sie eigensinnig. Das Melos des Wienerischen prägte ihr Sprechen wie dessen Parlando-Duktus ihr Schreiben. Auf den Vorwurf, wie schlimm die Israelis mit den Palästinensern umsprängen, wo die Juden in Auschwitz doch selbst … raunzte sie: „Auschwitz war keine Besserungsanstalt.“ Hätten Nestroy und Qualtinger nicht besser formulieren können.

Am 30. Oktober 1931 als Tochter eines jüdischen Arztes in Wien geboren, erlebte sie schon früh den Antisemitismus. Elf-jährig wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter von den Nazis, deutschen und österreichischen, zunächst ins KZ Theresienstadt, dann nach Auschwitz deportiert. Der Vater war zuvor nach Italien geflohen, konnte seine Familie nicht nachholen, wurde von den Deutschen ermordet. Schon als Kind liebte sie die Dichtung. In Auschwitz sagte sie sich beim quälend langen Appellstehen Gedichte von Goethe und Heine auf, und wenn sie über einen entfallenen Vers grübeln musste, dann verging die Zeit leichter: „Gedichte halfen mir zu überleben. Sie sind, wie Träume, eine Möglichkeit, dem Unterbewusstsein Luft zu verschaffen. Sich mit Goethe an schöne Orte begeben zu können, bewies mir, dass es da draußen eine Natur geben muss, die nicht so ausschaut wie die Mondkraterlandschaft der Lager.“

Bei der Selektion, wer zur Arbeitsvernutzung noch taugte oder gleich in der Gaskammer enden sollte, riet ihr eine Schreiberin, ebenfalls Häftling, sie solle sich als 15-Jährige ausgeben, damit sie sie als arbeitsfähig einstufen könne. Einem SS-Mann, der angesichts des zierlichen und ausgemergelten Mädchens Zweifel äußerte, widersetzte sich die Schreiberin. So entrann die junge Ruth dem Meister aus Deutschland. Weshalb diese ihr unbekannte Frau so handelte, der sie ihr Weiterleben verdankt? Das Gute ist für Ruth Klüger noch unerklärlicher als das Böse: „Das Gute hat keine Ursache als sich selbst und will auch nichts als sich selbst.“ Auf einem der Todesmärsche in andere Konzentrationslager kurz vor Kriegsende gelang ihrer Mutter mit ihr die Flucht, bei der ihnen ein Straubinger Pfarrer zu einer falschen Identität verhalf.

Danach begann eine Zeit, in der sie glücklich war: „Das war der Sommer 1945. Ich war frei, die Sonne schien, und alles blühte wie verzaubert. Ich habe Schwimmen und Radeln gelernt. Das war eine Ausweitung des Lebens, wie ich sie nie vorher und nie nachher erlebt habe.“

Nach einem Notabitur studierte sie als 15-Jährige an der Hochschule Regensburg Bibliothekswissenschaften und Germanistik. 1947 emigrierte sie mit ihrer Mutter in die USA. Sie heiratete den deutschbürtigen Historiker Werner Angress, der als US-Soldat in Deutschland gekämpft hatte und im Mai 1945 an der Befreiung des KZs Wöbbelin in Mecklenburg beteiligt war. In den neun Jahren ihrer Ehe sprachen sie nie Deutsch miteinander. Sie publizierte zunächst unter dem Namen Ruth K. Angress. Von 1980-1986 lehrte sie als Professorin in Princeton, dann an der University of California in Irvine; danach trat sie eine Gastprofessur an der Göttinger Universität an.

Göttingen, wo sie zur Schriftstellerin wurde, bezeichnete sie als Ort nicht der Erinnerung, sondern der Gegenwart, als ihre zweite Heimat. Ihre Lebenserinnerungen bot sie dem Suhrkamp-Verlag an, erhielt jedoch eine Ablehnung, weil ihr Buch nicht dem literarischen Niveau des Hauses entspräche. Der kleine studentische Göttinger Wallstein-Verlag druckte ihr Manuskript, verkaufte 300.000 Exemplare und wurde ein hochangesehener Verlag. Ihre späteren Erinnerungen veröffentlichte sie 2008 in Wien bei Zsolnay unter dem Titel „unterwegs verloren“.

Die Liste ihrer Veröffentlichungen ist lang, ebenso die ihrer deutschen und österreichischen Auszeichnungen für ihr wissenschaftliches und literarisches Werk. Diese Ehrungen quittierte sie mit Sarkasmus: „Wenn eine Tierart fast ausgestorben ist, weil sie so intensiv gejagt wurde, werden die übriggebliebenen Exemplare besonders gepflegt.“ Schwerpunkte ihrer Arbeit sind das Jüdische und die Frauenliteratur. Ein Essayband trägt den lakonischen Titel „Frauen lesen anders“.

Mit Martin Walser war sie befreundet. Wenn sie aber die Sprache auf die Nazizeit und die Konzentrationslager brachte, wich er aus und lenkte ab. Nach seinem antisemitisch vergifteten Buch „Tod eines Kritikers“ kündigte sie ihm in einem Offenen Brief die Freundschaft auf. Am 29. Januar 2016 hielt sie im Deutschen Bundestag am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus eine Rede, in der sie den Deutschen, nach all deren Verbrechen gegen die Menschheit, Großherzigkeit für die Aufnahme von einer Million Flüchtlingen bezeugte: „Ich bin eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind.“

Die Folgen eines schweren Unfalls in Göttingen, verursacht durch einen Radfahrer, überwand sie mit hartnäckigem Lebenswillen. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in Irvine, in Gesellschaft einer Katze, die sie aus einem Tierheim geholt hatte. Sie nannte sie Washti. Das Buch Ester im Alten Testament erzählt von Washti als der Ehefrau des Perserkönigs Artaxerxes (biblisch Ahasveros). Ruth Klüger: „Washti ist ein feministischer Name. Als sie vom König aufgefordert wurde, bei einem nur von Männern besuchten Festmahl zu erscheinen, vermutlich nackt, sagte sie Nein und wurde von ihrem Mann verstoßen. Meine Katze kommt auch nicht einfach, wenn man sie ruft.“ Gefragt, was diese ihr bedeute, erwiderte sie: „Wenn man wissen will, was der Sinn des Lebens ist, muss man sich eine Katze ansehen. Eine Katze, die den ganzen Tag schläft. Dann weiß man, dass der Sinn des Lebens einfach das Leben ist.“

Der Glaube an Gott ist ihr in ihrem Leben abhandengekommen: „Mein Glaube an eine höhere Macht wurde immer dünner, und dann war er nicht mehr da.“ Es ist der Zufall, der das Leben regiert: „Wenn man dem Zufall verdankt, nicht in den Gaskammern von Auschwitz gestorben zu sein, lässt einen das Thema nie wieder los.“ Deshalb muss der Mensch jedoch nicht zum Nihilisten werden: „Nein, er beginnt die Freiheit zu lieben. Wer an Zufall statt an die Notwendigkeit glaubt, hat die freie Wahl. Freiheit ist nur möglich, wo der Zufall weilt.“

In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober ist Ruth Klüger 88-jährig gestorben, „alt und lebenssatt“, wie die letzten Worte des Buchs Hiob lauten.

Hermann Engster, Göttingen

Quellen:

  • Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992
  • Dies.: unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay 2008
  • Iris Radisch: Die letzten Dinge. Lebensendgespräche. Reinbek: Rowohlt 2015
  • „Ich habe nicht überlebt, ich gehöre zu den toten Kindern“. Interview mit Ruth Klüger im SZ-Magazin 16.6.2017
  • Weitere Literatur von und zu Ruth Klüger: https://de.wikipedia.org/wiki/Ruth_Klüger