Bestseller-Algorithmen

von Peter Samol

Die Anwendung von Computer-Algorithmen erfasst immer neue Lebensbereiche. Mittlerweile sind davon auch Buchautoren und Buchautorinnen betroffen.

Jährlich gehen bei den Buchverlagen Tausende unverlangter Manuskripte ein. Dort haben die Lektoren und Lektorinnen pro Text oft nur wenige Sekunden Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen. Angesichts dieser Situation bietet die Berliner Firma „Qualification“ Abhilfe an. Mit dem Programm „Lisa“ (kurz für „Literaturscreening & Analytik“) hat sie eine Software entwickelt, die innerhalb von Sekunden das Verkaufspotenzial eines Manuskripts erkennen soll (Mayer-Kuckuk 2019, 12). Es ist schon bei einer Reihe von Verlagen im Einsatz. „Lisa“ ist ein neuronales Netz, das anhand von rund 10.000 Büchern gelernt hat, welche Eigenschaften zum Verkaufserfolg führen. Mehrere Verlage haben dafür ihre erfolgreichsten Bücher als Anschauungsmaterial zur Verfügung gestellt. Das Programm bekam den kompletten Text sowie die Verkaufszahl jedes einzelnen Buchs zur Verfügung gestellt. Die auf diese Weise trainierte „Lisa“ gibt nun im Praxiseinsatz die Chance für den Verkaufserfolg eines eingereichten Manuskripts in Prozent an und macht außerdem Vorschläge für die Höhe der Startauflage (ebd.).

In ihrem Buch „Angriff der
Algorithmen“ beschreibt die Mathematikerin Cathy O’Neil, auf
welche Weise Programme wie „Lisa“ funktionieren und was für
Folgen ihre breite Anwendung in der Gesellschaft hat. Algorithmen
sind letztlich nichts anderes als in Computer-Code eingebettete
menschliche Zwecke. Im Grunde sind sie nur dazu da, bestimmte Dinge
zu differenzieren und Abläufe zu beschleunigen – das allerdings
mit einer atemberaubenden Effizienz (O’Neil 2017, 160). Diese
Effizienz wird mit Profit und Wachstum des jeweiligen Unternehmens
belohnt, was die Konkurrenz dazu zwingt, ebenfalls solche Programme
einzusetzen. Im Fall von „Lisa“ geht es darum, jene
entscheidenden maschinell erfassbaren Informationsschnipsel zu
finden, die mit dem Verkaufserfolg von Büchern korrelieren (ebd.,
164). Weil sich die Vorlieben der Leserinnen und Leser ändern
können, lernt das Programm außerdem an aktuellen Veröffentlichungen
und deren Verkaufszahlen weiter und passt sich dadurch immer wieder
an den aktuellen Massengeschmack an (Mayer-Kuckuk 2019, 12).

Algorithmen sind intransparent.
Aufgrund ihrer Komplexität könnten sie in ihrer Funktionsweise nur
von einer relativ kleinen Gruppe von spezialisierten Programmierern
und Programmiererinnen verstanden werden (O’Neil 2017, 39). In der
Regel fallen sie ohnehin unter das Geschäftsgeheimnis von Firmen, so
dass nur sehr wenige Menschen überhaupt Zugang zu ihnen haben (ebd.,
44). Und sofern es sich um neuronale Netze – wie „Lisa“ eins
ist – handelt, hört die menschliche Kontrolle völlig auf.
Neuronale Netze bestehen aus mehr als Tausend Schichten simulierten
„Nervengewebes“ und programmieren sich laufend selbst neu.
„Neuronale Netze sind undurchschaubar wie Götter und ihre
Funktionsweise ist nicht zu erkennen.“ (Ebd., 12). Welche Kriterien
ein neuronale Netz entwickelt hat, behält es für sich. Autoren und
Autorinnen, deren Manuskript abgelehnt wurde, erfahren daher nicht
warum. Letztlich sind es mathematische Cut-Off-Werte, die alles
abweisen, was jenseits von ihnen liegt (ebd., 182). Die dabei
genutzten Daten basieren ihrem Wesen nach auf der Vergangenheit und
damit auf der Annahme, dass die Muster der Vergangenheit sich in der
Zukunft wiederholen werden (ebd., 57). Auf diese Weise wird die
Vergangenheit in Code eingebettet, operationalisiert und als
vermeintliches Zukunftswissen ausgegeben (ebd., 276). Faktisch wird
lediglich reproduziert, was zuvor zum Erfolg geführt hat. Das
verstärkt aktuelle Trends und laufende Entwicklungen. Für den
Buchmarkt bedeutet das, dass es zu einer allgemeinen Angleichung der
Inhalte und Stile kommen wird (Maxeiner 2019, 18).

Auch Autoren
können Muster erkennen. Es wird ihnen künftig kaum etwas anderes
übrig bleiben, als sich zunehmend darauf zu konzentrieren, den
obskuren Kriterien der Algorithmen gerecht zu werden. Im Zusammenhang
mit „Lisa“ ist immerhin bekannt, dass es stark auf die Benutzung
aktiver Verben achtet (Mayer-Kuckuk 2019, 12). Außerdem weiß man,
dass Witze für Computerprogramme äußerst irritierend sind (O’Neil
2017, 178). Alles in allem werden Schriftstellerinnen künftig darauf
gedrillt, einem vage durchschaubaren System von Kriterien gerecht zu
werden. Im Zweifelsfall werden sie einfach die erfolgreichen Kollegen
imitieren, um die Anforderungen des Selektions-Algorithmus zu
erfüllen. So entstehen selbstbezügliche Schleifen, die sich selbst
bestärken (ebd., 45). In der Folge wird es „immer mehr vom
Immergleichen geben“ (Maxeiner 2019, 18), Neuartiges zu schreiben
wird systematisch entmutigt. Eine frische neue Autorin, die mit einer
gewissen Sorte von Witz oder Ironie das Zeug haben könnte, eine
völlig neue Stilrichtung zu kreieren, wird dagegen von einer sturen
Software davon abgehalten werden, überhaupt etwas zu
veröffentlichen. Originelle Literatur wird man künftig in Nischen
suchen müssen und hoffen, dass es diese in Zukunft überhaupt noch
geben wird.

Daten, Computer, Software und Co.
werden nicht mehr aus unserem Leben verschwinden (O’Neil 2017,
296). Die Programme, Algorithmen, neuronalen Netze, etc. entwickeln
sich ständig weiter und breiten sich zunehmend aus, ständig auf der
Suche nach neuen Anwendungsmöglichkeiten (ebd., 275). Fast immer
geht es darum, Arbeitsabläufe zu optimieren, Verkaufszahlen zu
verbessern, Profite zu steigern, kurz: den Geboten des allgemeinen
Verwertungsgeschehens zu folgen. Vor allem weil es effizient und
kostengünstig ist, werden Menschen also immer stärker dazu
gezwungen, den Kriterien von Maschinen gerecht zu werden. So wird
alles immer weiter einer allgemeinen Berechenbarkeit untergeordnet
und der Raum für autonomes Denken zunehmend enger.

Literatur

Maxeiner, Robert: Immer mehr vom
Immergleichen (Leserbrief), in: Frankfurter Rundschau 06.03.2019.

Mayer-Kuckuk, Finn: Lisa, das
Bestseller-Orakel, in: Frankfurter Rundschau 02.03.2019.

O’Neil, Cathy: Angriff der
Algorithmen, München 2017.