Wider die akustische Hörigkeit

von Maria Wölflingseder

Höchst verblüffend, von wie wenigen Menschen die „akustische
Leine“, an der wir hängen, heute überhaupt noch wahrgenommen wird. Oder
wahrgenommen werden möchte. Günther Anders hat sie bereits in den 1950er Jahren
in der „Antiquiertheit des Menschen I und II“ ausführlich beschrieben. Wir
werden nicht nur gezwungen, „in einer von Tag zu Tag lauter lärmenden Welt zu
leben“. Sondern dieser „Schürzenbandzustand“, der Anders genauso peinigte wie
mich, führt auch zu einer „akustischen Freiheitsberaubung“. Wir müssen
nicht nur hören, sondern dieses Müssen gilt sogleich als Sollen. Das
heißt, „dass der Lärm nicht nur ein Ärgernis ist, sondern eine Funktion
hat, eine Aufgabe; und zwar die, das Seinige zu leisten in dem Prozess unserer
Deprivatisierung, dass er eines der Hauptinstrumente des Konformismus
darstellt“. Für Anders war „das Erschreckendste an dieser ,Konformismus‘
genannten Variante des Totalitarismus“, dass sie „ohne Terror vor sich geht“.

Günther Anders ist 1992 neunzigjährig gestorben. Ein Jahrzehnt
vorm Handy-Zeitalter. Seine „philosophische Anthropologie im Zeitalter der
Technokratie“ hat die heutigen Verhältnisse präzise vorweggenommen. Er hat zwar
gehofft, seine Voraussagen würden sich nicht bewahrheiten, jedoch haben sie
sich auf noch drastischere Weise erfüllt. Aus der „akustischen Leine“ Radio,
Juke Box und Fernsehen ist via Handy, Internet und Kopfhörer geradezu ein akustischer
Käfig
geworden. Unter „Zeitalter der Technokratie“ versteht er den Umstand,
dass Technik nun zum Subjekt der Geschichte geworden ist, mit der wir nur noch
„mitgeschichtlich“ sind.

Noch verblüffender: Wie aus regelmäßigen Umfragen hervorgeht,
fühlt sich ein Großteil der Menschen durch Lärm gestört. Lärm, der nicht nur
Schwerhörigkeit und Tinnitus verursachen kann, sondern vielfach zu Stress
führt, der wiederum die Konzentration, den Schlaf, das Wohlbefinden stört und
zu Bluthochdruck, Herzinfarkt u.v.a. führen kann. Aber dennoch ist Lärm kein
großes Thema. Es gibt wenig Literatur dazu und in die Medien schaffen es
Umweltmediziner und Psychologinnen, die auf die damit verbundenen
Gesundheitsgefahren hinweisen, höchst selten. Sonderbar, auf welche Themen sich
die Gesundheitsbehörden und ihre Fürsprecher, die Medien, hingegen
eingeschossen haben. Beiträge über die – recht fragwürdige – aber als
unumstößlich propagierte Ernährungspyramide sind zahllos. Und dass Rauchen in
allen öffentlichen Räumen verboten werden muss, ist auch nirgends zu überhören.
Aber über Lärm als weitreichender Krankheitsverursacher herrscht Schweigen.
Freilich, es gibt Lärmschutzgesetze, aber diese bewirken ebenso wenig wie
Sozialgesetze gegen Armut. Sie dienen letztlich der Legalisierung des Lärms.

Höchst befremdlich, dass die Bevölkerung staatlicherseits stets zu
gesundem Lebensstil motiviert wird, gleichzeitig aber viele unbeeinflussbare
Lebensbedingungen immer ungesünder werden. Warum wird gesundheitliche
Verantwortung stets individualisiert und gleichzeitig gesundheitliche
Gefährdung generalisiert? Warum wird jeder kleinste Kratzer im Lack der
Blechkiste anderer rechtlich verfolgt, aber massenhafte Gesundheitsgefährdung
durch Zwangsbeschallung nicht einmal problematisiert? Ist die „akustische
Unterwerfung“, die Günther Anders beschreibt, unausweichlich?Warum
haben die Lauten recht und warum sind die Beschallten ohnmächtig?

Hören – „Dimension der Unfreiheit“

„Als Hörende sind wir
unfrei“, stellt Günther Anders fest. Fortzuhören ist weit schwieriger als
wegzusehen. Phänomenologisch gesprochen, gründet diese Schwierigkeit darin,
„dass im Unterschied zur sichtbaren Welt, die hörbare ungefragt, indiskret,
aufdringlich, ohne unserer ausdrücklichen intentionalen Zuwendung zu bedürfen,
in uns eindringen und uns, ob wir wollen oder nicht, zur Teilnahme zwingen
kann“. Da der Schall stets von anderswo kommt als von dort, wo der Hörende sich
aufhält und ihn hört, zwingt er ihn, immer an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Hier,
wo der Hörende sich befindet und dort, wo der Ton entsteht. So wird „die
Dimension des Akustischen“ zur „Dimension der Unfreiheit“ und eignet sich
hervorragend als „Unterwerfungsgerät“.

Erstaunlich, was Günther Anders im Kapitel „Die Antiquiertheit der
Privatheit“ bereits 1958 erkannt hat. Es tritt heute im Handy- und
Online-Zeitalter noch erheblich stärker zu Tage. „In demjenigen Augenblick, in
dem ein Individuum dazu verurteilt ist, in einer Welt zu leben, in der es, weil
ihm kein stiller Platz übrigbleibt, hören muss, bleibt ihm auch nichts
anderes übrig, als dieser Welt zuzugehören, ihr gehorsam oder gar hörig zu
werden. Wenn es dem Menschen versagt wird, seiner akustischen Erreichbarkeit
und Greifbarkeit zu entrinnen, dann ist es ihm bald auch versagt, d.h.: dann
ist er bald auch außerstande, Erreichbarkeit und Greifbarkeit überhaupt zu
entrinnen. Erreichbarkeit und Greifbarkeit werden dann zu seiner zweiten Natur.
Und am Ende wird er dann diese Versklavung sogar kultivieren, sodass er sich,
wenn er zufälligerweise einmal nicht greifbar ist, verloren fühlen wird.“

Hier schließt sich übrigens der Kreis zum ersten Antilärm-Verein
in Deutschland, den Theodor Lessing 1908 gegründet hat (siehe Götz Eisenberg
„Vom Recht auf Stille“ in diesem Heft). Günther Anders hat den Text dieses
Kapitels nämlich erstmals unter dem Titel „Akustische Nacktheit“ im Oktober
1958 auf Einladung der Lessing-Gesellschaft in Hannover der Öffentlichkeit
präsentiert.

Die Dosis macht den Lärm

In meine Klangwelt haben sich erst um die Jahrtausendwende die
ersten bedrohlichen Geräuschkulissen geschoben. In den Jahrzehnten davor wurde
kein Greissler beschallt, kein Bekleidungsshop wurde zugedröhnt, Gedudel gab’s
weder am Postamt noch in der Apotheke, keine Sphärenklänge in der Sauna und
auch nicht auf den Toiletten. Schuld an meiner plötzlichen Hellhörigkeit war nicht
gelegentliches Feiern von Nachbarn, nicht das Viola-Üben in der Wohnung
über mir, nicht das Sirenen-Heulen von Einsatzfahrzeugen, auch nicht
der Verkehrslärm – obwohl sich dieser in Wien vervielfacht hat, nachdem der
Eiserne Vorhang vor den Toren Wiens gelüftet wurde. (Trotzdem ist es aus
vielerlei Gründen unumgänglich, LKWs und Autos drastisch zu reduzieren!
Erstmals gibt es in Österreich über fünf Millionen Autos bei knapp neun
Millionen Einwohnern; vor 50 Jahren waren es eine Million Autos.)

Schuld an meinem Tinnitus und meinem chronisch erhöhten
Stresspegel sind nie dagewesene Geräusche. Also ihre Qualität und die
kontinuierliche Steigerung ihrer Quantität. Dem Prinzip des
Immer-Höher-Schneller-Weiter der kapitalistischen Verwertung fehlt auch das
„Immer-Lauter“ nicht. Es ist die Begleitmusik der steten Steigerung des Zwangs
zur Inwertsetzung bzw. der Vernutzung all der Must-haves. Das verursacht immer
mehr Dauerlärm. Aber das vegetative Nervensystem des Menschen ist dafür nicht
geschaffen. Lärm – eine völlig unterschätzte Variante von Umwelt- und
Gesundheitsbelastung!

Meine Wohnung, in der ich auch arbeite, liegt zwar in einer
relativ ruhigen Gasse, aber genau in der Einflugschneise zum Flughafen, die
1999 durch Wien geschlagen wurde. Vorbei war’s mit der Geruhsamkeit. Im Ein-
bis Drei-Minutentakt donnern die Maschinen über meinen Kopf hinweg. Die zahlreichen
Bürgerinitiativen, die dagegen zehn Jahre lang unermüdlich tätig waren, haben,
wie wohl alle Antilärm-Initiativen, kaum etwas erreicht. Ergebnis nach 20
Jahren: mehr Flüge denn je und kontinuierliche Ausweitung der Flugzeiten. Und
da es immer öfter Wind aus der östlichen Hälfte gibt (wenn dieser weht, wird
über die Stadt geflogen), konnten auch die vereinbarten maximal 11,5 Prozent
aller Landungen, nicht eingehalten werden, bedauert die Austro Control. Zuletzt
waren es 16 Prozent. Aber was kümmern die Lärmgeplagten Prozentzahlen. Mit der
dritten Piste, die nach zahlreichen Verhinderungsversuchen nun bald gebaut
wird, werden die absoluten Zahlen weiter steigen. Es gibt in Wien zwar
sogenannte Ruhezonen, in denen der Lärm nicht über 50 Dezibel betragen darf,
aber Flugzeuglärm ist davon ausgeschlossen.

Apropos Dezibel: Schall kann gemessen werden, Lärm jedoch nicht.
Auch leise und tieffrequente Geräusche stören, etwa von haustechnischen Anlagen
wie Heizungen, Kühlungen, Lüftungen, Pumpen. Und Geräusche, die in
unregelmäßigen Abständen kurz aufflammen, schrecken auf: Handys, Gekrache und
Gewummer aus digitalen Geräten oder Musikanlagen in Autos. Zudem ist die
Dezibel-Skala keine lineare, sondern eine logarithmische. Das heißt, zehn
Dezibel mehr bedeutet eine Verzehnfachung der Schallenergie.
Dezibelbeschränkungen beziehen sich außerdem auf einen Durchschnittswert pro
bestimmter Zeiteinheit. Das heißt, es kann in dieser Zeit mehrmals wesentlich
lauter sein.

Ich wurde in den letzten 20 Jahren aber nicht nur von einer
dreiviertel Million tieffliegender Flugzeuge beschallt, sondern in den letzten
zwölf (!) Jahren fast durchgängig auch von Baulärm im und vorm Haus. Darunter
viele Jahre von wahrem Höllenbaulärm. Sechs Tage die Woche von früh bis spät.
Eine Ein- bis Zweijahres-Baustelle löste die nächste ab. Kaum waren die Kräne
abgebaut und die Betonsockel, auf denen sie gestanden haben, mit
Riesenpressluftbohrern eine Woche lang zerbröselt worden, wurde schon die
nächste Abrissbirne gepflanzt. Schallschutzfenster hat meine Wohnung keine.

Als Lärm noch Musik in meinen Ohren war

Das waren Zeiten, als Lärm – weil wohldosiert – noch Musik in
meinen Ohren war! Wenn ich mich an jenen Ort erinnere, an dem ich meine
Kindheit in den 1960er Jahren verbracht habe, rauscht da nicht nur der
Sommerwind durch das Kornfeld, zirpen da nicht nur die Grillen, sondern genauso
wohltuend klingt die Tischkreissäge von einem der verstreuten Thalgau-Egger
Bauernhöfe und das gelegentliche Brummen eines kleinen Propellerflugzeugs über
dem Fuschlsee. Seltene Geräusche unterstreichen die Ruhe geradezu!

Erhart Kästner schreibt mit Bezug auf Paul Carus in „Aufstand der
Dinge – Byzantinische Aufzeichnungen“, dass Stille nicht Stillstand bedeuten
muss. „Mit Stille kann ja nicht die Totenstille gemeint sein; es ist Stille in
Spannung. Bach-Rauschen ist, was die Stille erst hörbar macht, wie die Zikaden
die Mittag-Stille im Süden.“

Immer öfter beschweren sich Touristen in der Provence über die Zikaden und verlangen, diese mit Insektiziden zu vernichten. Könnte es sein, dass sie eigentlich die Ruhe nicht aushalten? Und das gemächliche Tuckern des Motors der kleinen Fischerboote im Mittelmeer macht Männer wohl auch so nervös, dass sie es mit Jet-Ski-Motormonstern namens „Tsunami“ oder „Master of Desaster“ übertönen müssen.

Gleichzeitig mit dem Fluglärm in meiner Wohnung begann um die
Jahrtausendwende auch die digitale Aufrüstung jedes Staatsbürgers mit Handys
und anderen digitalen Geräten. Seit dem ist der Äther erfüllt von ständigem
Gepiepse, von Klingeltönen aller Art und Lautstärke. Und von bis dahin im
wahrsten Sinn des Wortes unsäglichem Dauergelaber. In Konzerten vergeht mir
mittlerweile Hören und Sehen und jeglicher Genuss, weil trotz Verbots mein
Blick- und Hörfeld voll klickender Fotoapparate und leuchtender Screens ist,
auf denen herumgefummelt wird.

Von Traumhaftem zum Alptraum

Massenhafter Flugverkehr über bewohntem Gebiet, die Handynutzung
in der Öffentlichkeit, die Beschallung nahezu aller Verkaufsräume und vor allem
die neueste Errungenschaft an Lärmbewaffnung, das ultimative Must-have
Bluetooth-Box haben die Geräuschkulisse im öffentlichen Raum so stark verändert
wie seit der Industrialisierung bzw. der Automobilisierung in den
Nachkriegsjahrzehnten nicht. Ganz zu schweigen von der Epidemie Ballermann an
den einst geruhsamen Gestaden des Mittelmeers. Heute terrorisiert hier der
grölende und dröhnende Party-Vollrausch-Sound die Einheimischen und die
Ruhesuchenden. Jeden Tag, jede Nacht während der ganzen Saison.

Seit auch meine jahrzehntelangen Refugien zugedröhnt werden, wird es ganz und gar unerträglich. Am und im Wasser, wo ich mich am besten erholen kann – an der Unteren Alten Donau genauso wie in einer ganz besonderen, abgelegenen mediterranen Felsenbucht – herrschen nie dagewesene Disko-Klänge, die die fahrenden oder ankernden Boote absondern. Es braucht nicht mehr als einen entsprechenden Schall – heute überall digital verfügbar –, um die zauberhaftesten Plätze zu ruinieren! – Nie mehr Siesta? Nie mehr friedvolle Buchten? Traditionelle Zeiten und Orte der Ruhe, die es in jedem Kulturkreis gab, fallen immer mehr dem Verwertungszwang zum Opfer. Das Geschäftige und Laute dehnt sich zeitlich und räumlich immer mehr aus. Alles Leise und Zarte wurde längst unter den ekeligen Klangteppich gekehrt. Und je mehr wir zu hören kriegen, desto weniger wird einander zugehört.

Musik gehört zum Allerschönsten! Wenn ich aber permanent mit Getöse zwangsernährt werde, kommt das einer Vergewaltigung gleich. Als ob ich auf Schritt und Tritt Junkfood in den Mund gestopft bekommen würde. Dieses könnte ich wenigstens wieder ausspucken. Aber meine Ohren und mein Gehirn können die Misstöne nicht wieder loswerden.

Rhythmische Musik macht Lust auf Bewegung, deshalb kann sie mich
beim Sporteln am Trampolin ganz schön motorisieren. Dass sie aber auch Autos
antreiben kann, überrascht mich. Neuerdings ist ja kaum mehr ein „geladenes
Geschoß“ ohne weithin hörbares, Herz attackierendes Bass-Gewummer unterwegs.
Gestern fuhren sie mit einem orientalischen Gemisch, bei dem noch Melodiöses
mitklang. Heute ist weitaus härterer Stoff im Einsatz.

Hans Magnus Enzensberger fragt in seiner trefflichen Polemik „Ein
musikalisches Opfer“, warum Allergiker gegen musikalischen Dauerlärm verhöhnt
werden, während allen anderen volles Verständnis entgegengebracht wird. „Der
Schallallergiker sieht sich einem brutalen Kesseltreiben ausgesetzt. Die
Vorkehrungen, die er treffen muss, um sich dem allgegenwärtigen Musikantenstadl
aus Heavy Metal, Vivaldi, Techno, Blaskapelle und Tic Tac Toe zu entziehen,
kommt einer Behinderung gleich.“

Ich frage mich jedes Mal, wenn ich einen Supermarkt oder sonst
eine lärmende Anstalt betrete: Es gibt zigtausend Lieder und Musikstücke, die
mich weniger stören oder gar erfreuen würden. Aber die verkaufsfördernden Hits
sind allesamt jenseits meiner Schmerzgrenze. Wenn wenigstens Neil Diamond
erklingen würde: „What a beautiful noise / … Goin’ on everywhere / … And it’s
sound that I love / And it’s fit me as well / As a hand in a glove / Yes it does,
yes it does / What a beautiful noise.“

Von der „Schizotopie“

Geschäfte, Apotheken, Postämter, Fitness- und Beauty-Studios,
alle, die etwas verkaufen wollen, scheuen keine Kosten und Mühen, um alle Sinne
optimal anzusprechen – sei es lautstark oder ganz unbemerkt. Alle psychischen
und physischen Mechanismen müssen ausgenützt werden, um noch einen Euro mehr
aus dem Kunden zu pressen, und um die Konkurrenz auszustechen. Umsatz ist
alles!

Auf verarbeitete Lebensmittel, denen Stoffe zugesetzt werden, die
regelrecht süchtig machen, wird von Ärztinnen und Konsumentenschützern immer
wieder hingewiesen. Dass aber in Verkaufsräumen aller Art – vom Supermarkt bis
zum Wettbüro – nichts dem Zufall überlassen wird, um süchtig zu machen, zeigt
kaum jemand auf. Ganze Branchen sind damit beschäftigt, nicht nur Geräusche,
auch Licht, Gerüche und Einrichtungen verkaufsfördernd auszuklügeln. Diese
Methoden aufzuzeigen, ist nichts für investigative Journalisten. Auch
Psychologinnen schreiben keine erhellenden Berichte darüber. Sie werden ja von
den Firmen dafür bezahlt, Geheimagenten gleich zu tüfteln. Manchen tut sich
obendrein die neue Einkommensquelle, Kauf- und Spielsüchtige zu therapieren,
auf.

Die Beschallung von Verkaufsräumen soll Heimeligkeit vermitteln.
Die Konsumierenden sollen sich ungezwungen fühlen oder gar enthemmt. Einfach
wie zu Hause. Günther Anders beschreibt die veränderten Verhältnisse am
Beispiel der ersten Juke Boxes, die in den USA in den frühen 1940er Jahren in
Drugstores aufgestellt wurden. „So wie die Außenwelt durch die Medien ins Haus
gebracht wurde, so wird umgekehrt die Zuhause-Mentalität in die Außenwelt mit
hinaus genommen. Die oft gemachte Beobachtung, dass sich seit einigen
Jahrzehnten der Unterschied zwischen ,privat‘ und ,öffentlich‘ verwischt hat,
hat in dieser ,Doppelbewegung‘ ihren Grund.“ Als „Schizotopie“ bezeichnet
Anders diese räumliche Doppelexistenz. – Wohin hat sich diese in den letzten 70
Jahren entwickelt? Heute leben wir längst nicht nur im globalen Dorf, sondern
im globalen Supermarkt. Von jedem Ort aus zu konsumieren, heißt das oberste
Gebot. Von zu Hause oder unterwegs in der ganzen Welt zu shoppen. Oder sich an
jedem Ort Musik und Filme via digitaler Geräte reinzuziehen. „Stream dich
frei“, steht auf dem aktuellen Werbeplakat eines Streaming-Dienstes. Es zeigt
ein junges Paar, das sitzend über einem langen Holzsteg schwebt, der in einen
See hinausführt, dem verfärbten Himmel und der untergehenden Sonne entgegen.
Diese Naturkulisse sieht das Pärchen aber nicht, weil es in die entgegen
gesetzte Richtung, auf den Bildschirm des Laptops blickt.

zur
globalen Pipe-&Peep-Show

Apropos Naturkulisse: Heute lässt selten jemand die Umgebung –
Natur, Stadt, Menschen – einfach auf sich wirken. Man hat dauernd busy zu sein.
Mal leiser, meist lauter. Wenn die Aufmerksamkeit überhaupt einmal vom Screen
auf etwas anderes gelenkt wird, dient es entweder der Selbstoptimierung oder um
Aufsehen und Aufhören zu erregen. Jogger mit zugestöpselten Ohren blicken
ständig auf den Fitness-Tracker am Handgelenk. Auto-, Motorrad-, Quard- und
Jet-Ski-Piloten verpesten zu Land und zu Wasser die Luft – und vor allem darf
niemandem ihr brünftiges Motorengeheul entgehen. Zur Zeit auch besonders
beliebt: das Fotografieren und Posten des verbotenen Eindringens in abgelegene
Naturschutzgebiete, um Partys zu feiern, zu übernachten und Zerstörung zu
hinterlassen. Und in Wien haben neuerdings Mountainbiker den alten verfallenen
jüdischen Teil des Zentralfriedhofs als ihr Trainingsgelände entdeckt. Die
breite Masse begnügt sich mit Krach aus den Bluetooth-Boxen, die
faustfeuerwaffengleich in der einen Hand und die Bierdose in der anderen vor
sich hergetragen werden.

Die Umgebung wird hauptsächlich zweidimensional, verkleinert,
ausschnitthaft durch den Screen wahrgenommen. Sie mutiert zur Fototapete und
verkommt zum Mittel der Selbstdarstellung. Worauf es ankommt, ist nicht die
Umgebung selbst, nicht der Sonnenuntergang, nicht das Bergpanorama, nicht die
Sehenswürdigkeit, nicht das Konzert, sondern die Digitalisierung. Also ein –
meist künstlich geschöntes – Abbild der Realität. Selbst das Essen muss nicht
gut schmecken, sondern gut aussehen. Es geht nicht um das sinnliche Erleben,
sondern um die Herstellung einer Ware. Erst wenn ich meine Ware Food, meine
Ware gewagtestes Motiv, meine Ware Körper digital und global vermarkten kann,
beginne ich zu existieren und bekomme Aufmerksamkeit. Befriedigung verschafft
nicht das Hier und Jetzt, sondern die Likes im Dort. Zu Hause bin ich nicht bei
mir und in meiner Umgebung, sondern via Selfie in der digitalen Welt.

Warum wird für all jene, die diese Art der Weltwahrnehmung und der
Kommunikation bevorzugen, nicht ein Welt-Duplikat geschaffen? Mit
Echtheitszertifikat. Ein Disneyland ohne störendes Zikadenzirpen und ohne
störende Ruhesuchende. Hier führen bequeme Wege zu den perfekten
Selfie-Locations. Hier dürfen sie alles niedertrampeln oder sich aufgeilen an
Katastrophen-Szenen. Hier gibt es sogar ein Sicherheitsnetz gegen die tödlichen
Gefahren. Bei der Hetzjagd nach der aufregendsten Selbstdarstellung versagt ja
oft sogar der Selbsterhaltungstrieb.

Aus der „Schizotopie“, die Günther Anders in den 1950er Jahren festgestellt
hat, ist mittlerweile eine globale digitale Pipe-&Peep-Show
geworden. – Folgendes Hörbeispiel versinnbildlicht geradezu, genauer vertont
das alltäglich und allumfassend gewordene Porn-Prinzip. Der Lokführer eines
South-Western-Railway-Zuges schaute sich auf einer Fahrt zwischen den Londoner
Stadtteilen Wandsworth und Clapham einen Porno am Handy an. Da das Mikrofon irrtümlich
eingeschaltet war, wurden alle Fahrgäste Ohrenzeugen des sexuellen Treibens.
Das musste prompt aufgenommen, ins Netz gestellt und sogleich 1,83 Millionen
Mal aufgerufen werden.

Akkumulation
der Geräte“

Die digitale Revolution hat sicherlich viel Gutes gebracht. Aber
unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen des real existierenden
Kapitalismus dient sie nicht nur hervorragend dazu, Vermarktung und Vernutzung
ad infinitum zu führen, sondern auch dazu, den von Günther Anders festgestellten
Konformismus und die Selbstversklavung auf die Spitze zu treiben. Als nächster
großer Entwicklungsschritt wird nicht nur die Technik der Robotik, der Drohnen
und der selbstfahrenden Autos massiv ausgebaut, sondern auch die Überwachung
und Steuerung des Menschen. Was diesbezüglich etwa in China bereits umgesetzt
ist, geht wohl mitnichten in Richtung Befreiung. Dagegen nehmen sich folgende
zwei Beispiele harmlos aus. Wie nützlich, wenn aus allem Unbill, das die
Verbreitung der Technik mit sich bringt, neues Kapital geschlagen werden kann.
Die Möglichkeiten sind grenzenlos. In Zeiten, da Ruhe rar wird, kommt ein Gerät
zur Erzeugung von Stille auf den Markt. Kopfhörer zur Active Noise Cancelling,
kurz ANC. Dabei wird Schall mit gegenphasigem Schall unterdrückt, mit
sogenannter destruktiver Interferenz. Oder in Zeiten, da die Fachwelt bei
vielen Menschen „Technostress“ durch die Handhabung oft störungsanfälliger
digitaler Geräte diagnostiziert hat, wird vorsorglich ein „Technostresssensor“
entwickelt.

Günther Anders: „Je größer das Elend des produzierenden Menschen
wird, je weniger er seinen Machwerken gewachsen ist, um so pausenloser, um so
unermüdlicher, um so gieriger, um so panischer vermehrt er das Beamtenvolk
seiner Geräte, seiner Untergeräte und Unteruntergeräte; und vermehrt damit sein
Elend auch wieder …“ Bis schließlich „seine Misere eine Akkumulation der
Geräte, und diese wiederum die Akkumulation seiner Misere zur Folge hat. – Gute
Zeiten, da die Idylle der Hydra noch als Schrecksage galt!“ – Von der ökologischen
Belastung durch die Massenproduktion der Geräte ganz zu schweigen.

Haben diese technischen Errungenschaften den Alltag erleichtert? Sind die Menschen dadurch glücklicher, freier und entspannter geworden? Warum haben sich Nervosität, Unruhe, Hektik, Aggression, genauso wie der Lärm, seit der Jahrtausendwende rapide vermehrt? Wo ist der funkelnde Charme geblieben? Die Leichtigkeit, der Schalk, die Phantasie und die Sinnlichkeit? Ich vermisse sie furchtbar!

Viele haben den Prometheus-Mythos aufgegriffen, wenn es um die
Kritik an der Herrschaft der Technik über den Menschen geht. Günther Anders
prägte den Begriff der „prometheischen Scham“. Der Mensch sei zum „Hofzwerg
seines eigenen Maschinenparks“ geworden und schäme sich seiner Unzulänglichkeit
angesichts der Perfektion seiner Apparaturen.

Auch Albert Camus ruft im Buch „Hochzeit des Lichts“, in seinem kleinen Essay „Prometheus in der Hölle“, dazu auf, Geist und Seele nicht zugrunde gehen zu lassen. Der antike Held hat den Menschen „Feuer und Freiheit, Technik und Kunst“ geschenkt. Aber „die heutige Menschheit glaubt einzig an die Technik. In ihren Maschinen entdeckt sie ihre Stärke …“

Chateaubriand rief dem nach Griechenland aufbrechenden Ampère zu:
„Sie werden kein Blatt der Olivenbäume, keine Traubenbeere wiederfinden, die
ich in Attika sah. Ich trauere selbst dem Gras meiner Zeit nach.“ Camus fügt
hinzu: „… wir trauern manchmal den Grashalmen aller Zeiten nach, den
Olivenzweigen, die wir für uns nicht mehr sehen werden, und den Trauben der
Freiheit. Der Mensch ist überall, überall sein Schrei, sein Schmerz und sein
Drohen. Inmitten so vieler zusammengedrängter Kreaturen bleibt kein Ort für das
Zirpen der Grillen.“

Aber woher nehmen wir heute Camus’ Zuversicht, für den „ein Abend
in der Provence, die vollkommene Linie eines Hügels, der Geschmack von Salz
genügt, um zu erkennen, dass alles neu zu schaffen ist“?

Literatur über Lärm

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still – Vom Lärm
und der Sehnsucht nach Stille, Berlin 2010.

Jürgen Hellbrück, Rainer Guski: Lauter Schall – Wie Lärm in unser
Leben eingreift, Darmstadt 2018.

Gerhard Paul, Ralph Schock (Hg.): Sound der Zeit – Geräusche, Töne, Stimmen, 1889 bis
heute, Göttingen 2014.

Hans Magnus Enzensberger: Ein musikalisches Opfer, in: Kursbuch
129 „Ekel und Allergie“, Berlin 1997, online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-8778887.html

Initiativen gegen Lärm

LautsprecherAUS! www.lautsprecheraus.de

Hörstadt, Linzer Charta, beschallungsfrei, www.beschallungsfrei.at

Dudelstopp

PS: Mehr dazu ab August auf www.streifzuege.org unter „Initiativen
gegen Lärm“.