Vier Wände, die nicht schützen

von Maike Neunert

Schallschutz in Mietshäusern lädt eher zu reformerischen als zu revolutionären Diskursen ein. Leichtes Klopfen auf dem Thema macht hinter dem abbröckelnden Putz immerhin ein paar Gitterstäbe zum Ansägen sichtbar.

Unabhängig von der Gesinnung zieht wer kann aus einer hellhörigen Wohnung aus, um andere leiden zu lassen. Als Objekte, die Menschen im Allgemeinen dienen sollen, werden Mietwohnungen spätestens im Recht ausgelöscht. Höchstens auf den privaten Gebrauchswert dürfen Mieter*innen pochen. Für gesellschaftlichen Gebrauchswert sind spezielle Institutionen zuständig, etwa Wohnungspflegeämter. Maßen sich Protestbewegungen Bezugnahmen auf den gesellschaftlichen Gebrauchswert von Privateigentum an, ob im Bereich des Wohnens oder anderswo, dann meist im Bestreben, sie dem Staat zu übertragen, der allein sie praktisch umsetzen kann – solange Protestierende ihre Forderungen nicht selbst erfüllen.

Staatsbezug auf Mietwohnungen kann gefährliche Folgen haben, zum Beispiel behördliche Inspektionen auf Mängel der elektrischen Sicherheit wie teilweise in den USA und Großbritannien, bei denen sich auf Überbelegungen mit illegalisierten Mitmenschen achten lässt. In Deutschland droht aus dieser Richtung vorerst keine Gefahr. Anlässlich des Todes einer Mieterin, die 2005 in ihrer frisch angemieteten Wohnung beim Duschen durch Berühren eines Handtuchhalters starb, stellte ein Gericht klar, dass anders als in anderen Ländern Vermieter*innen in Deutschland keiner Pflicht zu Prüfungen der elektrischen Sicherheit unterliegen (Landgericht Bielefeld 29.10.2009 – Az. 6 O 262/09).

Auch wenn Menschen von Lärmbelastungen nicht sofort tot umfallen, erstaunt es, dass angesichts von mindestens 15 % mangelhaft schallgeschützten Mietwohnungen kein bisschen Kollektivprotest entsteht. Im Fall von Windkraftanlagen entstand er. Von Windkraftanlagen oder auch Startbahnen lässt sich leichter Überflüssigkeit behaupten als von Mehrfamilienhäusern. Zwar wissen wir, dass Menschen Mietshäuser bauen, wie sie auch sonst die Dinge erschaffen, die wir uns von der Wiege bis zur Bahre ununterbrochen an- und einverleiben, doch bleibt dieses Wissen abstrakt genug, um eher unschuldige Nachbar*innen verantwortlich zu machen als die Verhältnisse unter den Tapeten.„Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus“, sagt Marx über „den Arbeiter“ (MEW 40, 514). Aus der Produktion verbannt, flüchtet das Subjekt in die Konsumtion. Hier nimmt es menschliche Arbeit im Gegenständlichen hin wie andere Naturphänomene auch.

Haben nicht Klagen über Lärm sowieso etwas Spießiges an sich? „Stell dich nicht so an“, vermitteln nicht selten Freund*innen, Gerichte, Täter*innen und Lärmgeplagte selber sich im Chor, „so ist halt die Natur!“ Mangelhafter Schallschutz belästigt höchstens, verletzt aber niemanden. Mit ihrem natürlichen Apparatus dürfen Vermieter*innen Schläge austeilen und schlaflose Nächte bereiten. Bewirken Nachbar*innen dasselbe, ist die Polizei zuständig.

Der Vereinzelung im Lärmempfinden liegt eine Nichtkultivierung zugrunde, die im Fall sexualisierter Gewalt durchbrochen werden konnte. Wie das gehen kann, spielen Kinder vor: Ich sehe was, was du nicht siehst und das iiiist rot! Für Hörempfindungen fehlt ein Spiel, obschon sie nicht anders funktionieren als Sehempfindungen auch. Im Hirn sind alle Reize grau. Sinnesqualitäten erschließen wir aus dem zerebralen Zielgebiet. So verhelfen elektronische „Lollis“ über Tastempfindungen der Zunge, die im visuellen Kortex landen, vorbei an der Blindheit zu groben Seheindrücken (youtu.be/xNkw28fz9u0).

Ein Notbehelfsgleichnis: In gut schallgeschützten Mehrfamilienhäusern fliegen den Bewohner*innen durch herkömmliche Wohngeräusche aus Nachbarwohnungen Wattebällchen an den Kopf (weiß). In mittelmäßig schallgeschützten Häusern sind es Schaumstoffbälle (rosa) und in schlecht schallgeschützten Tennisbälle (rot). Wer die Tennisbälle nicht selbst gefühlt hat, leugnet bei entsprechend autoritärem Charakter ihre Existenz. Nicht als Wahrnehmungen anerkannte Empfindungen behandelt die dominante Kultur als zu vermeidende Einbildungen oder gar psychische Störungen, nicht als Gelegenheiten, ihren Horizont zu erweitern. Urzeitlichen Gesellschaften hätte es die gegenwärtig herrschende neurophysiologische Rigidität vermutlich unmöglich gemacht, aus den Arthritis-Höhlen zu stapfen. Allein, Malereien auf den Höhlenwänden wären als Schmierereien unterbunden worden.

Normen

Welches Empfinden kultiviert wird und welches nicht, hängt nicht zuletzt vom sozialen Einfluss der Empfindenden ab. Mit abnehmendem Einfluss wächst die Vereinzelung. Reicht der Einfluss geradeso eben in die Nichtignorierbarkeit, werden Verletzungen um den Preis anerkannt, sich zum Gegenstand einer Nachweisprozedur zu machen, deren Ergebnisse ohne emotionalen Nachvollzug beurteilbar sind.

Mit dem Sieg des Neoliberalismus wurden gewisse soziale Einflüsse
geschwächt.

1968 meldeten Leute der WHO noch Handlungsbedarf
an: „… die meisten
modernen Häuser bieten keinen ausreichenden Schutz gegen Lärm, der
außerhalb oder innerhalb der Gebäude entsteht. … Lärm innerhalb
von Wohnungen besteht hauptsächlich aus tief-frequenten Geräuschen,
die, obwohl von der Intensität her gering, über lange Zeiträume
wirken … Stimulierende und störende Geräusche reichen in ihrer
Intensität von 30 bis 65 Dezibel (dB). … Viele Autoren gehen davon
aus, dass die von Geräuschen niedriger Intensität verursachte
Reizung auf eine durch eine große Zahl von Warnsignalen verursachte
Erschöpfung zurückgeht, die eine mit Furcht und Unruhe verwandte
Reaktion hervorrufen.“ (Goromosov 1968, 68
f.)

Was in modernen Häusern
geschah, zeigt eine österreichische Studie aus den 1970ern, die rund
10.000 Fragebögen auswertete – s. dazu die nebenstehende Grafik.
(Bruckmayer 1974)

Zur Jahrtausendwende erhielten Mieter*innen in
Deutschland eine Schallschutznorm namens DIN 4109 als
entscheidenden Maßstab vorgesetzt. Die DIN 4109, deren Inhalte
technische Delegierte von Bauwirtschaftsführungen bestimmen, ohne
Fachleute der Humwanwissenschaften mitmachen zu lassen, legt fest,
wie viel Schalldruck, der auf eine Wand oder Decke trifft, auf der
anderen Seite herauskommen darf. Beim Nachweis der Normerfüllung
wird der Schalldruck künstlich erzeugt, damit die Messungen
reproduzierbar sind. Mit herkömmlichen Wohngeräuschen hat er nichts
zu tun (Mašović
2013). Tiefe Klänge bleiben unbeachtet: gemessen wird ab 100 Hz
aufwärts; im Arbeitsschutz immerhin ab 50 Hz; gehört wird – wie
Fachkreisen der 1930er Jahre bekannt war und auf Druck von
Windenergieanlagenprotesten genau gemessen wurde – ab etwa 8 Hz
(Physikalisch-Technische Bundesanstalt 2015).

Um Schallschutzverbesserungen zu erreichen, haben Mieter*innen auf
eigenes Kostenrisiko Verstöße gegen diese Norm zu beweisen. Fehlt
das Geld, wird eben nichts bewiesen. Proaktiv Normeinhaltungen
nachweisen wie der Rest der Anbieter*innen von was auch immer
brauchen Vermieter*innen nicht.

2010 erklärte der deutsche Bundesgerichtshof,
durchaus passend zur DIN 4109, Wohnungen für zumutbar, in denen die
Bewohner*innen nicht „im allgemeinen
Ruhe finden“ (
Urteil vom 07.07.2010 –
VIII ZR 85/09), und 2015 sah er „die
Anforderungen der zur Zeit der Gebäudeerrichtung maßgeblichen
DIN 4109 in der Ausgabe von 1962 (Trittschallgrenze: 63 dB) …
als ausreichend an“.(Urteil vom 27.02.2015 – V ZR
73/14)

12 Jahre vor Fällung dieses Urteils hieß es in
einer Fachzeitschrift zur DIN 4109 von 1989, die gegenüber der
von 1962 verbessert wurde: „Zusammenfassend
ist festzustellen, dass die gegenwärtigen Anforderungen nach
DIN 4109“ von „Bauherren, Verbrauchern, Herstellern und
Sachverständigen“ … „als unzureichend betrachtet werden.“
(
Kurz 2003, 153)

Mit den „Bauherren“ sind Eigenheimbaupersonen
gemeint. Weil nach DIN 4109 erbaute Häuser kein
zufriedenstellendes Wohnen versprechen, schufen sie sich eine
separate Schallschutznorm. Wer Häuser bauen lässt, in denen andere
zur Miete wohnen, findet mangelhaften Schallschutz eher klasse, u.a.
weil er häufigere Gelegenheiten zu Mieterhöhungen schafft. Mit
ihren Urteilen, nach denen der „Standard
bei Erbauung“
zu gelten habe, sorgen
die Eigenheimler*innen vom Bundesgerichtshof dafür, dass
mangelhafter Schallschutz nicht auf die Mieten schlägt. Dem kommt
die Natur entgegen, denn anders als ein Kohleofen in der Stube bleibt
Lärmbelastung bei Anmietung unsichtbar. Absurderweise würde das
Argument vom „Standard bei Erbauung“,
mit dem Schallschutzverbesserungen abgeblockt werden und das
Mietervereine widerspruchslos schlucken, bei älteren Häusern öfters
genau diese erfordern, da Alterung, Rohreinbauten, Wärmedämmung
usw. den Schallschutz verschlechtern.

Gesundheitliche Grenzwerte in dem Sinn, wie sie ansatzweise für Lärm im Arbeitsschutz bestehen, legt die DIN 4109 nicht fest. Um solche Grenzwerte zu definieren, wären die Wirkungen tatsächlich auftretender Geräusche auf Menschen zu berücksichtigen und daraus Anforderungen an den Hausbau zu entwickeln.

Lärmstudien

Wie falsch Behauptungen sind, nach denen mangelhafter Schallschutz
lediglich zu Belästigungen führt, zeigt eine 2002 von der WHO
initiierte „Large Analysis and Review of European housing and
health Status
“ (LARES), die acht europäische Städte mit 8.539
Menschen umfasste. Sehr grob zusammengefasst ergab die Studie, dass
ein Viertel der Wohnungen Europas krank macht und diese Wohnungen der
ärmere Teil der jeweiligen Bevölkerungen bewohnt (WHO 2007). Sofern
eine einigermaßen funktionierende Gesundheitsversorgung besteht,
werden die Kosten, die ein angemessener Minimalstandard der
Wohnungsqualität verursachen würde, in den Gesundheitssektor
verschoben.

Bezogen auf Lärm ergab LARES:

„Bei Erwachsenen, die eine
dauerhaft massive Belästigung durch Nachbarschaftslärm angaben,
wurden erhöhte Erkrankungsrisiken des Herz-Kreislauf-Systems …
festgestellt. … Stark erhöhte signifikante Risiken wurden für
arthritische Symptome und Arthritis berechnet. … Herausragende
Effekte auf das neuro-psychische System wurden bei langfristiger
Belästigung durch Nachbarschaftslärm ebenfalls gefunden … Die
Neigung zur Depression (SALSA) wie auch medizinisch diagnostizierte
Depressionen nehmen bei schwerwiegender und langfristiger Belästigung
durch Nachbarschaftslärm signifikant zu. … Darüber hinaus wurde
bei schwerwiegender und langfristiger Belästigung durch
Nachbarschaftslärm ein stark erhöhtes Risiko für Migräne
bestätigt. … Ein signifikanter Trend innerhalb der
Belästigungskategorien konnte außerdem für … Allergien bestätigt
werden. … Im Zusammenhang mit schwerwiegender Belästigung durch
Nachbarschaftslärm zeigt die LARES-Studie, dass Nachbarschaftslärm
als ernste Gesundheitsgefährdung für Erwachsene klassifiziert
werden muss.“

„Eine langfristige Belästigung
durch Nachbarschaftslärm zeigte bei Kindern (bis 17 Jahren) einen
deutlichen Effekt auf das Atmungssystem … Signifikant erhöhte
Risiken wurden für Atemwegsbeschwerden wie auch für Bronchitis
bestätigt. … Das stark erhöhte Erkrankungsrisiko des
Atmungssystems unterstützt die Annahme, dass Kinder bezüglich der
Belästigung durch Nachbarschaftslärm als Risikogruppe klassifiziert
werden sollten.“ (Niemann 2006)

Menschen anstatt Wohnungen in Risikogruppen einzuordnen, demonstriert
konkreten Nutzen der „Verkehrung des Subjekts in das Objekt und
umgekehrt“ (
Marx: Resultate 1970, 20/124). Für als
gesundheitsschädlich klassifizierte Wohnungen ließen sich kaum
Durchschnittsmieten verlangen.

Mangelhafter Schallschutz von Wohnungen bringt Allergien und Angst,
Bronchitis, Cholesterin- und Kortisolerhöhungen, Depressionen und
vieles mehr, ganz ohne dass sich die Betreffenden über Lärm
beklagen. Sie brauchen ihn nicht mal zu bemerken.

Lärm, von dem Menschen nicht aufwachen, ist ziemlich leise.
Trotzdem, so eine weitere Studie, „verursachen
Lärmstörungen während des Schlafes erhöhten Blutdruck,
beschleunigten Herzschlag, erhöhte Pulsamplituden, Gefäßverengung,
Veränderungen der Atmung, Störungen des Herzrhythmus … Bei jedem
dieser Effekte können die Schwellwert/Reaktions-Beziehungen
unterschiedlich sein. Einige dieser Effekte (Aufwachen zum Beispiel)
können sich bei wiederholter Exposition verringern, andere,
insbesondere kardiovaskuläre, nicht.“(Goines 2007)

Noch nicht nachmessbar ist der Einfluss von Lärm auf Trauminhalte.
Um nicht aufwachen zu müssen, träumen wir anderes, als wir zur
konstruktiven Bearbeitung unserer Erlebnisse brauchen könnten. Nicht
nachmessbar ist auch die Persönlichkeitsveränderung, die das
Überleben in hellhörigen Wohnungen erfordert. In visueller Analogie
entspricht Nachbarschaftslärm einem unregelmäßigen plötzlichen
Auftauchen zusammenhangloser Bilder unterschiedlichen emotionalen
Gehalts, die zu ignorieren sind.

Geht es darum, Lärmeffekte auf Organismen zu studieren, denen keine
Deutung akustischer Reize zugetraut wird, kommen
Wissenschaftler*innen nicht darum herum, Lärm als Gift zu
betrachten. So ist in einer Arbeit über Wirkungen von Umweltlärm
von „embryotoxischen Wirkungen“ die Rede (Meyer 1989).

Nach einer kanadischen Studie, die rund 68.000 Geburten erfasste,
senkt Straßenverkehrslärm am Wohnort das Geburtsgewicht um 19 g
je 6 dB(A) (Gehring 2014). Bezüglich der Entwicklung einer
Angelegenheit namens
„Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse“ (HHNR) heißt
es in einer Dissertation: „Ist die
fötale HHNR-Achse während der sensiblen Phase ihrer Ausbildung
einer hohen Kortisolkonzentration ausgesetzt …, so werden diese
Kortisolkonzentrationen als ‚normal bewertet‘ und es findet eine
Sollwerteinstellung der negativen Feedbackschleifen auf höherem
basalen Niveau und mit höheren Kortisolausschüttungen in Reaktion
auf Stress statt.“
(Haselbeck 2012)

Unwissenschaftlich zusammengefasst bewirkt Wohnlärm oder
anderweitiger chronischer Stress ungefähr: Der Fötus erfährt über
den Mutterleib, wie stressig es „da draußen“ werden wird, und
stellt sich darauf ein, indem er seine Fähigkeiten zu schnellen
Aktionen und Reaktionen fördert. Dafür nimmt er hin, näher an
Depressionen und Angst gebaut zu sein und wahrscheinlicher Diabetes
und ein schlechteres Gedächtnis zu bekommen, als es ohne diese
Anpassungsmaßnahme der Fall wäre. Für welchen guten Zweck macht er
das alles?

Aufwändigere nachträgliche Schallschutzmaßnahmen zum Beispiel in DDR-Plattenbauten würden bei vollständiger Umwälzung auf Mieter*innen eine Mietpreisexplosion um (anhand von Zahlen nach Küstner 1997) grob geschätzt 35 Euro für 65-m2-Wohnungen verursachen. Neubaukosten für Mehrfamilienhäuser stiegen um rund 5 %, würde der Schallschutz auf ein Niveau angehoben, das in etwa bedeutet: keine Gehgeräusche, keine Stimmen und kein Fernsehgebrabbel aus Nachbarwohnungen mehr (Kötz 1999). Unzumutbar teuer wird Schallschutz beim Vermieten: Ein Verlust von 5 m2 durch dickere Wände oder Vorsatzschalen bedeutet bei 7 Euro/Monat Kaltmiete einen Einnahmeverlust von 35 Euro/Monat. Bevor es so weit kommt, ist für Ungeborene HHNR-Anpassung und für Geborene Gewöhnung angesagt.

Wissen und Herrschen

Darüber, ob Sinneseindrücke aus Ohren, Haut, Augen und Mund ins
Großhirn dürfen, wacht der Thalamus. Gewöhnung an Lärm bedeutet:
Diese Höreindrücke dürfen’s nicht. Wie viel passiert, während
der Thalamus das Tor zum Bewusstsein öffnet oder schließt, zeigen
nicht nur physiologische Messungen. Von westlichen Massenmedien
Vollgemüllte können das Geschehen beim Einkaufsbummel bemerken,
wenn sie dicke Kinder Pommes essen oder beturbante Männer mit
verdächtig ausgebeulten Plastiktüten sehen. Um weiter in Ruhe
einkaufen zu können, oder auch, um sich nicht von Vorurteilen leiten
zu lassen, korrigieren sie eine unwillkürlich-spontane Empfindung
der Alarmiertheit im Großhirn.

Gewöhnung an Lärm ist so gut möglich wie etwa Gewöhnung an
Alkohol. Ein Mensch kann es schon schaffen, nach dem fünften Kurzen
nicht zu kotzen. Ungiftiger wird Alkohol dadurch nicht. Bei Lärm
kann er in Maßen gleichwohl helfen (National Institute on Alcohol
Abuse and Alcoholism 1996). Ähnlich ist es beim Rauchen, das über
Wirkungen auf Neurotransmitter Verwirrung durch Reizüberflutung
reduzieren kann.

Eine nicht-normative Massenmedizin würde den Nutzen erforschen, der
als Gleiche unterstellte Mitmenschen veranlasst, sich trotz
einschneidender Konsequenzen diese oder jene Stoffe reinzuziehen.
Heraus kämen Untergliederungen nach häuptsächlichem Nutzen.
Daraufhin wäre erforschbar, wie sich der aufgefundene Nutzen mit
weniger unerwünschten Wirkungen erreichen lässt. Solchen
Forschungsprojekten steht die Hoheit von Geschäftsführungen der
Pharmaindustrie über die Nutzenbestimmung von Drogen entgegen, die
Eigenmacht diesbezüglich als unvernünftig erscheinen lässt. Wie
viele Lärmgewöhnte mögen es sein, die Antiallergika,
Blutdrucksenker oder Neuroleptika schlucken, wo eine
Trittschalldämmmatte reichen könnte?

Unter Fremdherrschaft geriet auch die Ernährungsweise. Bei
Lärmstress können Kalorienbomben helfen (Ulrich-Lai 2010). An
dieser Stelle halten Ernährungsexpert*innen denen, die im Lärm zu
wohnen gezwungen sind, ungesunde Ernährung vor. Günstigstenfalls,
was ihre Gesundheit und Lebensdauer betrifft, ignorieren Letztere den
Wissensvorsprung, der Anpassungen an suboptimale Umwelten verbietet,
und zahlen beim nächsten Schokoriegel den verlangten Aufpreis des
Versagensgefühls. Zuckerbrot und Peitsche: bewährtes Kombipräparat
gegen Aufmüpfigkeit.

Ohne Stoffzufuhr hilft Gehörlosigkeit gegen Lärm. Eine
taiwanesische Studie fand, „dass
unter 7- bis 12-jährigen … Kindern, die auf Schulen in Gebieten
mit hohem Verkehrslärm in Taipeh gingen, diejenigen mit typischem
Hörvermögen einen signifikant höheren Blutdruck hatten als
gehörlose Kinder.“ (Ferguson 2013)

Eher nicht aus Unkenntnis der Zusammenhänge empfehlen biomächtige
Gesundheitsexpert*innen, Kindern, die sich mit Musikabspielgeräten
ein bisschen Schwerhörigkeit verpassen, einen
„gesundheitsbewussteren und differenzierteren Umgang mit lauten
Schallquellen“
nahezubringen (Robert Koch-Institut 2008).
Tagsüber durch die Straßen ziehen und Autos in Brand setzen und
nachts verbrecherische Bundesgerichtshofangehörige wachklingeln,
meinen sie damit nicht – ebenfalls nicht einen differenzierten
Kampf gegen die Diskriminierung lärmbelasteter Kinder an Schulen.

Zu den Auswirkungen von Lärm auf den abgeprüften Teil des
kindlichen Geistesapparates zählen Gedächtnisschädigungen und
Schädigungen der Fähigkeit, Klänge zu unterscheiden, die zur
Sprachwahrnehmung wichtig ist. Für das Kapital ausgesprochen
nützlich ist eine Lärmwirkung, die „erlernte Hilflosigkeit“
heißt und eine resignierte Einstellung bezeichnet, sowieso nichts
ändern zu können.

„Die ersten Studien zu erlernter
Hilflosigkeit verwendeten unkontrollierbaren Lärm als Reizauslöser.
Seither haben viele Studien belegt, dass unkontrollierbare
Lärmbelastung erlernte Hilflosigkeit verursachen kann.“ (Ferguson
2013)

Wäre der Kapitalismus eine Verschwörung, könnten sich die
Kapitalist*innen gefragt haben: Wie erzeugen wir eine Unterklasse,
deren Angehörige ihren Nichtaufstieg in der Sozialhierarchie der
eigenen Doofheit zuschreiben? Antwort: Lasst uns entsprechend des
gewünschten Prozentsatzes der Unterklasse schlechte Wohnverhältnisse
schaffen.

„Eine kleine Anzahl von Studien in
Nordamerika und Europa untersuchte Wohnqualität und kognitive
Entwicklung. Einige … deckten auf, dass … Kinder bei
unterdurchschnittlicher Wohnqualität geringere schulische
Kompetenzen aufwiesen. Diese Effekte werden durch die Dauer, während
der die unterdurchschnittliche Wohnqualität besteht, verstärkt, und
eine Studie zeigte, dass sich die Grundschulleistungen verbesserten,
wenn Familien in Wohnungen mit besserer Wohnqualität umzogen.“
(Ferguson 2013)

Wahrscheinlicher entstehen schlechte Wohnverhältnisse
ökonomisch-mechanisch: Der Preis von Arbeitskräften liegt wie der
aller Waren unterhalb ihrer Reproduktionskosten, solange das Angebot
die Nachfrage übersteigt. Ohne Gewerkschaftsmacht und staatliche
Umverteilungen wären für leicht ersetzbare Arbeitskräfte keine
privaten Wohnungen, keine Kinderaufzucht, keine Krankenversicherung
drin. Kampf um Reformen bleibt lebenswichtig, bis der Kapitalismus
unmittelbar vor seiner Aufhebung steht.

Wie um diese zu verzögern, liefert mangelhafter Schallschutz dem
populistischen Überbau die Biobasis. Nach der Pharmaindustrie
undienlichen soziopsychologischen Experimenten vorneoliberaler Zeiten
verringern Lärmbelastungen Hilfsbereitschaft und Gutwilligkeit
gegenüber Mitmenschen sowie die Komplexität im Denken. Damit keine
Vorurteile aufkommen: In einem der Experimente lebten Studierende
eine Woche lang in einem Wohnheim. Eine Gruppe der Studierenden wurde
über einen außerhalb des Hauses stehenden Lautsprecher ständigem
Verkehrslärm bis 70 dB (draußen) ausgesetzt; die andere genoss
relative Ruhe. Gruppendiskussionen, bei denen die Aufgabe darin
bestand, Einigkeit zu erzielen, dauerten bei den Lärmbelasteten
länger und in ihren Diskussionen bestand mehr Uneinigkeit. Allgemein
sprachen Studierende der lärmbelasteten Gruppe schneller als die der
Vergleichsgruppe (Cohen 1985).

In einer Situation konsumorientierter Vereinzelung hängt Aufbegehren
von der Möglichkeit ab, Gedankenketten zu bilden, mit deren Hilfe
sich Selbstverständlichkeiten abstoßen lassen. Hellhörige
Wohnungen sind Gedankenkettenschneidemaschinen, die zur Flucht in die
massenmediale Verseuchung des limbischen Systems treiben. Ohne
Reformen im Schallschutz kann es zur Revolution nur auf die harte
Tour kommen, durch die Unfähigkeit des Kapitalismus, die physischen
Lebensverhältnisse einer qualitativen Mehrheit oberhalb des
Rebellionsniveaus zu halten.

PS: Macht jemand mit, ein reformistisches Sachbuch zum Thema zu schreiben? Es wäre das erste deutschprachige seiner Art. hellhoerig@hamburger-netzwerk.de

Quellen

Zitate aus englischen Quellen sind ungeprüfte Eigenübersetzungen.

Bruckmayer
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