Was heißt denn hier „anti-“?

von
Petra Ziegler

Ach, wenn sie nur endlich begreifen würden! Endlich wieder die
Menschen – bevorzugt „die Unsrigen“ – in den Mittelpunkt
stellen, endlich für Gerechtigkeit sorgen, endlich faire
Rahmenbedingungen schaffen, endlich Maßnahmen gegen den Klimawandel
setzen, endlich das Richtige tun …! Aller stoßseufzenden
Verdrossenheit zum Trotz, scheint das Zutrauen in das, was Politik
kann oder zumindest potentiell könnte, beim Gros der Bevölkerung
kaum Grenzen zu kennen. Wäre da nur nicht das stets unfähige
politische Personal, das dazu noch, nicht selten, in die eigene
Tasche wirtschaftet.

Die
wiederholt Enttäuschten wenden sich frustriert ab, von „denen da
oben“, die sich nur für ihresgleichen interessieren und die die
Ängste und Forderungen derer, die sich abgehängt fühlen, weder
sehen noch anerkennen wollen. So oder so ähnlich wird kurz gefasst
der Zulauf erklärt, den Typen wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro
haben, für die sich in jüngster Zeit immer öfter die Zuschreibung
„Antipolitiker“ im medialen Diskurs findet. Und nur zu gerne
bedienen sie sich auch selbst dieses Labels, um sich dergestalt als
Gegner des jeweiligen Polit-Establishments zu inszenieren.

Silvio Berlusconi könnte ein Beispiel für Italien sein, oder –
folgt man der Darstellung des französischen Politologen Jacques de
Saint Victor in seinem 2015 erschienenen Essay „Die
Antipolitischen“ – das „MoVimento 5 Stelle“ von Beppe Grillo
mit seinem „Devono andare tutti a casa“ – „Sie sollen alle
nach Hause gehen!“ Saint Victor beschreibt den „antipolitischen
Reflex“ als „eine Art moralische Entrüstung und Rebellion
vonseiten wachsender Randgruppen der Öffentlichkeit, die bestrebt
sind, sich von der alten Politik zu befreien“, verbunden mit
Forderungen nach einer direkten Demokratie im Glauben, man „könne
die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen,
die ohne die alten, eingerosteten, überholten, delegitimierten
Institutionen der Repräsentativdemokratie auskäme“. Als weitere
Beispiele nennt er die spanischen „Indignados“, die
„Aganaktismeni“ (die „Zornigen“) in Griechenland, oder die
Bewegung „Occupy Wall Street“, die sich als Vertreter der „99 %
Habenichtse“ gegenüber dem „1 % Besitzenden“ verstehen.

Was
diese Gruppen verbindet ist eine vage „Systemverdrossenheit“.
Adressat ihrer recht diversen Forderungen (von Umweltschutz und
Umverteilung bis hin zu einer, wie im Fall der Fünf-Sterne-Bewegung,
deutlich regressiven Asylpolitik) ist freilich wiederum „die
Politik“.

Dem
halten wir entgegen: Politik ist
eine auf Staat und Markt bezogene Handlung. Sie dient nicht der
Entfaltung unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten, sondern in ihr
nehmen wir nur die Interessen unserer Rollen in der bestehenden
Ordnung wahr. Durch die Politik können keine Alternativen dazu
geschaffen werden. Sie verwaltet die Gesellschaft, ihr Medium ist das
Geld. Staat, Markt und Politik gehören zusammen. Das politische
System gerät mehr und mehr aus den Fugen. Es ist keine bloße Krise
von Parteien und Politikern, sondern eine Erosion des Politischen.
Politik ist verkommen, aber nicht weil die Politiker verkommen sind,
sondern weil sie an ihre Schranken stößt. Ihr letzter Horizont ist
die Notstandsverwaltung ökonomischer, sozialer und ökologischer
Dauerkrisen. – Muss Politik sein?, fragen wir ketzerisch und
behaupten: Keine Politik ist möglich!

Antipolitik
meint stattdessen, dass wir uns gegen unsere sozialen Zwangsrollen
aktivieren. Klar und unmissverständlich: Wir wollen nicht die sein,
zu denen wir gemacht werden. Dieses anti setzt nicht
auf Variation des Bestehenden, es sagt radikal Nein! zur
Notwendigkeit der Verhältnisse, so wie sie sind.

In
der Bedeutung, in der das Attribut „antipolitisch“ derzeit in den
Medien Einzug hält, scheint der Begriff im Sinne emanzipatorischer
Bestrebungen verloren. Die eigenen Lebensbedingungen bewusst und
gemäß freier Übereinkunft zu gestalten setzt jedenfalls den
Ausbruch aus dem Käfig der bürgerlichen Form und mithin den
Abschied von der Politik-Illusion voraus.